Bewerbung 14.11.2016, 01:00 Uhr

Vision und Wirklichkeit im Bewerbungsprozess

„Passen Karrierevisionen in die reale Arbeitswelt?“ Diese Frage stelle ich mir immer öfter, wenn ich mich mit dem Ingenieurnachwuchs austausche. Klar, junge Menschen haben das Recht zu träumen. Schließlich resultieren aus Träumen Triebfedern, die viele Jahre durch das Berufsleben tragen und zu hohen Leistungen anspornen können – auch unter widrigen Bedingungen.

Visionen können im Bewerbungsprozess hilfreich sein.

Visionen können im Bewerbungsprozess hilfreich sein.

Foto: panthermedia.net/WavebreakmediaMicro

Visionen und Leistungsbereitschaft müssen passen

Nehmen wir hier eine Anleihe aus dem Breitensport. „Einmal im Leben Marathon laufen“ lautet heute der Wunsch vieler ambitionierter Menschen. Geht es an die Umsetzung, springen bereits viele ab. Bei Wind und Wetter raus auf die Straße oder in den Wald zum Training nach einem anstrengenden Berufstag – vielleicht drei- bis viermal in der Woche … über mehrere Jahre. Wer durchhält, wird belohnt.
Die Trainingsläufe strengen an, doch danach fühlt man sich einfach besser, über die Zeit entsteht die Lust am Laufen, der Stolz über das eigene Durchhaltevermögen und letztlich, hat man die Marathonstrecke erstmalig geschafft, eine tiefe persönliche Befriedigung. Wer Visionen aufbaut, sollte genau prüfen, ob sie realistisch sind, d.h. ob man mit den Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten gleichsam leben kann.

Die rosarote Arbeitswelt

Bei Berufsvisionen, die heute gezeichnet werden, kommen mir manchmal Zweifel an der Validität. Anspruch und Wirklichkeit wollen dabei nicht zusammenpassen. So empfinde ich, wenn ich mit jungen Ingenieuren oder Studenten der Ingenieurwissenschaften über die Berufswelt philosophiere. Was mir besonders auffällt, ist eine Art Forderungshaltung gegenüber dem Arbeitsmarkt. Man malt sich für den Berufseinstieg Top-Arbeitgeber, Arbeitsverhältnisse und Stellenprofile aus. In erster Linie weiß man dabei mehr, was man nicht will und weniger was man ganz genau will. Was man aber genau weiß, dass der Job Spaß machen und selbstverständlich auch ein ordentliches Gehalt einfahren muss, das sehr schnell alle Annehmlichkeiten des Lebens zulässt.

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Einstieg nach Maß eher die Ausnahme

Wer ein guter bis sehr guter Ingenieureinsteiger ist, dem bleibt die Vision des Arbeitslebens als Wunschkonzert möglicherweise noch in den Bewerbungsrunden um den ersten Arbeitsvertragerhalten. Gerade Arbeitgeber mit einem außerordentlich guten Personalmarketing verstehen, wie diese Berufsgruppe tickt und ziehen alle Register, um die besten Nachwuchsingenieure für sich zu gewinnen. Nach dem Start gibt es passende Einarbeitungsprogramme, ein Mentor wird zur Seite gestellt, möglicherweise entwickelt sich das ohnehin schon hohe Einstiegsgehalt zügig weiter – natürlich nur dann, wenn der Kandidat das hält, was man sich von ihm versprochen hat. Diese Ingenieure verfügen dann tatsächlich über die besten Voraussetzungen, von Beginn an eine ordentliche Karriere hinzulegen. Glück gehabt! Und wenn nicht… dann findet sich der Nachwuchs schnell auf dem Boden der Normalitäten wieder.

Arbeitsplatzsuche bringt Ernüchterung

Bei vielen der jungen Ingenieure kommt die Ernüchterung allerdings schon bei der Suche nach dem ersten Arbeitsplatz. Nicht der Nachwuchs fordert, sondern in erster Linie die Unternehmen. Da geht es beim Bewerbungsprozess zu wie in den Casting-Shows. Nicht jeder, der sich als Supertalent sieht, ist es und wird ganz schnell weggewunken. „Was soll´s! Dann geht es eben zum nächsten Unternehmen“, mag sich der eine oder andere Ingenieur sagen.

So geht das Bewerbungs-Spiel eine gewisse Zeit weiter, bis die eigene Anspruchshaltung gänzlich aufgegeben oder drastisch revidiert wird. Zum Schluss ist man froh, überhaupt einen Einstiegsjob gefunden zu haben. Und die Gefahr, jetzt unter großem Druck danebenzugreifen, scheint besonders hoch. Die Karriere verläuft dann von Beginn an holprig, eine nachträgliche Korrektur gelingt nicht jedem.

Auch Berufseinsteiger müssen sich rechnen

Was ich persönlich als besonderes bedauerlich empfinde: Die Vision ist weg! Statt beschwingt, verläuft der Berufseinstieg mehr oder weniger in der Enttäuschung. Möglicherweise kommt man sogar seinem sozialen Umfeld gegenüber in Erklärungsnöte usw. Die große Gefahr besteht jetzt, dass der um seine Vision betrogene Ingenieur im üblichen Berufsalltag mit verdammt hohen Anforderungen nicht zu Recht kommt. Er wird quasi wie der Torwart auf dem verkehrten Fuß erwischt. Da gibt es die enormen fachlichen Anforderungen, die in (fast) jeder Stellenausschreibung sehr präzise formuliert sind.

Hinzu kommt der Leistungsdruck, der im Regelfall auf jedem Ingenieur lastet, wenn er eingestellt wird. Jeder neue Ingenieur muss sich schnellstmöglich („asap“) rechnen! Ansonsten sitzt den Führungskräften das Controlling im Nacken. Zudem ist rein führungstechnisch die heutige Arbeitswelt anders gestrickt als in früheren Zeiten. Trotz der geforderten sozialen Kompetenz von Führungskräften, vieler Teamtrainings, gemeinsamer Missionen, toller Unternehmensphilosophien sind Umgangstöne und zwischenmenschliche Verhaltensweisen rauer geworden und orientieren sich vielfach nur noch am Ergebnis.

Austausch mit Ingenieuren der Praxis wichtiger als Karriereratgeber

Visionen, die nicht realistisch sind, gleichen dem Haus, das auf Sand gebaut wird. Letztlich sind sie nichts wert, kosten viel Zeit und Geld. Meist ist der Weg sehr steinig, um wieder auf Kurs zu kommen. Daher sollte sich der Ingenieurnachwuchs rechtzeitig, schon während des Studiums realistisch mit dem Arbeitsmarkt auseinandersetzen. Es nützt wenig, sich nur einseitig gefärbte Informationen von Unternehmen anzuhören, sich mit Literatur zur Traumkarriere zu beschäftigen.

Realistische Visionen brauchen den Input der Arbeitswelt. Dazu gehört etwa der Austausch mit Ingenieuren, die real als solche arbeiten. Weiterhin auch Tätigkeiten vor oder während des Studiums, die in irgendeiner Form etwas mit der späteren Berufswelt zu tun haben. Da nützt dem angehenden Kfz-Ingenieur mehr der Job am Fließband eines Automobilherstellers als der besser bezahlte Job als Skilehrer in den Alpen.

Entlohnung von Ingenieurjobs relativ bescheiden

Grundsätzlich sollte man sich auch von der Vision lösen, dass ein Ingenieur das große Geld verdient. Wenn ein Werks- oder Produktionsleiter im Mittelstand mit viel Verantwortung für Menschen und Material gerade einmal knappe 100.000 Euro im Jahr nach Hause bringt, kann das schon respektabel sein. Andere Berufsgruppen mit wesentlich geringer Verantwortung gehen auf die Straße, weil sie sich damit unterbezahlt fühlen. Unter Geldaspekten lohnen sich andere Studiengänge mehr!

Auch der Spaßfaktor muss hinterfragt werden. Das Berufsleben ist für die meisten Arbeitnehmer keine spaßige Veranstaltung sondern anstrengender Broterwerb. Das Paradies ist uns erst für später versprochen. Spricht der Ingenieur von Spaß, dann sollte es der Spaß an der Technik sein. Der technologiebegeisterte Ingenieur braucht sich über Karriere nur wenig Gedanken zu machen, er wird früher oder später entdeckt, gefördert und Karriere machen – mit oder ohne Vision!

Tipp:
Praktika bringen Pluspunkte

 

Ein Beitrag von:

  • Bernd Andersch

    Bernd Andersch ist Karriere-Coach, Sachbuchautor und Spezialist für Bewerbungsstrategien.

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