Geheime Macht der Bionik: Was wir wirklich von der Natur lernen können
Die Natur hat uns eine Menge voraus: Abermillionen Jahre Evolution haben einen gewaltigen Fundus an Ideen hervorgebracht, aus dem sich vieles ableiten lässt. Genau das macht die Bionik – ein Überblick.
Die Bionik – aus der Beobachtung der Natur entstehen technische Innovationen: Vom Vogelflug zum Flugzeug, vom Klettverschluss bis zum leisen Hochgeschwindigkeitszug.
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Hinter dem Kofferwort aus „Biologie“ und „Technik“ verbirgt sich eine wissenschaftliche Disziplin, die technische Innovationen über die systematische Beobachtung der Natur entwickelt.
Inhaltsverzeichnis
Dabei handelt es sich bei der Bionik um ein vergleichsweise junges Forschungsfeld. Der zentrale Gedanke, funktionierende Prinzipien aus der Biologie auf die Technik zu übertragen, ist hingegen alt: Rund 450 Jahre bevor die Bionik ihren Namen bekam, beschäftigte sich ein gewisser Leonardo da Vinci intensiv mit dem Vogelflug – in den Zeichnungen seines Ornithopters schwingt weit mehr als nur der Traum vom Fliegen mit. Weswegen der Universalgelehrte heute als Vater der Bionik gilt.
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Vorsicht im englischsprachigen Raum: Wer im Internet nach „bionics“ sucht, stößt vielfach auf medizintechnische Anwendungen wie nervenangeschlossene Prothesen, Exoskelette oder 3D-gedruckte Organe. Nach hiesigem Fachverständnis fallen diese nicht unter das Label der „Bionik“, da sie keinen Transfer biologischer Prinzipien darstellen, sondern Körperfunktionen direkt ersetzen. Um Missverständnisse zu vermeiden, verwendet man im bionischen Sinne die englischen Begriffe „biomimetics“ oder „biomimicry“.
Eine besonders alltagstaugliche Erfindung nach natürlichem Vorbild stammt von George de Mestral. Sobald die Wolkendecke aufreißt, heißt es in den allermeisten Kindergärten: Schuhe an und ab nach draußen. Dank Klettverschlusses ist das ohne langes Schleifenbinden möglich. Eine Textil-Revolution mit nervenschonender Wirkung, die Generationen von Erzieherinnen und Erziehern dem Schweizer Ingenieur zu verdanken haben. Auf die Idee soll de Mestral 1941 nach einem Spaziergang gekommen sein. Nachdem er seinen Hunden die Früchte der Klette aus dem Fell gezupft hatte, schaute er sich deren Haftprinzip unter dem Mikroskop genauer an.
Biology Push & Technology Pull
Flugzeuge und Klettverschluss sind historische Beispiele für bionische Produktentwicklungen, die aus einer direkten Naturbeobachtung hervorgingen. Diese adaptive Methode bezeichnen Fachleute als „Biology Push“. Der entgegengesetzte Weg heißt „Technology Pull“: Hier steht zu Beginn ein technologisches Problem –Ansporn für Forschende, gezielt nach natürlichen Lösungen zu fahnden.
So etwa ging auch Eiji Nakatsu vor. Als Chefingenieur war er beauftragt, den japanischen Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen weiterzuentwickeln. Besonders der Tunnelknall ließ ihm keine Ruhe – handelt es sich doch um ein aerodynamisches Phänomen, bei dem sich die vor dem Zug aufgestaute Luft beim Einfahren in einen Tunnel in einer Druckwelle und mit ihr in einem Krach entlädt.
Wie einst Leonardo da Vinci ließ sich Nakatsu von der Vogelwelt inspirieren, genauer gesagt vom Eisvogel. Dieser gefiederte Jäger stößt im Sturzflug ins Wasser, um kleine Fische und andere Wassertiere zu fangen. Dank seines stromlinienförmigen Schnabels taucht er nahezu widerstandslos ein. Nach diesem Vorbild erhielt der „Bullet Train“ seinen markanten Bug – und Japans Fernverkehrs eine deutliche Lärmreduktion
Die Bionik ist eine echte Querschnittsdisziplin, die viele Anwendungen kennt. Die folgende Übersicht hat daher nur beispielhaften Charakter, und die Übergänge verlaufen fließend.
Konstruktions- & Strukturbionik
Dieser Bereich umfasst bionische Ansätze, bei denen Formgebung, innere Strukturen oder mechanische Prinzipien aus der Natur auf technische Konstruktionen übertragen werden. Gefragt sind Geometrien, die an spezifische Belastungen angepasst sind und gleichzeitig Produkte effizienter und materialschonender machen. Gerade biologische Baupläne folgen oft dem Motto: „So viel wie nötig und so wenig wie möglich“.
Beispiele sind stromgünstige Designs – wie im Fall des Highspeed-Zuges mit „Eisvogelschnabel“. Waben- und Knochenstrukturen setzen nicht nur optische Akzente in der Architektur, sondern tragen auch maßgeblich zur Statik bei. Ein prominentes Beispiel ist der Pariser Eiffelturm. Seine Struktur ähnelt dem inneren Aufbau eines Knochens mit seinen feinen Bälkchen und Hohlräumen.
Schnittstellen gibt es zum Leichtbau, aber auch zur Robotik – Roboter und Drohnen müssen leicht und flexibel sein. Forschende des Max-Planck-Instituts haben jüngst das bionische Potenzial einer seltenen Flughörnchenart untersucht: Das Afrikanische Dornschwanzhörnchen setzt seinen geschuppten Schwanz geschickt ein, um sich auf glatter Rinde im Regenwald fortzubewegen. Diese Wendigkeit könnte künftig Rettungsrobotern helfen, sich durch Trümmerlandschaften zu manövrieren, etwa bei der Suche nach Vermissten nach einer Katastrophe. Anpassungsfähig sind auch Soft Robotics in Anlehnung an Kraken und anderem Weichgetier.
Bionische Oberflächen
Hier sind funktionale Oberflächen und Texturen mit besonderen physikalischen Eigenschaften gefragt. Der Gecko ist dabei so etwas wie das Maskottchen dieser Disziplin: Millionen winziger Härchen an seinen Füßen, die Van-der-Waals-Kräfte nutzen (zum Teil unterstützt durch elektrostatische Effekte), ermöglichen es ihm, ohne Klebstoff an Wänden zu haften – ein Prinzip, das bereits mehrere kommerzielle Anwendungen inspiriert hat.
Etabliert sind Beschichtungen mit selbstreinigendem Lotus-Effekt, wie ihn einige Pflanzen vormachen. Die mikroskopisch gerillte Haifischhaut ist optimal an Strömungen angepasst und verringert so Turbulenzen. Technologische Riblets übertragen dieses Prinzip auf die Rotoren von Windrädern und Flugzeugflügel, um die Effizienz zu steigern und Treibstoff zu sparen.
Der Tintenfisch wiederum kann Struktur und Farbe seiner Haut blitzschnell verändern. Forschende untersuchen die zugrunde liegenden Zellstrukturen, um diese Fähigkeit vielleicht eines Tages in der Konsum- oder Militärtechnik für Tarnfunktionen nutzbar zu machen.
Material- und Werkstoffbionik
Mutter Natur ist nicht nur eine Meisterin für Formen und Strukturen, sondern auch reiche Quelle für Stoffe, die Fortschritte in vielen Bereichen beflügeln könnten – vorausgesetzt, sie lassen sich im großen Maßstab synthetisieren und nutzbar machen.
Ihre außergewöhnliche Reißfestigkeit und Elastizität machen Spinnfäden zu einem bionischen Dauerbrenner, der seit Jahrzehnten Forschungsprojekte befeuert. In jüngeren Experimenten wurde ihre stabile Proteinstruktur mit leitfähigen Komponenten kombiniert, um flexible Bioelektronik zu entwickeln.
Gelee-Batterien, inspiriert vom Zitteraal, erzeugen Strom aus ionischen Prozessen in weichen Strukturen – ein Ansatz, der langfristig auch implantierbare Medizintechnik ermöglichen könnte. Ein neuartiger Bio-Klebstoff, der Eigenschaften von Muschelfäden und Schleim vereint, haftet selbst auf nassem Gewebe und könnte in der Chirurgie Nähte oder Klammern ersetzen. Besonderes Interesse wecken – nicht nur in diesem Zusammenhang – biologische Mechanismen der Selbstheilung.
Sensor- und Neurobionik
Sehen, Hören und Fühlen wie die Natur: In der Sensorbionik geht es um technische Systeme, die sich an der Funktionsweise biologischer Sinne orientieren. Kameras mit Katzenaugen, „Schnurrharr“-Sensorik nach dem Vorbild der Vibrissen von Säugern, oder „fischige“ Seitenlinien-Sensoren für unbemannte U-Boote sind Beispiele für Lösungen, die biologische Prinzipien für spezialisierte Wahrnehmungsaufgaben nutzen.
Die „wahrgenommenen“ Daten müssen in der Regel interpretiert werden – hier finden Anknüpfung zur KI-Entwicklung. Es mag verlockend erscheinen, Künstliche Intelligenz generell als bionisch inspiriert zu betrachten, und gerade international wird dieser Aspekt hin und wieder betont.
Im engeren Verständnis ist KI dann bionisch, wenn erkennbar Prinzipien aus der Biologie zugrunde liegen: etwa Algorithmen, die die Schwarmintelligenz von Vögeln oder Insekten imitieren, oder Spiking Neural Networks, die sich funktional an echten Neuronen orientieren. Das neuromorphe Computing etwa arbeitet daran, ein Rechenparadigma zu etablieren, das näher am Vorbild Gehirn liegt.
Veranstaltungstipp
Wer sich dafür interessiert, wie biologische Strukturen, Mechanismen und Prozesse in die Technik übertragen werden, lernt im VDI-Crashkurs „Bionik für Ingenieure“ Methoden und Anregungen kennen. Der nächste Termin findet am 16./17. Oktober in Leverkusen statt.
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