Neue EU-Architektur 27.12.2016, 12:04 Uhr

Ein gläsernes Ei wird Europas politisches Zentrum

Hinter dem gläsernen Fassadenwürfel mit über 3.700 recycelten Holzfensterrahmen leuchtet der riesige eiförmige Baukörper, als käme er aus einer anderen Galaxie. Das neue Brüsseler Gebäude, das der Europäische Rat im Frühjahr 2017 beziehen wird, ist keine verschämte Bürokraten-Architektur, sondern ein selbstbewusster Auftritt mit viel Symbolik.

Seinen Spitznamen hat das neue EU-Ratsgebäude in Brüssel schon mal weg: Space Egg, zu Deutsch Weltraum-Ei, wird die Würfelform mit bauchigem Kern von Diplomaten und Journalisten genannt. Damit steht zumindest fest, dass die Architektur an der Rue de la Loi nicht zur Sorte der namenlosen 08/15 Bauten gehört, die jedes städtebauliche Statement scheuen.

Der belgische Architekt Philippe Samyn wollte ein identitätsstiftendes Bauwerk für Europa mit Wiedererkennungswert. Letzteres ist ihm zumindest gelungen und wie es um die Identitätsstiftung bestellt ist, wird die Zukunft zeigen.

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100 Jahre altes Gebäude integriert

Das neue Ratsgebäude liegt neben dem bisherigen Sitz, dem Justus-Lipsius-Bau, der in den 1980er Jahren errichtet worden war, als die EU noch 12 Mitgliedsstaaten hatte. 2004 erweiterte sich die Europäische Union, was mehr Platzbedarf mit sich brachte. Der belgische Staat bot der EU den Block unmittelbar neben dem 1927 vom Schweizer Architekten Michel Polak gebauten Appartementgebäude für einen Neubau an, mit der Bedingung, dass dieser Bau erhalten und restauriert werden müsse.

Nun „klebt“ das L-förmige, fast 100 Jahre alte Gebäude im Art-déco-Stil an der einen Flanke des Neubaus, während dieser auf seiner anderen Seite durch Fußgängerpassagen mit dem alten Lipsius-Gebäude direkt verbunden wird.

Eine weitere städtebauliche Gegebenheit, beziehungsweise Herausforderung war das Netzwerk an Auto- und Bahntunnel, das sich unterhalb des Neubaus befindet. Die gesamte Struktur musste deshalb besonders leichtgewichtig werden und gleichzeitig den extrem hohen Sicherheitsanforderungen der EU genügen.

Keine leichte Aufgabe für Samyns Architekturbüro, das 2005 gemeinsam mit dem italienischen Studio Valle Progettazioni und dem britischen Büro Bruno Happold nach einem europaweit ausgeschriebenen Wettbewerb den Auftrag bekommen hatte.

Fassade besteht aus fünf Schichten

Die Entwurfsidee für sein Gebäude sei ihm im Schlaf gekommen, sagte Architekt Philippe Samyn, der auch einen Ingenieurabschluss vom Massachusetts Institute of Technology mitbringt und sich selbst zugleich als „Mann des 19. Jahrhunderts“ sieht. Sein Markenzeichen ist neben Fliege und Pfeife sein liebstes Werkzeug – der Rechenschieber. Etwas mehr Rechenleistung wird dann doch wohl nötig gewesen sein, um die spezielle Struktur des Bauwerkes zu berechnen.

Die äußere gläserne Haut des würfelförmigen Baus besteht inklusive der Stahlkonstruktion aus insgesamt fünf Schichten, deren hervorstechendes Merkmal die rund 3.750 alten Eichenholzfenster sind, die aus verschiedenen Ländern Europas aus Abbruchhäusern herausgelöst und nach Brüssel gebracht wurden.

Neu formatiert stehen sie nun symbolisch für die EU und deren Motto „Einheit in Vielfalt“. Durch ein spezielles System, das Regenwasser ableitet – das für die Toiletten verwendet wird –, sollen die Fenster maximal ein Mal im Jahr geputzt werden müssen.

Im Atrium steht eine 40 m hohe bauchige Vase

Hinter der Fassade ist ein Atrium entstanden, das durch eine riesige 40 m hohe elliptische Form, die an ein Ei erinnert oder auch an eine Amphore, eine bauchige Vase, gefüllt wird. Die Form entstand aus der Notwendigkeit, unterschiedlich große Räume auf verschiedenen Ebenen unterbringen zu müssen.

Der größte Konferenzraum mit 250 Plätzen und 32 Dolmetscherkabinen liegt auf der fünften Etage, der bauchigsten Stelle der 13 Stockwerke hohen Konstruktion. Außerdem gibt es weitere Sitzungsräume, das Pressezentrum, eine Kantine und ganz oben ein Restaurant mit 50 Plätzen.

Morgens und abends wird die kurvige Struktur der Amphore mit LED-Leuchten illuminiert, die ihre Energie vom Photovoltaikdach bekommen. Die im Grundriss elliptischen Geschosse mit einem Radius von bis zu 25 m werden von radial angeordneten Stahlträgern gehalten, die mit den vertikalen Trägern beweglich verbunden sind. Zwei Betonkerne sichern die Stabilität des Baukörpers, der über längere Zeit große Hitze überstehen kann. Damit gilt das neue Ratsgebäude als besonders sicheres Gebäude.

Bunte Innenausstattung: „Vereintes Flickwerk Europa“

Was die Innenausstattung betrifft, ist es auch ein besonders fröhlich-buntes Gebäude. Philippe Samyn holte seinen Landsmann, den Künstler Georges Meurant, in sein Team. Meurant überzog Decken und Teppichböden, Lichtschächte und Türen mit verschieden großen Rechtecken in wilder Buntheit, die für Samyn das „vereinte Flickwerk“ Europas repräsentieren.

Gegner hat das neue EU-Ratsgebäude bisher ebenfalls auf den Plan gerufen. Denen kommt die deutliche Kostensteigerung, die zwischen Planung und Fertigstellung liegt, wie gerufen. Aus den anfangs errechneten 240 Millionen Euro Baukosten sind nun 325 bis 350 Millionen Euro geworden. Erklärungen hierfür liegen einerseits in der aufwändigen Renovierung des ehemaligen Residenzschlosses und in den offenbar mehrmals gestiegenen Anforderungen bezüglich Sicherheit und Brandschutz.

Der damalige britische Premierminister David Cameron gab bereits 2011, als mit dem Bau begonnen wurde, seiner „immensen Frustration“ über die hohen Baukosten Ausdruck. Dass es im fertigen Gebäude nun keine britische Delegation geben wird, kann man der Architektur allerdings nicht vorwerfen.

Eine üppige Bildergalerie des Gebäudes hat das Architektur ins Netz gestellt. Und wenn Sie sich noch von einem anderen Gebäude verzaubern lassen wollen, dann lesen Sie hier über die Elbphilharmonie in Hamburg.

 

Ein Beitrag von:

  • Gudrun von Schoenebeck

    Gudrun von Schoenebeck

    Gudrun von Schoenebeck ist seit 2001 journalistisch unterwegs in Print- und Online-Medien. Neben Architektur, Kunst und Design hat sie sich vor allem das spannende Gebiet der Raumfahrt erschlossen.

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