Bildung 09.06.2013, 08:00 Uhr

Im Alltagsrechnen sind Deutsche aus der Übung

Wenn Deutsche berechnen müssen, wie viele Eimer Farbe sie für eine bestimmte Fläche brauchen oder wie viele Übernachtungen ihr Urlaub in Anspruch nimmt, sind manche Bürger überfordert, wie eine Studie belegt. Während Bildungskollegen Alarm schlagen, glaubt der Mathematikdidaktiker Rudolf vom Hofe die Schulbildung auf einem guten Weg.

Ingenieur Martin Mustermann steht beim Metzger und wartet. Und rechnet. Aber nur kurz. Schließlich verstehen sich Ingenieure auf Zahlen. „Wenn 300 g Biorinderfilet – wie auf dem Preisschild ersichtlich – 24 € kosten, dann kosten die von mir gewünschten 400 g exakt 32 €“, sagt sich Müller, zahlt und verlässt mit dem Rinderfilet den Metzgerladen.

Zu Hause hält Mustermann erneut inne. Aber nur kurz. Er möchte seinen fensterlosen Kellerraum, der 5 m x 6 m groß ist, streichen. Die Wände sind 2,50 m hoch. Er weiß: Ein 5 Liter-Eimer Wandfarbe reicht für 30 m². Wie viele Eimer Farbe braucht er? Müller besorgt sich im nächsten Handwerkermarkt drei Eimer Farbe.

Studie „Bürgerkompetenz Rechnen“

Was für Ingenieur Mustermann ein Kinderspiel ist, wird für viele Deutsche zur harten Nuss, wie die Studie „Bürgerkompetenz Rechnen“ der Stiftung Rechnen ergibt. Während die Metzgeraufgabe noch 87 % der 1027 Befragten zwischen 18 und 65 Jahre richtig beantworteten, traf dies bei der Kellerfrage nur auf 52 % zu.

Mathematik bereitet vielen Deutschen Kopfzerbrechen. Nicht nur in der Schule, auch später im Alltag. So scheiterten 12 % der Teilnehmer mit Abitur bzw. Studium an der Aufgabe ½ + ¼. Nur 31 % aller befragten Deutschen konnten eine Zeitungsgrafik richtig deuten.

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„Vor allem beim Umrechnen von Maßeinheiten, beim Herauslesen von Informationen aus Texten und Grafiken sowie beim Übersetzen von Alltagsphänomenen in Rechenoperationen und umgekehrt tun sich die Deutschen schwer“, bilanziert die Stiftung Rechnen, die die Wurzel allen Übels – wen überrascht es? – in der Schule sieht: „Wir brauchen einen Mathematikunterricht, der Neugierde weckt, begeistert und Menschen für den Alltag fit macht“, fordert Vorstandschef Johannes Friedemann im Namen der Stiftung.

„Unsere Hoffnung war, dass 80 % der Bevölkerung alle Fragen beantworten könnten“, meint Mathematikdidaktiker Ulrich Kortenkamp von der Universität Halle, der an der der Erstellung der Studie mitbeteiligt war. Die Hoffnung trog. Nicht einmal 80 % der Teilnehmer mit Abitur bestand die Tests fehlerfrei. Das, so Kortenkamp, sei „erschreckend“. Die Probanden hatten unter anderem ihre letzte Mathematiknote, den Schulabschluss und den Beruf angegeben.

Zunehmend Defizite beobachtet

Wilhelm Bredthauer, niedersächsischer Landesvorsitzender des Deutschen Vereins zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts, beobachtet zunehmende mathematische Defizite über die Bundesländergrenzen hinaus. Allein von der Schule sei das nicht in den Griff zu bekommen. „Das ist ein gesellschaftliches Problem“, das bereits in der Familie ansetze, so Bredthauer im Weser Kurier.

Rudolf vom Hofe, Mathematikdidaktiker an der Universität Bielefeld und Vorsitzender der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik, hält die Ergebnisse der Studie für aufschlussreich, will die negativen Aspekte aber nicht zu hoch hängen. „Man sollte bedenken, dass Erwachsene getestet wurden. Nach der Schulzeit vergisst man vieles, was man im Unterricht gelernt hat, wenn es im täglichen Leben nicht unmittelbar benötigt wird. Viele Wissenslücken wären sicher schnell wieder aufzufüllen.“

Schulunterricht hat sich in den letzten zehn Jahren gravierend verändert

Der Mathematikunterricht, den die heutigen Erwachsenen genossen hätten, wäre mit dem aktuellen Schulgeschehen nicht vergleichbar. Vom Hofe: „Mit unserem Bildungssystem befinden wir uns auf einem gutem Weg. Der Mathematikunterricht hat sich in den vergangenen zehn Jahren erheblich geändert. Er ist anwendungsbezogener und die Schüler werden zunehmend individuell gefördert. Die Stabilisierung von Basisfähigkeiten und die frühe Aufdeckung von Defiziten durch gezielte Diagnose waren vor 20 Jahren noch keine Themen. Damals war der Mathematikunterricht zu abstrakt, es wurde viel Spezialwissen abgefragt.“

Und heute ist alles bunter und schöner, sodass Schülerschwärme vor Begeisterung in die Klassenräume strömen? „Die hundertprozentige Spaßgesellschaft wird es auch beim Mathematikunterricht nicht geben, ebenso wenig wie im Fußball“, dämpft Rudolf vom Hofe die Euphorie. „Im Sport gehören Krafttraining und Ausdauer dazu, da muss man Grundtechniken beherrschen, die man immer wieder trainieren muss, um sie zu stabilisieren.“

Spaßfaktor wächst mit dem Wissen

Bei den Zahlen sei das ähnlich: „Im Mathematikunterricht gibt es viel zu entdecken – auch bei wenig alltagsrelevanten Themen: Zahlenmuster suchen oder platonische Körper erkunden.“ Ohne regelmäßiges Training, sprich ohne Lernen und Üben, endeten Entdeckungsreisen bei der Mathematik in der Sackgasse. Der Spaßfaktor wachse mit dem Wissen.

Rudolf vom Hofe räumt jedoch ein, dass auch die Erwachsenen ihre Hausaufgaben machen müssten. „Der Unterricht muss sich so entwickeln, dass die Hilfe der Eltern nicht benötigt wird.“ Derzeit basiere noch zu viel – gerade im Gymnasialbereich – auf häuslicher Hilfe. „Das können einige Eltern leisten, aber längst nicht alle. Die Schule sollte Hort des sozialen Ausgleichs für Schwierigkeiten und Probleme sein, die im Elternhaus nicht gelöst werden können.“ Das könnten am besten Ganztagsschulen mit ihrer Hausaufgabenbetreuung bewältigen.  

Ein Beitrag von:

  • Wolfgang Schmitz

    Wolfgang Schmitz

    Redakteur VDI nachrichten
    Fachthemen: Bildung, Karriere, Management, Gesellschaft

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