Heiko Mell 05.05.2023, 11:05 Uhr

Zeugnis: Warum es keine genormten Formulierungen gibt

Arbeitszeugnisse sind ein wichtiges Instrument zur Beurteilung von Arbeitnehmern und können über deren berufliche Zukunft entscheiden. Doch wie aussagekräftig sind sie wirklich? Hierzu nimmt der renommierte Karriereexperte Heiko Mell Stellung.

Eine gute Beurteilung im Arbeitszeugnis kann Türen öffnen, eine schlechte - schnell zum Karrierekiller werden. Foto: PantherMedia / Gajus-Images

Eine gute Beurteilung im Arbeitszeugnis kann Türen öffnen, eine schlechte - schnell zum Karrierekiller werden.

Foto: PantherMedia / Gajus-Images

3.218. Frage:
(In „Notizen aus der Praxis“ Nr. 545 hatte ich aus meiner Sicht begründet, warum es für diese Dokumente eigentlich keine „genormten“, also allgemeinverbindlichen Formulierungen geben kann; H. Mell):

Ich bedanke mich erneut für die sehr schönen Beiträge in der Ausgabe Nr. 5. Es macht mir immer sehr viel Spaß, Ihre treffenden Analysen zu lesen. Insbesondere da Sie mir in diesem Rahmen auch schon vor Jahren sehr gute Ratschläge gegeben haben.

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Zum Beitrag „Zeugnis“: Ich freue mich seit sehr vielen Jahren darüber, dass die XY AG und die davon abgespaltene YZ AG ein Zeugnistool entwickelt haben, bei dem ich als Führungskraft nur „Schulnoten“ je Bewertungskriterium (von Fachexpertise bis Grußformel und Wünsche für die Zukunft) eintragen muss. Anschließend kann ich aus jeweils zwei bis drei Textvorschlägen wählen.

Nur die Aufgabenbeschreibung des Mitarbeiters kann ich frei formulieren bzw. ergänzen. Anschließend wird daraus bei HR ein Zeugnisentwurf erstellt, den ich zur Freigabe erhalte.

Das macht es für mich als den Vorgesetzten sehr viel einfacher.
Ich hoffe, dass ich noch viele Jahre (oder Jahrzehnte) Ihre treffsicheren und mit Humor gewürzten Analysen lesen darf. Bleiben Sie fit und gesund!

Wie optimiert man den Zeugniserstellungsprozess?

Antwort:
Schade, dass Sie nicht sehen können, wie sehr ich mich über Ihre Zuschrift freue – ich bin geradezu begeistert. Das bezieht sich keineswegs etwa nur auf die weiteren „Jahrzehnte“ ungetrübter Schaffenskraft, die Sie mir zutrauen. Diese Hoffnung ehrt mich zwar – aber seien Sie, liebe Leser, die Sie vielleicht nicht immer die Begeisterung unseres Einsenders teilen, ganz beruhigt: Weitere Jahrzehnte von „Mell sagt, wie es ist“ drohen hier aus ganz pragmatischen Gründen eher nicht. Warten wir es ab, es liegt schließlich nur bedingt in meiner Hand.

Meine Begeisterung beruht vor allem auf der geschilderten Lösung eines Teiles des Zeugnisproblems. Ich finde das praktizierte Verfahren perfekt!
Man muss allerdings auch die Einschränkungen sehen: Die beiden (von mir anonymisiert dargestellten) Unternehmen haben nahezu alles getan, was im Rahmen der Vorschriften und Gepflogenheiten möglich war, um den Prozess „Das Unternehmen stellt ein Zeugnis aus“ zu optimieren. Der gefundene Weg ist in nahezu idealer Weise auf die Belange des beurteilenden Vorgesetzten ausgerichtet und damit gut für den Arbeitgeber, er erleichtert die Diskussion mit den beurteilten Mitarbeitern und es führt, wenn die den einzelnen Schulnoten zugeordneten Textbausteine gekonnt formuliert sind, zu Arbeitszeugnissen, mit denen sich diese Gesellschaften auf dem Arbeitsmarkt sehen lassen können.

Aber: Es ist die typische „egoistische“, nur auf die Belange dieses einen Unternehmens ausgerichtete Lösung. Man hat damit „unser Problem“ in den Griff bekommen – nicht etwa das von mir im oben genannten Beitrag angesprochene Zentralproblem einer deutschlandweit einheitlichen „genormten“ Zeugnissprache. Das kann man diesen beiden (und vermutlich anderen, ähnlich vorgehenden) Unternehmen keinesfalls vorwerfen, sie handeln absolut regelgerecht, indem sie sich auf ihre Belange konzentrieren.

Denn abgesehen von der hiermit sauber abgearbeiteten Aufgabe „Wir optimieren unseren Zeugniserstellungsprozess“ bleiben dabei drei Schwachstellen übrig:

  1. Die beiden Unternehmen erstellen nun für ihre ausscheidenden Mitarbeiter geradezu vorbildlich durchdachte Arbeitszeugnisse. Aber z. B. bei der Analyse bzw. Bewertung eingehender Bewerbungen hilft ihnen das absolut nicht. Denn die anderen Teilnehmer am Arbeitsmarkt haben andere Systeme mit anderen Formulierungen oder gar keine (Systeme).Im Gegenteil: Es ist sogar denkbar, dass die HR-Mitarbeiter dieser beiden Unternehmen durch die Verwendung dieser intern gebrauchten, sauber durchdachten und sorgfältig abgestimmten Standardformulierungen einseitig vorgeprägt sind – und ähnlich formulierte, aber anders gemeinte „sprachliche Ergüsse“ anderer Vorgesetzter in anderen Unternehmen falsch interpretieren. Weil sie, verankert im hauseigenen Zeugniserstellungsprozess, es gar nicht mehr gewohnt sind, komplizierte bewertende Zusammenhänge in ausgetüftelte Formulierungen umzusetzen – oder, anders herum, entsprechend „raffiniert“ durchdachte Formulierungen richtig zu interpretieren.Beispiel: Gerade kam mir ein Zeugnis auf den Tisch, in dem im Schlusssatz die „private“ vor der „beruflichen“ Zukunft erwähnt wurde. Etwas knurrend bestätigte der betroffene Mitarbeiter meinen Verdacht: Ja, es könne sein, dass „da etwas gewesen“ wäre mit Belastungen aus dem privaten Bereich. Solche Hinweise sieht ein allzu durchdachtes hauseigenes System vorsichtshalber gar nicht mehr vor, da fehlt dann auch bei der Interpretation fremder Zeugnisse die Übung.
  2.  Bei der Formulierung von Arbeitszeugnissen durch völlig andere Unternehmen und bei der Interpretation solcher Dokumente durch wiederum völlig andere Unternehmen hilft das tolle System der zwei einzelnen Firmen leider überhaupt nicht. Es ist, wenn man so will, eine betriebswirtschaftliche Einzel-, keine volkswirtschaftlich weiterhelfende Lösung (was ja auch dem Auftrag des einzelnen Unternehmens entspricht).
  3. Die beiden von unserem Einsender benannten Unternehmen haben, das unterstelle ich gern, ein vorbildliches System zur aktiven Zeugniserstellung erarbeitet. Aber sie können keinesfalls sicher sein, dass die vielleicht sogar perfekt gestalteten Formulierungen auch von jedem Bewerbungen empfangenden Unternehmen irgendwo in der Provinz im Sinne des ursprünglich beurteilenden Vorgesetzten „richtig“ interpretiert werden. Wobei gerade in vielen mittelständischen Firmen gar keine systematisch geschulten HR-Leute vorhanden sind, so dass die Bewerbungs- (und Zeugnis-) Analyse den Praktikern aus dem Kreis der betrieblichen Vorgesetzten obliegt. Was mal so und mal so ausgehen kann.

Das alles ändert nichts daran, dass Ihr hier kurz vorgestelltes Zeugniserstellungs-System einen Teil des Gesamtproblems sehr überzeugend löst. Aber bei meiner Kernaussage in den Notizen Nr. 545, dass einheitliche, von allen verwendete und von allen richtig interpretierte Zeugnisformulierungen nicht vorhanden und nach Lage der Dinge auch nicht möglich sind, bleibe ich weiterhin.

Heiko Mell

Karriereberater Heiko Mell.

Vom Homeoffice aus führen?

3.219. Frage:

In der Antwort auf eine Frage schreiben Sie: „Als Tipp für Chefs: Eine anspruchsvolle Mannschaft vom Homeoffice aus zu führen, kann als Übergangslösung akzeptabel sein, hat aber größere Nachteile, wenn es eine Dauerlösung sein soll.“

Hier würde mich interessieren, welche größeren Nachteile Sie in einer entsprechenden Dauerlösung sehen.

Antwort:
Das ist eine Frage, die im Zusammenhang mit der aktuellen Entwicklung innerhalb der Arbeitswelt zunehmende Bedeutung bekommt, gehen wir das Thema also systematisch an.

Was ist Führung? Meine Brockhaus-Enzyklopädie sagt in Band 8: „Allgemein die planende, leitende, koordinierende und kontrollierende Tätigkeit von übergeordneten oder überlegenen Mitgliedern in einer Gruppe, einer Organisation oder in einem größeren Kollektiv gegenüber untergeordneten, unterlegenen Mitgliedern.“

Nachdem man das einigermaßen verarbeitet hat, nimmt man noch eine wichtige Ergänzung zur Kenntnis: „Führungserfolge einer Person hängen von den spezifischen Wertorientierungen, Zielen und Aufgaben sowie von der Struktur und der soziokulturellen Umwelt des zu führenden sozialen Gebildes ab.“ Dann folgen längere Ausführungen zu den verschiedenen Führungsstilen, vom autoritären bis zum demokratischen.

Wir alle wissen, dass die real existierende Führung in unseren Unternehmen durch – sagen wir einmal – eine sehr große Bandbreite unterschiedlicher Erscheinungsformen geprägt ist. Es gibt Unternehmen, die eine bestimmte Art von Führung vorgeben und ihre Führungskräfte auch entsprechend schulen – und es gibt Unternehmen, die ohne Systematik in dieser Frage auskommen. Dort prägen dominierende Persönlichkeiten an der Spitze der ganzen Organisation oder einzelner Bereiche die entsprechende Praxis. Dann gibt es begabte und unbegabte Führungskräfte sowie schwer und einfach zu führende Mitarbeiter.

Schließlich existieren noch höchst unterschiedliche Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Führung stattfinden muss: Die Aufbauphase eines Start-ups stellt andere Anforderungen als die Übernahme eines privaten Mittelständlers durch einen amerikanischen Konzern, beispielsweise. Das alles führt zu hohen Ansprüchen an den Komplex „Führung“, da sind wir uns sicher einig.

Die Erfahrung lehrt, dass diese hohen, vielfältigen und je nach Rahmenbedingungen auch noch wechselnden Anforderungen an eine effiziente Führung besonders gut zu erfüllen sind, wenn Führungskräfte und Geführte in engerem persönlichen Kontakt zueinander stehen, sich also nicht nur sehr gut kennen und einschätzen können, sondern auch im Rahmen des Möglichen für ein Gespräch oder eine schnelle Antwort auf fachliche Fragen zur Verfügung stehen, ständig Eindrücke voneinander gewinnen, aufkommende Probleme sofort erkennen und einer Lösung zuführen können.
Schließlich muss die Führungskraft gegenüber ihren Mitarbeitern auch noch die dem Arbeitgeber obliegende Fürsorgepflicht wahrnehmen, auch das geht im persönlichen Kontakt besser als am Bildschirm.

In all diesen Bereichen sind Telefon, E-Mail- oder Video-Kontakt durchaus brauchbare, bewährte Hilfsmittel. Aber alles, was lt. obiger Definition gefordert wird, geht bei ständigem persönlichen Kontakt immer noch etwas besser. Und wir streben doch ständig nach Optimierung.
Genau darum ging es mir. Ich habe nicht gesagt, Führen vom Homeoffice aus funktioniere schlicht nicht, ich sehe einfach größere Nachteile gegenüber der klassischen persönlichen Zusammenarbeit, wenn es um eine Dauerlösung geht.

Und ich glaube, dass sich die möglichen Probleme addieren: Wenn schon wesentliche Teile der zu führenden Mitarbeiter im Homeoffice arbeiten, dann wird effiziente, auf Leistungsmaximierung ausgerichtete Führung keinesfalls einfacher, wenn auch der Chef noch „von zuhause aus“ arbeitet.
Hinzu kommt noch ein wichtiger Aspekt: Die Führungskraft hat einen bestimmen hierarchischen Status erreicht, den sie entweder weiter verbessern will (Aufstieg) oder zumindest halten muss. Und dabei gilt: Wer ehrgeizig ist, „weiter oben“ mitspielen, durch Leistung und/oder Persönlichkeit „glänzen“ will, sollte möglichst bei den Entscheidungsträgern über ihm präsent sein, in deren Bewusstsein eine Rolle spielen und zwar so permanent wie irgend vertretbar. Auch dabei ist der ständige persönliche Kontakt der rein elektronischen Kontakthaltung überlegen.

Man könnte durchaus ganze Unternehmensbereiche (keineswegs etwa alle, gerade in der Technik nicht) vom Mitarbeiter bis zur höheren Führungskraft zwangsweise ins Homeoffice schicken. Wenn man dafür eindeutige Regelwerke erarbeitet, ist eine solche Führung durchaus denkbar. Ich behaupte nur: Solange es Menschen sind, die Menschen führen, also motivieren, steuern, kontrollieren, bewerten, fördern und sich bei ihnen auch in schwierigen Situationen durchsetzen sollen, ist das enge persönliche Miteinander von Führenden und Geführten einfach die „noch bessere“ Lösung.

Welche Wörter gehen in einem Zeugnis in die falsche Richtung?

548: Die Sache mit dem „kollektiven Führungsstil“

In meinen zahlreichen Gutachten zu Zeugnissen und Zeugnisentwürfen warne ich immer wieder vor der gerade bei unteren Führungskräften so beliebten Formulierung: „Er praktizierte einen kollektiven Führungsstil.“ Ich weise dort darauf hin, dass manche Bewerbungsempfänger das keineswegs als Empfehlung sehen würden.

Zufällig stoße ich in der Brockhaus-Enzyklopädie unter „Führungsstil“ auf folgende Definition: „Beim kollektiven Führungsstil wird die Unterscheidung zwischen Führer und Geführten aufgehoben. Entscheidungen werden nur gemeinsam gefällt.“

Es heißt dort auch: „Die wachsende Komplexität der modernen Gesellschaft erfordert zunehmend einen demokratischen, kooperativen, partizipatorischen und mitarbeiterorientierten Führungsstil.“ Davon ist in Arbeitgeberzeugnissen das Wort „demokratischen“ absolut nicht üblich, „partizipatorischen“ und sogar „mitarbeiterorientierten“ sind ebenfalls ungebräuchlich. Nun, es heißt dort ja nicht „es ist“, sondern „… erfordert zunehmend einen …“ – wer fordert, sagt, noch sei es nicht an dem.

„Kooperativ“ taucht in Zeugnissen öfter auf. Allerdings sagt der Brockhaus dazu: „… der eine Mitbestimmung und Mitentscheidung der Geführten bedeutet.“ Auf das Wort „Mitbestimmung“ reagieren manche Entscheidungsträger auf Arbeitgeberseite allerdings ein wenig allergisch – und statt „mitentscheiden“ würden sie sich lieber „in die Entscheidung einbeziehen“ wünschen.

Auch „mitarbeiterorientiert“ geht für viele Bewerbungsempfänger total in die falsche Richtung. Die Führungskraft soll ihr vorgegebene Ziele durch optimalen Einsatz ihrer Mitarbeiter erreichen – und sich im Zweifel doch eher nach „oben“ als nach „unten“ orientieren. Die Führungskraft vertritt den Arbeitgeber, sie ist kein Mini-Betriebsrat, der „oben“ die Interessen „derer da unten“ zu vertreten hat (wohl mitunter auch, aber nicht etwa vorrangig).

Also vermeiden Sie „kollektiv“ und gehen Sie mit „kooperativ“ vorsichtig um.

Ein Beitrag von:

  • Heiko Mell

    Heiko Mell ist Karriereberater, Buchautor und freier Mitarbeiter der VDI nachrichten. Er verantwortet die Serie Karriereberatung innerhalb der VDI nachrichten.  Hier auf ingenieur.de haben wir ihm eine eigene Kategorie gewidmet.

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