Intelligenter Algorithmus 02.06.2020, 06:00 Uhr

Mathematik rettet Menschen aus Seenot

Sinkt ein Schiff auf hoher See ab, haben Retter selbst bei bekannter Position oft nur wenig Erfolg. Überlebende driften aufgrund von Strömungen schnell ab. Eine neue Software soll zur genaueren Bestimmung von Positionen mit beitragen.

Hubschrauber über dem Meer

Die Suche von Schiffbrüchigem ist aufgrund von Strömungen und Winden schwierig. Eine neue Software simuliert Positionen mit hoher Aufenthaltswahrscheinlichkeit.

Foto: panthermedia.net/stockarch (YAYMicro)

Trotz modernster Technik ertrinken Menschen auf hoher See. Ihnen gelingt es oft noch, einen Notruf abzusetzen. Teams der Seenotrettung kennen dann sogar die letzte Position. Aber durch die Gezeiten, durch starken Wind und durch Strömungen werden Schiffbrüchige rasch weggetrieben. Nach sechs Stunden sinkt die Wahrscheinlichkeit, Menschen lebend zu bergen, immens. Das liegt an den niedrigen Wassertemperaturen.

Jetzt haben Forscher des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich und der Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI) in Woods Hole eine Software entwickelt, um Menschen in Seenot schneller zu finden. Ihr Ziel ist, anhand verschiedener Datenquellen zu simulieren, wo sich Schiffbrüchige mit höherer Wahrscheinlichkeit befinden. Such- und Rettungsdienste (SAR) müssen ein deutlich geringeres Gebiet absuchen als ohne den Algorithmus. „Wir hoffen, dass unsere Arbeit hilft, mehr Menschenleben zu retten“, so Mattia Serra von der ETH Zürich.

Bisherige Modelle nicht komplex genug 

Die Idee, anhand verschiedener Parameter zu bewerten, wohin ein Objekt driftet, ist nicht neu. Schon heute arbeiten Seenot-Rettungsteams mit Tools, welche die Meeresdynamik und den Wetterbericht berücksichtigen. Doch Bedingungen vor Ort verändern sich schnell, was zu großen Fehlern führt – und unnötig viel Zeit geht verloren.

Bei ihren Simulationen machte das internationale Forscherteam eine neue Beobachtung: Objekte, etwa Menschen in Schwimmwesten, treiben nicht mit zufälligen Bewegungsmustern im Wasser. Vielmehr sammeln sie sich an virtuellen, kurvenähnlichen Linien. Diese werden Transient Attracting Profiles (TRAPs), sprich Profile mit vorübergehender Anziehung, genannt. Mit bloßem Auge oder mit bildgebenden Verfahren lassen sich solche TRAPs nicht erkennen. Es handelt sich um virtuelle Strukturen mit höherer Aufenthaltswahrscheinlichkeit von Schiffbrüchigen. Sie sind auf meteorologische und ozeanographische Gegebenheiten zurückzuführen.

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An der Wasseroberfläche treibende Menschen ordnen sich aufgrund von Wind und Strömung entlang von Linien, den TRAPs, an.

Foto: George Haller/ETH Zürich

TRAPs können mit dem jetzt vorgestellten Algorithmus erkannt werden. Das Tool berücksichtigt Parameter wie die Stärke und Richtung von Meeresströmungen, Oberflächenwinden und Wellen in Echtzeit. Dann identifiziert es Regionen im Ozean mit hoher Aufenthaltswahrscheinlichkeit für Schiffbrüchige.

Ein Blick in die Software

„Unser neues Tool nutzt zwar bekannte Datenquellen, nutzt sie aber auf neue Art und Weise“, erklärt Thomas Peacock. Er ist Professor für Maschinenbau am MIT. Bisherige Systeme arbeiteten mit dem Lagrange-Ansatz: einem mathematischen Verfahren, bei dem Momentaufnahmen von Wellen und Strömungen verwendet werden, um Schritt für Schritt eine Bahn zu erzeugen. Diese beschreibt mit großem Fehler, wohin ein Schiffbrüchiger von der letzten bekannten Position aus abgedriftet sein könnte.

Peacock jedoch setzt auf Euler-Gleichungen. Auch hier beginnt die Analyse am letzten bekannten Punkt. Simuliert werden zu diesem Moment wahrscheinliche Geschwindigkeiten, um eine Bewegung zu beschreiben. Alle Vorhersagen aktualisiert die Software ständig mit neuen Daten. Als Ergebnis erhält man Regionen mit einer höheren Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Opfer – und schickt Suchteams gezielt dorthin.

Tests unter realen Bedingungen

So viel zur Theorie. Ob ihr Modell wirklich funktioniert, testeten die Wissenschaftler unter realen Bedingungen. Mit dem Forschungsschiff ging es an die Küste von Martha’s Vineyard hinaus, einer Insel vor der Südküste von Cape Cod im US-Bundesstaat Massachusetts. Dort warfen sie Bojen und Dummies ins Wasser. Neben dem Forscherteam beteiligte sich auch die Küstenwache am Experiment. Alle Teilnehmer erhielten die gleichen Echtzeit-Daten, arbeiteten jedoch mit dem bekannten oder mit dem neuen Algorithmus zur Suche. An den Driftern wurden GPS-Tracker angebracht, um die Koordinaten aufzuzeichnen und mit Daten aus der Simulation zu vergleichen.

„Wir waren etwas skeptisch, ob eine mathematische Theorie wie diese auf einem Schiff in Echtzeit funktionieren würde“, so George Haller, Professor für nichtlineare Dynamik an der ETH Zürich. „Aber wir wurden alle angenehm davon überrascht, wie gut sie funktioniert.“ Tatsächlich gruppierten sich Objekte entlang von errechneten Linien, den TRAPs. Dort würden Rettungsteams im Ernstfall suchen.

Einsatz nicht nur im Search-and-Rescue-Bereich

„Unsere Ergebnisse sind leicht interpretierbar, schnell verfügbar und günstig umzusetzen“, sagt Serra. Zudem könnte man die Methode bei größeren, auf der Meeresoberfläche treibenden Objekten anwenden, etwa bei Ölteppichen. Weitere Tests sind geplant. „Wir hoffen, dass diese Methode zu einem Standardwerkzeug der Küstenwache wird“, ergänzt Haller.

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Ein Beitrag von:

  • Michael van den Heuvel

    Michael van den Heuvel hat Chemie studiert. Unter anderem arbeitet er für Medscape, DocCheck, für die Universität München und für pharmazeutische Fachmagazine. Seit 2017 ist er selbstständiger Journalist und Gesellschafter von Content Qualitäten. Seine Themen: Chemie/physikalische Chemie, Energie, Umwelt, KI, Medizin/Medizintechnik.

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