Bahn 12.07.2002, 18:20 Uhr

Kein Zug wird aus dem Gleis geweht

Die immer schneller fahrenden und leichter werdenden Züge haben bei den Bahngesellschaften mit Hochgeschwindigkeitsverkehr „Sturmwarnung“ ausgelöst. Weil die komplexe Seitenwind-Problematik kaum berechenbar ist, wird mit aufwändigen mathematischen Modellen Vorsorge getroffen, damit selbst ein Orkan keinen Zug aus dem Gleis wirft. Erfahrungen mit Böen und Sturm können auch Eisenbahngesellschaften nicht einfach in den Wind schlagen. Die Züge werden immer schneller und leichter, und die Deutsche Bahn (DB) muss beispielsweise wissen, wie ihr neuester Paradezug, der ICE3, bei stürmischem Wetter betrieben werden muss. Lösungen für „stürmische“ Fahrten wurden am 26. Juni auf einem Symposium bei DB Systemtechnik in München-Freimann umfassend erörtert.

Seitenwindverhalten und Seitenwindstabilität gehörten heute selbstverständlich zur Fahrzeugkonstruktion, hieß es dort.
Von welcher Bedeutung Seitenwind sein kann, musste die französische Südbahn schon vor beinahe 150 Jahren feststellen. Damals stürzte ein von Perpignan nach Narbonne fahrender Personenzug mit sieben Wagen im Sturm um. Und die Brücke über den Firth of Tay in Schottland stürzte 1879 im Orkan auch erst unter den Belastungen eines darüber fahrenden Schnellzugs ein. Bald waren die Brücken jedoch ausreichend auf Winddruck berechnet und die Züge so schwer, dass die Problematik weitgehend in Vergessenheit geriet. „Bis 1991 hat Seitenwind bei der Bundesbahn keine Rolle gespielt, weil die Züge immer von schweren Lokomotiven gezogen wurden“, erinnert sich Peter Lankes, bei DB Systemtechnik für den ICE verantwortlich.
Zum ersten Mal schrillten bei der DB wieder die Sturmglocken, als auf der damals fertigen Neubaustrecke Hannover – Würzburg Güterzüge mit leeren und entsprechend leichten Containern im Mischverkehr mit den Hochgeschwindigkeitszügen verkehren sollten. An besonders exponierten Stellen wurden Windmessanlagen aufgestellt und Güterzüge bei kritischen Windstärken über die alte Strecke umgeleitet.
„Eine ganz neue Dimension erhielt die Seitenwind-Problematik erst mit den Bemühungen um mehr Flexibilität im Fahrzeugpark, so mit Einführung geschobener Züge im höheren Geschwindigkeitsbereich, besonders mit dem ICE 2“, so Lankes. „Diese Züge haben an einem Ende keinen schweren Triebkopf mehr, sondern einen verhältnismäßig leichten Steuerwagen.“
Die Empfindlichkeit gegen Seitenwind wächst mit zunehmender Geschwindigkeit und Verminderung des Gewichts. Höhere Geschwindigkeiten verlange der Markt, Leichtbau die Energiebilanz: „Jede Tonne weniger bedeutet etwa 500 d Ersparnis im Jahr an Kosten allein für Traktionsenergie“, rechnet Lankes vor und plädiert für intelligentere Lösungen als etwa den Einbau von Ballast.
Nach solchen Lösungen wird inzwischen von den Bahnen mit Hochgeschwindigkeitsverkehr weltweit gesucht. Auf dem Symposium in München erklärte Roger Gansekorn von Siemens Transportation Systems, dass das „Seitenwindverhalten heute zu den konstruktiven Aufgaben der Fahrzeughersteller gehört, und bei der aerodynamischen Optimierung die Seitenwindstabilität sogar an erster Stelle steht.“ Allerdings handele es sich um ein äußerst komplexes Problem, das sich exakten Berechnungen großenteils entzieht und deshalb durch aufwändige Modelle erfasst werden müsse. Als günstige Kopfform habe sich der im Windkanal optimierte „Entenschnabel“ mit geringer Höhe im vorderen Bereich erwiesen. Neben einem tonnenförmigen Dach seien Masse und Schwerpunkt des Endwagens wichtig, ebenso das Wankverhalten. Erheblichen Einfluss habe womöglich entstehender Auftrieb.
Christoph Heine, bei DB Systemtechnik für die „Maßnahmenplanung“ zuständig, zählte weitere Ansatzpunkte auf, so die Gestaltung des Unterflurbereichs, die Höhe und die Steifigkeit des Fahrzeugaufbaus. Außerdem seien wirksame Maßnahmen auch an der Strecke möglich, vor allem Windschutzzäune oder -wände, die ähnlich wie Schallschutzwände aufgestellt werden.
Bei Abständen bis 10 m lasse sich Seitenwind damit nahezu vollständig abschirmen. Auf der Neubaustrecke Köln – Rhein/Main, die ab 1. August im öffentlichen Verkehr befahren werden wird, seien auf rund 12 km Strecke derartige Windschutzwände errichtet worden. Schließlich könne das Seitenwindrisiko betrieblich durch Verminderung der Geschwindigkeit gesenkt werden. Die Wirksamkeit dieser Maßnahme hänge allerdings von der Kennkurve jedes Fahrzeugs ab.
Um diese fahrzeugspezifischen Größen reproduzierbar zu machen, wurde eine Methodik für die Ermittlung der Wind-Kenn-Kurve (WKK) erarbeitet. Sie wird mit der Windhäufigkeit jeder in Betracht kommenden, seitenwindempfindlichen Strecke in Beziehung gesetzt und mit einem als sicher bewerteten Referenzfahrzeug verglichen. „Sind die Werte besser, kann das neue Fahrzeug uneingeschränkt zugelassen werden sind sie schlechter, müssen am Fahrzeug oder an der Strecke ,Maßnahmen“ getroffen werden“, erläuterte Andreas Thomasch vom Eisenbahn-Bundesamt (EBA).
Sei mit dem Maßnahmenpaket eine uneingeschränkte Zulassung nicht zu erreichen, würden die erforderlichen Einschränkungen für den Betrieb definiert. Auf dieser Grundlage bestehe in Deutschland bereits ein Verfahren für die Bewertung neuer Züge hinsichtlich Seitenwind. Die entsprechende Richtlinie (Ril 401) sei laut Thomasch Bestandteil des Genehmigungsverfahrens von Fahrzeugen. Gegenwärtig werde jedoch schon von nationalen auf internationale Zulassungsverfahren umgeschaltet.
„Da in Zukunft ein stark zunehmender internationaler Verkehr erwartet wird, verlangt auch das Thema Seitenwind nach einer europäischen Perspektive“, erklärte Thorsten Tielkes von DB Systemtechnik. Spätestens 2005 solle eine international harmonisierte Methodik verfügbar sein. Daran arbeiten Deutschland und Frankreich gemeinsam im Cross Wind Project. Ziel seien europäische Normen.
Obwohl in beiden Ländern unterschiedliche Modelle angewandt würden, sei ein Konsens absehbar. Der Abschlussbericht solle bereits Ende dieses Jahres vorliegen. Gleichzeitig werde die Methodik zum „Sicherheitsnachweis Seitenwind“ bis Ende 2003 in die „Technical Specification for Interoperability (TSI) Rolling Stock“ einfließen. Spätestens 2005 solle des Weiteren die europäische Norm (EN) für Eisenbahn-Aerodynamik (CEN TC 256 WG 6) vorliegen.
RALF ROMAN ROSSBERG/WOP

 

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Ein Beitrag von:

  • Ralf Roman Rossberg

    Freier Journalist und Buchautor, der im wesentlichen zu Eisenbahnthemen schrieb. Studium der Elektrotechnik in München und Berlin, später viele Jahre im Pressedienst der Deutschen Bundesbahn.

  • Wolfgang Pester

    Ressortleiter Infrastruktur bei VDI nachrichten. Fachthemen: Automobile, Eisenbahn, Luft- und Raumfahrt.

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