Serie Zukunftswelten 03.02.2012, 12:01 Uhr

Erdbeben-Sicherheit: Tapetenwechsel für das große Beben

In erdbebengefährdeten Regionen werden Neubauten so konstruiert, dass sie starken horizontalen Kräften trotzen. Teils werden sie dafür vom Untergrund entkoppelt. Forscher arbeiten nun an Möglichkeiten, um auch bestehende Gebäude für den Fall der Fälle zu ertüchtigen. Gerade faserverstärkte Werkstoffe erweisen sich als ideal für die nachträgliche Bebenvorsorge.

Ein Ruck aus heiterem Himmel. Der Boden beginnt zu schaukeln, die Lampe schwingt. Die Gläser auf dem Tisch kippen. Erste Bücher fallen aus dem wankenden Regal. Zum Rausrennen ist es zu spät. Jetzt heißt es, Schutz unter Türrahmen oder Tisch suchen und hoffen, dass die Wände halten, was die Erdbebeningenieure damals vor der Ertüchtigung versprochen haben.

Moritz Urban hofft, dass der Ernstfall bei keinem seiner Projekte eintritt. Nicht, dass der Forscher des Instituts für Massivbau und Baustofftechnologie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) an der Wirkung seiner Erdbebenvorsorge für Gebäude zweifelt. Doch er weiß, dass bautechnische Erdbebenvorsorge selbst in hoch gefährdeten Regionen die Ausnahme ist – sofern es um Gebäude im Bestand geht.

Forscher arbeiten an textilem Erdbebenschutz für Altbauten

Während bei Neubauten in den 1970er-Jahren ein Umdenken einsetzte und erdbebensichere Auslegung seitdem in weiten Teilen der Welt Standard ist, steckt die Ertüchtigung von Altbauten noch im Forschungsstadium. Allerdings gibt es vielversprechende Ansätze. Urban arbeitet in einer Forschergruppe, die Wände mit speziellen Glasfasergeweben stabilisieren will. Textiler Erdbebenschutz klingt nicht unbedingt vertrauenerweckend. Doch die KIT-Forscher meinen es ernst. Um ihnen zu folgen, ist es sinnvoll, sich Ablauf und Gefahren von Erdbeben zu vergegenwärtigen.

Nicht das Beben tötet. Es sind herabfallende Mauersegmente, umkippende Wände, kollabierende Stockwerke und Decken, die bei schweren Beben tausende Menschen lebendig begraben. Gerade von älteren Häusern mit gemauerten Wänden geht tödliche Gefahr aus. Sie sind gebaut, um Wind und Schwerkraft zu trotzen. Gegenüber horizontalen Stößen und Wellen, die abrupte Abbrüche der verkeilten Kontinentalplatten in die Erdkruste jagen, sind sie machtlos. Mit jedem Stoß wachsen Risse entlang der Mörtelfugen, Segmente brechen heraus – und schließlich bleibt ein Schutthaufen. Handelt es sich um eine tragende Wand, droht der Einsturz des Gebäudes.

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Urban und seine Kollegen verstärken Mauerwerk, indem sie Glasfaser-Polypropylengewebe in den Putz von Außenwänden einarbeiten. Die einzelnen Fäden laufen senkrecht, waagerecht und schräg über kreuz – und verstärken den Steinverbund so gegen Risse in jeder Richtung. „Die Maßnahme steigert die Biegetragfähigkeit der Wände erheblich“, so Urban. Tests auf Rütteltischen, die es den Forschern erlauben, ganze Wände per Hydraulik zum Beben zu bringen, belegen seine Aussage. Die Verformungsfähigkeit der Wand (Duktilität) erwies sich als doppelt so hoch wie bei unbewehrten Vergleichsobjekten. Das Mauerwerk konnte die vom Erdbeben eingetragene Schwingungsenergie besser dissipieren. Die Glasfasern versteifen, während der Kunststoffanteil im Gewebe wie ein elastischer Stützverband wirkt. Auch wenn im Innern die Fugen zerbröseln und Steine brechen, bleibt die Wand als Ganzes stehen.

Glasfasertapeten sollen bei einem Erdbeben Wände stützen

Neben dem System für die Außenwand haben die Forscher zusammen mit Werkstoffexperten der Bayer AG eine Glasfasertapete für Innenbereiche entwickelt. Sie wird mit einem eigens entwickelten Kleber auf Polyurethanbasis an der Wand befestigt und sieht aus, wie eine Gewebetapete. Sowohl in statischen Tests, bei denen Mauern hohen Druck- und Zugkräften ausgesetzt werden, als auch bei dynamischen Rütteltests zeigte sich, dass auch der Verbund aus Tapete und Kleber die Wand lange zusammenhält.

Gerade bei kurzen, mittelschweren Erdbeben kann die Faserverstärkung Leben retten. „Oft fehlt nicht viel, um einen Gebäudekollaps abzuwenden“, sagt Urban. Auch die Zahl der Verschütteten oder durch herabfallende Mauerteile Erschlagenen fiele im Ernstfall sicher geringer aus, würden Gebäude in Erdbebengebieten flächendeckend nachgerüstet. Ziel der KIT-Forscher war es, eine erschwingliche Lösung zu schaffen, die mit vertretbarem Zusatzaufwand bei Sanierungen oder Renovierungen eingesetzt werden kann.

Allerdings können auch Erdbebentapete und Putzsystem Fehler in der statischen Auslegung oder strukturelle Schwächen, etwa durch den Einsatz minderwertiger Baumaterialien, nicht beheben. Gerade wo Bauvorschriften wenig gelten, werden Erbeben auch künftig großes Leid verursachen. Doch Gefahren nur dort zu vermuten, ist falsch. Denn auch im Alpenraum grollt und bebt die Erde in bedenklicher Regelmäßigkeit. In 2011 registrierte der Schweizerische Erdbebendienst mehr als 500 Erdbeben mit Magnituden zwischen 0.1 und 3.3 auf der Richterskala. Schwachbeben also, von denen kaum ein Dutzend zu spüren war. Doch alle 60 bis 100 Jahre ist mit „Schadensbeben“ mit Magnitude 6 und höher zu rechnen. Ein solches Beben ist 30-mal stärker als ein Beben der Magnitude 5 und 900-mal stärker als ein Beben der Magnitude 4 – und es kann durchaus schwere Gebäudeschäden verursachen.

Die Schweiz nimmt diese Gefahr ernst und hat damit begonnen, alle öffentlichen Gebäude in den besonders gefährdeten Gebieten auf ihre Erdbebensicherheit zu prüfen – und wenn notwendig zu ertüchtigen. Neuland. „Bis 2004 gab es in der Schweiz weder praktisch anwendbare Kriterien für die Beurteilung der Erdbebensicherheit bestehender Bauwerke noch gab es eine kostenbezogene Beschreibung der Verhältnismäßigkeit von Ertüchtigungsmaßnahmen“, schreibt der Vizedirektor des Bundesamts für Umwelt, Andreas Götz, in einer Dokumentation der bisherigen Maßnahmen. Zu deutsch: bis vor Kurzem wusste niemand, wie es geht und was es kostet, Erdbebenschutz in Altbauten einzuziehen.

Inzwischen sind die Schweizer durch Pilotprojekte an 24 öffentlichen Gebäuden klüger. Auch hier spielen Faserverstärkungen eine tragende Rolle. Als besonders heikel sehen Erdbebenexperten die Entwicklung, dass immer mehr Erdgeschosse mit Säulen statt Wänden abgestützt werden – sei es in Hotellobbys, Eingangsbereichen von Schulen und Hochschulen oder in Geschäften, bei deren Gestaltungen regelmäßig Wände fallen, um den Kunden freie Sicht aufs Sortiment zu geben. Die Bauingenieure sprechen von Soft Storeys (weichen Geschossen), die bei starken Beben unter der Last der oberen Stockwerke kollabieren. Die ganz harte Landung im Soft Storey also.

Erdbeben-Sicherheit: Soft Storeys erhalten CFK-Korsett

Masoud Motavalli, Abteilungsleiter „Ingenieur-Strukturen“ an der renommierten Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA), hat mit seinem Team ein Verfahren entwickelt, bei dem Erdgeschosssäulen mit kohlenstofffaserverstärkten Kunststoffgeweben (CFK) umwickelt werden. Im CFK-Korsett widerstehen die Stahlbetonstützen weit höheren Schubkräften und sind bis zu einem gewissen Grad verformbar. Der Stahlbetonverbund wird durch das Schieben, Rütteln und Verdrehen des Gebäudes nicht gesprengt – was die Chancen hebt, dass er seine Stützfunktion bis zum Ende des Bebens erfüllt. Während Stützen als heikel bekannt sind, setzen die Erdbeben-Ingenieure bei der Suche nach den weniger offensichtlichen Schwachstellen in Altbauten auf Computersimulation, die ihnen später auch bei der Auslegung der Verstärkungsmaßnahmen helfen. Diese reichen von CFK-Streifen, die mal parallel, mal senkrecht oder in Rauten in den Putz eingebracht werden, über alle erdenklichen Verspannungen von Wänden, um sie mal mit Hilfe von CFK- und mal mit Stahlspanngliedern wie im Schraubstock einzuzwängen, bis zu massiven Rahmenkonstruktionen aus Stahl, die Gebäude teils durch mehrere Geschossdecken geführt wie gigantische Exoskelette stützen. Auch gezielte Verstärkung von Außenwänden mit zusätzlichen, vorgelagerten Stahlbetonwänden gehören zum Repertoire. Des Weiteren brachten die eidgenössischen Bautrupps Stahlarmierungen, mit Beton verfüllte Bohrungen oder eingespritzte Epoxidharze in Wände ein, um die Gebäude zusätzlich zu versteifen und ihre Toleranz für Quer- und Torsionskräfte zu erhöhen.

Bei alledem galt die Faustregel: Je höher im Gebäude die Maßnahme, desto leichter muss gebaut werden. Denn auch bei Erbeben gilt Newtons Kraftgesetz. Und weil in diesem Fall die Natur die Beschleunigung vorgibt, lässt sich die Kraft nur durch reduzierte Gebäudemasse zügeln. Ob ihre Ideen und Berechnungen wirken, möchten auch die Schweizer nicht im Ernstfall bestätigt haben. Denn auch in der Schweiz richtete sich die Bemessung von Gebäuden bis 1970 am Wind aus. Darum rüsten die Alpenländer gezielt Gebäude nach, um im Fall der Fälle die medizinische Versorgung aufrecht erhalten und die Bevölkerung mit Energie und Trinkwasser versorgen zu können.

Käme es zu einem Starkbeben, wäre selbst in der reichen Schweiz die Hälfte aller Gebäude vom Einsturz bedroht, da sie noch aus Zeiten stammen, wo kein Bauherr ernsthaft Erdbeben bedachte. Weltweit leben über 1,3 Mrd. Menschen mit der latenten Bedrohung durch diese Naturgewalt. Es gibt also noch viel zu tun für Erdbeben-Ingenieure wie Moritz Urban.  

Ein Beitrag von:

  • Peter Trechow

    Peter Trechow ist Journalist für Umwelt- und Technikthemen. Er schreibt für überregionale Medien unter anderem über neue Entwicklungen in Forschung und Lehre und Unternehmen in der Technikbranche.

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