Autobauer vs. Bürokratie: Wenn KI an der Ampel stoppt
KI-Potenziale in der Automobilindustrie: Chancen verspielt durch Regulierung?
Jörg Grotendorst, Advisor Automotive Industry bei HTEC.
Foto: HTEC
Künstliche Intelligenz entwickelt sich rasant: Sie steuert ganze Produktionsstraßen, unterstützt Fahrerassistenzsysteme und kann sogar komplexe Entscheidungen im autonomen Fahren treffen. Gerade die Automobilindustrie steht durch die Elektrifizierung und Digitalisierung des Antriebs vor großen Herausforderungen – gleichzeitig bietet KI hier enorme Innovationspotenziale. Strenge und fragmentierte Regulierungen bremsen diese Entwicklung jedoch: Hersteller müssen unterschiedliche Systeme parallel entwickeln, was Kosten treibt und den technologischen Fortschritt verzögert.
Im Gespräch mit Jörg Grotendorst, Advisor Automotive Industry bei HTEC und erfahrener Experte aus der Automobilindustrie und Automatisierungstechnik, beleuchten wir, wie eine ausgewogene KI-Regulierung aussehen kann, welche Chancen KI in der Automobilproduktion bietet und wo Risiken drohen, wenn Innovationen zu stark gebremst werden.
Herr Grotendorst, welche Chancen und Risiken sehen Sie für den Einsatz von KI in der Automobilindustrie?
In der Automobilindustrie liegen die größten Chancen derzeit ganz klar im Bereich des autonomen Fahrens. Schon heute lassen sich Fahrerassistenzsysteme – also ADAS (Advanced Driver Assistance Systems) – mit Hilfe von KI weiterentwickeln. Über Video- und Echtzeitsimulationsumgebungen können diese Systeme trainiert werden. Dabei erhalten die Sensoren, z.B. Kameras, Radar und Lidar, künstlich generierte Informationen, wie sie im alltäglichen Straßenverkehr vorkommen. Allerdings sind solche künstlichen Szenarien nie so realitätsnah und vielfältig wie echte Verkehrssituationen.
Derzeit gilt meist noch der herkömmliche Entwicklungsprozess: Wenn ein Fahrzeughersteller ein neues ADAS-System auf den Markt bringt, braucht er dafür eine enorme Menge an Trainingsdaten aus realen Fahrkilometern. Man spricht durchaus von rund 2,5 Millionen gefahrenen Kilometern, die gesammelt werden müssen, um ein System freizugeben. Das dauert natürlich sehr lange und kostet mit all den Erprobungsträgern und Fahrern dafür sehr viel Geld. Für Start-ups, die zwar brillante Ideen und innovative Algorithmen entwickeln, aber diese riesigen Datenmengen auf der Straße erst aufbauen müssten, stellt das eine fast unüberwindbare Hürde dar.
Wie könnte man diese Hürde überwinden und welchen Rat würden Sie Unternehmen in dieser Situation geben?
Ich bin ein großer Befürworter von synthetischem Training, also der KI-basierten Generierung von Situationen, Videos und Umfelddaten. So kann das Auto virtuell fahren und seine Sensoren in einer sicheren Umgebung trainieren.
Dabei sollte man Testfelder einrichten, auf denen nicht sofort die maximal mögliche Risikoklasse gilt, sondern „Spielräume“ erlaubt sind, um Systeme gezielt zu trainieren. Das kann etwa bedeuten, bestimmte Areale freizugeben, in denen Fahrzeuge fahren dürfen, oder den Endkunden bewusst in den Prozess einzubeziehen: Der Fahrer weiß, dass das System nicht vollständig autonom ist, bleibt konzentriert am Steuer und ist jederzeit bereit einzugreifen – so wie es auch heute bereits einige Fahrzeughersteller machen.
Eine Möglichkeit wäre, durch die Festlegung auf bestimmte Gebiete auch die Infrastruktur mit einzubeziehen, damit die Fahrzeuge mit der Umgebung kommunizieren können.
Wenn Verkehrsfluss-Informationen an Kreuzungen vorliegen, könnte ein Auto zum Beispiel ‚um die Ecke schauen‘, denn es wüsste im Vorfeld, ob sich von der Seite andere Verkehrsteilnehmer nähern. Auf diese Weise wird das Risiko für den Endanwender zwar nicht auf Null reduziert, aber die Systeme lernen schneller und effizienter.
Virtuelles Fahren, reale Chancen
In welchen Bereichen der Automobilproduktion sehen Sie das größte Innovationspotenzial durch KI, wenn die Regulierung nicht bremst?
Im Auto selbst gibt es ein enormes Potenzial für KI-Anwendungen – nicht nur im Bereich ADAS, der ja die höchste Risikoklasse hat, sondern auch in Infotainment-Systemen. Schon einfache Anwendungen können den Fahrer erkennen und das Fahrzeug beim Einsteigen automatisch konfigurieren: Lieblingssender, bevorzugte Anzeigen auf dem Bildschirm oder Nachrichten werden bereitgestellt. Diese Anwendungen lassen sich relativ einfach und ohne großes Risiko realisieren.
Der nächste Schritt ist Algorithmen zu entwickeln, die es ermöglichen, dass das Auto die Stimme des Fahrers erkennt, sogar Stimmung oder gesundheitliche Anzeichen wie Husten oder eine Erkältung wahrnimmt. Hier stellen sich natürlich sofort Fragen zum Datenschutz: Darf ich diese sensiblen Informationen in die Cloud schicken – nach Deutschland, in die USA, nach China – und wie sind sie dort geschützt?
Darüber hinaus kann KI weitere Passagiere im Fahrzeug erkennen – Fahrer, Beifahrer, Kinder oder Haustiere – und überwachen, ob es im Auto zu warm wird oder Gesundheitsrisiken bestehen. Atembewegungen, Herzfrequenz, Pupillenstand oder Feuchtigkeit am Lenkrad lassen sich analysieren. In manchen Bereichen bietet das Auto sogar bessere Beobachtungsmöglichkeiten als ein Arzt, weil Fahrer und Beifahrer konstant in gleicher Position sitzen.
Abgesehen von passiven Systemen – also reiner Beobachtung – kommen aktive Eingriffe hinzu: Das Auto kann lenken, bremsen oder Gas geben. Hier ist das Risiko für Leib und Leben am größten, weshalb diese Anwendungen besonders reguliert werden müssen.
Im Produktionsbereich hingegen ist der Einsatz von KI zunächst wesentlich ungefährlicher, bietet aber enorme wirtschaftliche Potenziale. KI kann die Qualitätssicherung verbessern, etwa bei Ledersitzen, Schweißnähten oder Getrieben, indem sie Fehler erkennt, die ein Mensch möglicherweise übersieht.
Darüber hinaus lässt sich KI in der Logistik und Fertigung einsetzen: Automatisch fahrende Roboter können Gabelstapler ersetzen, Lagerbestände und Warenflüsse optimieren. Dadurch kann das Unternehmen Kapital effizienter nutzen, nur so viel Material und fertige Produkte bevorraten, wie tatsächlich benötigt werden. KI ermöglicht also einen homogenen Produktions- und Lieferprozess und steigert sowohl Effizienz als auch wirtschaftliches Potenzial – nicht nur für Autohersteller, sondern für die gesamte Fertigungsindustrie.
Ja, und dafür braucht man natürlich sehr viel Zeit, um alles angemessen zu reglementieren, oder?
Wir stehen hier noch sehr am Anfang, wenn man über Regulierung spricht. Bei einem Menschen braucht Training sehr viel Zeit, bei einem KI-System ist das ganz anders: Es kann rund um die Uhr mit Daten gefüttert werden, ohne Zuschläge für Wochenenden oder Nachtschichten.
Es gibt KI-Systeme, die mit einem menschlichen Trainer lernen: Ein Mensch bewertet direkt, ob ein Vorgehen richtig oder falsch war, teilt dies dem System mit und das KI-System passt sich daran an. Mittlerweile existieren auch selbstlernende Systeme, die nur Grenzen vorgegeben bekommen und dann selbständig erkennen: „Das war gut, das war nicht gut.“ Dieser Lernprozess läuft immer schneller ab.
Deshalb überrascht auch die Aussage des Microsoft-Chefs nicht, dass sich das Wissen der Menschheit und die Lernfähigkeit von KI in sehr kurzer Zeit – vielleicht schon in einem halben Jahr – verdoppeln können. Das passiert weit schneller als beispielsweise in der Computerchip-, also der Hardware-Industrie.
Ein besonders anschauliches Beispiel sehen wir bei humanoiden Robotern: Kürzlich gab es Videos aus China, in denen Roboter nicht nur Fußball gegeneinander spielen, sondern auch an Wettläufen teilnehmen. Wer sich noch an die ersten Versuche vor gar nicht all zu langer Zeit erinnert: Vor einigen Jahren kam der erste Roboterhund, der über Hindernisse springen oder Rampen hochklettern konnte. Heute bewegen sich die Roboter bereits sehr nahe an menschlicher Bewegungskontinuität – das ist wirklich beeindruckend.
Erfinden, verkaufen, regulieren
Inwiefern kann eine unterschiedliche KI-Regulierung Innovationen in der Automobilindustrie ausbremsen?
In den letzten Jahren hat sich eine Formulierung etabliert, die die Lage gut auf den Punkt bringt: Die Amerikaner erfinden es, die Chinesen verkaufen es und die Europäer regulieren es.
Grundsätzlich halte ich den europäischen AI Act für sehr gelungen. Er versucht, die möglichen Auswirkungen von KI-Systemen nach Schadensklassen zu bewerten und Risiken entsprechend zu begrenzen. Das ist sinnvoll und notwendig.
Das große Fragezeichen dabei: In Europa gibt es bisher kaum tiefgreifende KI-Anwendungen, in denen wir führend sind. Vergleicht man uns mit den USA, fällt auf: Dort gibt es zwar auch einzelne Regulierungen auf Ebene der Bundesstaaten, aber gleichzeitig eine starke Investitions- und Innovationsdynamik. Ein Beispiel: Donald Trump – sicher kein Präsident, dem ich politisch nahestehe – hat quasi gleich zu Beginn seiner Amtszeit die Chefs der großen Tech-Unternehmen an einen Tisch geholt und gefragt: Wie viel investiert ihr in unser Land, wie geht es voran? Das war ein klares Signal: Innovation nach vorne treiben.
In Deutschland und Europa hingegen neigen wir dazu, Gipfel und Programme zu Themen abzuhalten, die oft stärker die Vergangenheit als die Zukunft adressieren. Das sehe ich wirtschaftlich als Risiko.
Natürlich ist es wichtig, Regeln zu etablieren, um Missbrauch zu verhindern – etwa durch KI-gestützte Manipulation oder Anwendungen, die psychische Beeinträchtigungen hervorrufen können. Doch bevor wir regulieren, sollten wir mindestens auch eine Vorstellung davon entwickeln, welche positiven Potenziale KI eröffnet.
Ich vergleiche das gerne mit einem Portfolio-Gespräch zwischen einem Privatkunden und seinem Banker: Je höher die Risikobereitschaft, desto größer auch die Chancen. Genau so verhält es sich mit neuen Technologien und Märkten – und ganz besonders mit KI.
Global einheitliche KI-Regeln – Wunschtraum oder realistische Perspektive?
Wie realistisch ist aus Ihrer Sicht ein global einheitliches Regelwerk, angesichts einer stark globalisierten Welt mit geopolitischen Spannungen?
Das wird sicherlich ein enorm anstrengender Prozess. Auf der WAIC in China – der ersten weltweiten Artificial Intelligence Conference – gab es bereits Ansätze, wie man sich global koordinieren könnte. Die Frage ist: Muss wirklich die gesamte UNO alle Staaten einbeziehen, oder fängt man zunächst mit einem Kerngremium an, das Vorschläge erarbeitet? Vielleicht könnten die G7 einen ersten Rahmen aufstellen.
Im Moment sind es vor allem die wohlhabenderen Staaten, die die finanziellen Mittel haben, um in KI-Anwendungen und Forschung zu investieren. Andere Länder würden sicherlich gerne mitwirken, haben aber derzeit kaum Einfluss, da ihnen die Infrastruktur oder die Ressourcen fehlen.
Besteht dann das Risiko, dass deutsche Hersteller oder Start-ups mit innovativen Ideen abwandern und ihre Projekte in anderen Ländern weiterverfolgen, weil die Regulierung hier zu restriktiv ist?
Ja, das sehe ich ganz klar. De facto kommen heute alle größeren Unternehmen und Anwendungen im Bereich Künstliche Intelligenz aus den USA. Kürzlich hatten wir außerdem einen kleineren ChatGPT-Konkurrenten aus China, der eine zweite Anwendung vorgestellt hat, die angeblich deutlich weniger Rechenleistung benötigt als ChatGPT. In diesem Bereich wird sich in nächster Zeit sehr viel tun.
Ich sehe aber tatsächlich die Gefahr, dass das Entwicklungsumfeld in anderen Regionen für Menschen, die schnell Innovationen umsetzen und vorantreiben wollen, attraktiver ist als hier in der EU.
Was können Automobilhersteller konkret tun, um trotz fragmentierter Regulierung das Tempo in der KI-Entwicklung aufrechtzuerhalten?
Zum einen, wie ich bereits sagte, ist es wichtig, möglichst viele Testfelder zu schaffen. Ein Beispiel dafür ist Waymo in den USA – sie sind im autonomes Fahren schon relativ weit, weil sie in einem klar definierten Rahmen sehr viel praktische Erfahrung gesammelt haben.
Wenn man bereit ist, kleinere Flotten oder begrenzte Anwendungsgebiete zu realisieren, kann man daraus sehr schnell lernen. Man gewinnt enorme Mengen an Daten – auch solche Situationen, die vorher theoretisch nicht beschreibbar waren, etwa alltägliche oder zufällige Ereignisse, auf die das Fahrzeug reagieren muss.
VW versucht Ähnliches derzeit mit dem Projekt MOIA in einem kleinen Umfeld. Es wäre zudem sinnvoll, Testfelder in Großstädten einzurichten, wie man es zum Beispiel in China macht und diese mit Infrastruktur und Kommunikationstechnologien zu verknüpfen – etwa Car-to-Infrastructure- oder Car-to-Car-Communication, sodass Fahrzeuge mit Ampeln oder Sensoren an Kreuzungen interagieren können.
Für das Training von KI-Systemen sind enorme Datenmengen und vielfältige Trainingssituationen notwendig. Testfelder ermöglichen genau das: kontinuierliches Lernen und die Weiterverwendung der gewonnenen Daten. Wie bei Waymo in San Francisco oder in Shanghai, wo bestimmte Areale für autonomes Fahren freigegeben wurden, braucht man viele solcher kontrollierten Trainingsumgebungen, um die Algorithmen zuverlässig zu schulen.
Vom Autogipfel zum KI-Gipfel: Wo Deutschland den Fokus neu setzen muss
Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit mit großen Tech-Unternehmen wie Microsoft oder NVIDIA – und auch mit Start-ups – in diesem Kontext?
Aus meiner Sicht spielt die Zusammenarbeit mit großen Tech-Unternehmen momentan leider eine viel zu große Rolle – zumindest aus der Perspektive eines deutschen Ingenieurs. Deutsche Automobilhersteller müssen fast zwangsläufig mit ausländischen Unternehmen kooperieren, sei es mit Nvidia als Hardwarelieferant oder mit Microsoft, Google und anderen für Algorithmen.
Angesichts der geopolitischen Spannungen entsteht dadurch jedoch ein Risiko: Kommt es zu Handelseinschränkungen, könnten in einzelnen Regionen wichtige Zulieferer plötzlich nicht mehr verfügbar sein. Ein Beispiel: In den USA ist klar geregelt, dass bestimmte Halbleiter mit kritischen Funktionen nicht aus China importiert werden dürfen.
Das zwingt Hersteller, mehrere Varianten von Steuergeräten vorzuhalten – eine für China, wo Kunden sehr softwareaffin sind und Updates problemlos akzeptieren, und eine für Deutschland, wo die Infrastruktur oft begrenzter ist. In Deutschland funktioniert mancherorts selbst grundlegende Kommunikation nicht, geschweige denn hochkomplexe Fahrzeugkommunikation oder Softwareupdates.
Deshalb ist es so wichtig, eigene Trainingsareale in Deutschland zu definieren, mit guter Infrastruktur und verlässlichem Umfeld. Dort kann man Systeme schneller trainieren, reale Daten sammeln und gleichzeitig eigene Kompetenzen aufbauen, sodass man nicht ständig auf amerikanische oder chinesische Lösungen angewiesen ist.
Wenn Sie den Gesetzgebern nur einen einzigen Ratschlag geben dürften, welcher wäre das?
Mein Ratschlag wäre: Holen Sie die relevanten Unternehmen für innovativste Software- und KI an einen Tisch und nicht nur die großen, sondern auch die kleinen, mutigen Start-ups. Wir brauchen keine Stahl- oder Autogipfel, keine Kohle- oder Eisengipfel – wir brauchen KI-Gipfel und eine Ausrichtung nach vorne.
In Deutschland schauen wir viel zu sehr zurück. Die öffentliche Diskussion dreht sich zunehmend um Geldverteilung, Bürgergeld und ähnliche Themen. Dabei stellt sich die Frage: Wer soll das finanzieren, und woher soll das Geld kommen? Viel wichtiger wäre es, Spitzenforschung und Eliteförderung zu unterstützen, nicht durch höhere, sondern durch niedrigere Steuerlasten. Wir müssen attraktive Rahmenbedingungen schaffen, damit Top-Talente und Hightech-Unternehmen nach Deutschland kommen.
Momentan sehe ich da eine Chance: Während in den USA gerade Eliteförderung und Universitäten stark beschnitten werden, könnte Deutschland eine attraktive Alternative sein. Natürlich spielen Faktoren wie Energiekosten und Lohnniveau eine Rolle, aber die Kernbotschaft bleibt: Wir brauchen Zukunftsgipfel, die sich mit innovativen neuen Technologien, neuen Chancen für den Standort Deutschland beschäftigen – nicht mit alten Industrien und Besitzstandswahrung. Das hat schon bei Fernseher und Telefonen nicht funktioniert.
Ein solcher Gipfel sollte die führenden Köpfe aus Wirtschaft und Industrie zusammenbringen, sie anhören, ihre Bedürfnisse verstehen und daraus einen Konsens für den Weg nach vorne entwickeln.
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