Alte Theorie als Schlüssel zum Universum?
Eine längst verworfene Vorstellung aus dem 19. Jahrhundert erwacht zu neuem Leben. Japanische Forschende glauben, in ihr den Schlüssel zum Universum gefunden zu haben. Das Modell verbindet uralte Annahmen mit modernster Teilchentheorie und lässt tief in die Struktur der Schöpfung blicken.
Die Forschenden haben 3D-Diagramme der numerischen Lösung für die Knotensolitonen erstellt.
Foto: Muneto Nitta/Hiroshima-Universität
Als Lord Kelvin im Jahr 1867 Atome als verknotete Wirbel im Äther beschrieb, galt dieser Gedanke bald als überholt. Seine Idee von ringförmigen Strukturen im unsichtbaren Medium der Welt wurde von der modernen Atomphysik verworfen. Und doch scheint in dieser „toten Idee“ ein Funke Wirklichkeit verborgen gewesen zu sein. Denn genau solche verknoteten Zustände tauchen in neuen Berechnungen japanischer Physiker wieder auf.
Ihre Forschung verbindet Theorien zu Neutrinomassen, Dunkler Materie und fundamentalen Symmetrien auf überraschende Weise. Die kürzlich veröffentlichten Ergebnisse legen nahe, dass sich kurz nach dem Urknall komplexe Knoten gebildet haben könnten – flüchtige Objekte, die möglicherweise den Unterschied zwischen Materie und Antimaterie bestimmten. Damit rückt das scheinbar Vergessene ins Zentrum eines Jahrhunderträtsels.
Der verlorene Schlüssel zum Universum
Was der Urknall ins Dasein schleuderte, sollte eigentlich perfekt ausgeglichen sein: gleiche Mengen Materie und Antimaterie, die sich gegenseitig vernichten. Übrig bliebe nur Strahlung – doch das Universum besteht aus Sternen, Galaxien, Planeten und uns selbst. Wo also blieb die Antimaterie? Berechnungen zeigen, dass pro Milliarde Teilchenpaare nur ein zusätzliches Materieteilchen überlebt hat. Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt die Kräfte und Bausteine äußerst präzise, versagt jedoch an dieser Stelle.
Forschende um Muneto Nitta und Minoru Eto von der Universität Hiroshima in Japan suchten nach einer Erklärung innerhalb der bekannten Gesetzmäßigkeiten. Ihre Antwort: Knoten könnten der verborgene Schlüssel zum Universum gewesen sein – Relikte aus der Anfangsphase, die ein Ungleichgewicht zwischen Teilchen und Antiteilchen hervorriefen und so die Existenz aller sichtbaren Strukturen ermöglichten.
Zwei erweiternde Symmetrien
Diese Überlegung stützt sich auf zwei erweiternde Symmetrien des Standardmodells: die Peccei-Quinn-Symmetrie, welche das sogenannte starke CP-Problem löst, und die Baryon-minus-Lepton-Symmetrie, die erklärt, warum Neutrinos Masse besitzen. Beide zusammen bilden eine bemerkenswerte Dynamik. Während erstere ein hypothetisches Teilchen, das Axion, einführt – einen denkbaren Kandidaten für Dunkle Materie –, sorgt die zweite dafür, dass die Theorie konsistent bleibt, indem sie rechtshändige Neutrinos benötigt.
Wenn diese Symmetrien gleichzeitig wirken, entstehen stabile Konfigurationen, in denen magnetische und supraleitende Eigenschaften verwoben sind. Ihre theoretische Stabilität ermöglicht es, dass aus der Energie des frühen Kosmos Strukturen hervorgingen, die als Knoten im Energiefeld gedacht werden können. In ihnen könnte der Schlüssel zum Universum in elementarer Form eingebettet sein.
Kosmische Fäden
Beim Abkühlen nach dem Urknall brachen die großen Symmetrien nacheinander. Dieser Vorgang führte zu Defekten in Form von feinen, unsichtbaren Fäden. Kosmologen bezeichnen sie auch als kosmische Strings. In den Modellen aus Hiroshima treten magnetische Flussröhren der B-L-Symmetrie gleichzeitig mit supraleitenden Wirbeln der PQ-Symmetrie auf. Ihre gegenseitige Abhängigkeit sorgt für Stabilität, sodass die Strukturen zu verknoteten Gebilden verschmelzen konnten – sogenannten Knoten-Solitonen. „Niemand hatte diese beiden Symmetrien gleichzeitig untersucht“, betont Nitta. Die Kombination sei zufällig entstanden und habe einen stabilen Knoten hervorgebracht. Diese Gebilde könnten einst in gewaltiger Zahl existiert haben, doch anders als Strahlung verloren sie Energie langsamer und dominierten deshalb für kurze Zeit das junge Universum. Sie stellten eine Art Energiespeicher dar – und vielleicht auch den entscheidenden Schlüssel zum Universum.
Während diese Knoten existierten, verhielten sie sich wie Materie und nicht wie Licht. Als schließlich Quanteneffekte einsetzten, zerfielen sie. Der Zerfall dieser geisterhaften Teilchen erzeugte ein feines Übergewicht von Materie, das sich im Laufe der Jahrmilliarden zu Sternen, Planeten und Leben formte. „In gewissem Sinn sind die Knoten unsere Großeltern“, bemerkte Nitta, „denn die rechtshändigen Neutrinos, die sie freisetzten, sind die Eltern aller heute vorhandenen Materie.“
Simulationen des Schlüssels zum Universum
Mathematische Berechnungen im Modell bestätigten die Plausibilität dieser Idee. Setzte man realistische Werte für die Masse der schweren Neutrinos ein – etwa 10¹² Gigaelektronenvolt – und rechnete die Energieumwandlung durch den Knotenzerfall nach, ergab sich eine Wiedererwärmung des Universums auf rund 100 GeV. Diese Temperatur gilt als kritischer Schwellenwert, unterhalb dessen die elektroschwachen Wechselwirkungen, die für die Umwandlung von Asymmetrien verantwortlich sind, zum Erliegen kommen. Auch das Gravitationsspektrum hätte sich dadurch verschoben: neue Frequenzmuster, die künftige Observatorien wie die Laser Interferometer Space Antenna (LISA) in Europa, der Cosmic Explorer in den USA und das Deci-hertz Interferometer Gravitational-wave Obervatory (DECIGO) in Japan auffangen könnten.
„Kosmische Strings sind eine Art topologische Solitonen – Objekte, deren Größen gleichbleiben, egal, wie stark man sie verdreht oder dehnt“, sagt Eto. „Diese Eigenschaft gewährleistet nicht nur ihre Stabilität, sondern bedeutet auch, dass unser Ergebnis nicht an die Besonderheiten des Modells gebunden ist. Auch wenn die Arbeit noch theoretischer Natur ist, ändert sich die zugrundeliegende Topologie nicht. Deshalb betrachten wir dies als einen wichtigen Schritt in Richtung zukünftiger Entwicklungen.“
Kelvins Idee könnte damit eine unerwartete Wiedergeburt erleben. Während er einst dachte, Knoten seien die kleinsten Bausteine der Materie, zeigt sich nun, dass sie eine weit größere Rolle gespielt haben könnten – nicht als Bestandteile, sondern als Urheber der Materie. Der nächste Schritt soll in präziseren Simulationen liegen, um die Signaturen solcher Prozesse in den Daten künftiger Gravitationswellenexperimente aufzuspüren. Sollte sich ihre Existenz bestätigen, wäre bewiesen, dass in der gewundenen Struktur des frühen Kosmos wirklich der Schlüssel zum Universum verborgen liegt – und mit ihm die Antwort auf die Frage, warum überhaupt etwas existiert.
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