Heiko Mell 02.01.2016, 12:40 Uhr

Alles läuft gut im Beruf, aber ich bin unglücklich

Frage/1: Ich war ein angepasster Musterschüler. Nach dem Abitur mit 1,4 wollte ich eigentlich Physik studieren, da mir der Physik-Leistungskurs wahnsinnig gut gefallen hat. Die Art in diesem Kurs, Probleme zu analysieren und hundertprozentig zu verstehen, habe ich als herausfordernd, aber auch sehr befriedigend empfunden.

Nach dem Zivildienst habe ich mich dann doch für das Maschinenbaustudium entschieden, da die meisten spannenden technischen Entwicklungen nun mal nicht von Physikern, sondern von Ingenieuren realisiert werden.

Frage/2: Für mich waren die Klausuren im Maschinenbaustudium eine Herausforderung. Mein Anspruch war, den Stoff total zu beherrschen, ihn zu leben und zu atmen, d. h. ein echtes, tiefes Verständnis der zugrundeliegenden Prinzipien zu erhalten. Wenn man das tut, ist das Bestehen der Klausuren keine Schwierigkeit mehr.

Ich war meist derjenige, der Spaß dabei hatte, Freunden die Aufgaben zu erklären und habe im Gegensatz zu so manchen Kommilitonen in den allermeisten Klausuren „auf Verständnis“ gelernt – in der Hoffnung, das Gelernte irgendwann anwenden zu können.

Frage/3: Während meines Hauptpraktikums in einem großen Konzern habe ich mich, wenn ich ehrlich bin, meist gelangweilt. Technisches Verständnis war so gut wie gar nicht gefragt, Arbeitsinhalt war vor allem Kommunikation mit anderen Abteilungen zur Klärung technischer und organisatorischer Sachverhalte zur Sicherstellung und Verbesserung der Produktion. Die Bewertung meiner Arbeitsleistung (ich habe starke Bedenken gegen diesen Begriff, aber man sieht immerhin, was gemeint war; H. Mell) durch meinen Chef während der Praktikumszeit war völlig in Ordnung, aber eben auch nicht herausragend. Das Angebot, dort meine Diplom­arbeit zu schreiben, habe ich abgelehnt.

Frage/4: Mittlerweile hatte ich erkannt, dass mein soziales Verhalten wohl am ehesten in Richtung „shizoide Persönlichkeit“ geht (wenn auch nicht voll ausgeprägt). Das bedeutet, dass ich einfach nicht mit Menschen „kann“. Andauernd kommunizieren zu müssen ist für mich ein Graus, dafür fehlt mir das Feingefühl. Wenn es bei Gesprächen dagegen um technische oder analytische Dinge geht, die mich begeistern, kann ich mich völlig fokussieren und vergesse alles um mich herum. Einzelne technische Gedanken können mich völlig absorbieren und über Jahre hinweg in ihren Bann ziehen.

Frage/5: Nach dem Studium hatte ich mich bei meiner Traumfirma beworben, das Vorstellungsgespräch dort jedoch glatt versemmelt. Danach hatte ich keinen richtigen Plan mehr und bin bei einem Dienstleister (Werksvertrag mit einem großen Konzern) gelandet. Das erste Projekt habe ich erfolgreich abgeschlossen, jetzt bin ich in meinem zweiten Projekt und Leiter eines kleinen Teams von Beratern.

Nun fühle ich allerdings wieder exakt dasselbe wie damals im Praktikum: Tiefgehendes Verständnis ist kaum gefragt, alles dreht sich um Kommunikation und Schreiben von Berichten. Unser Kunde (der Konzern) ist zufrieden, mein Chef beim Dienstleister ist sehr zufrieden, das Verhältnis zu Kollegen ist gut, das Arbeitsklima ist gut – die meiste Zeit über ist das ein recht entspannter Job. Ich weiß allerdings, dass ich hier falsch bin.

Meinem Chef habe ich schon mehrmals (dezent) gesagt, dass ich herausragende Arbeit leisten will und dazu eine technische Aufgabe brauche. Etwas, auf das ich mich fokussieren kann. Dennoch verbringe ich einen Großteil der Zeit mit Berichten. Obwohl ich von den Noten her einer der Besten im Studium war (?; siehe Antwort/2; H. Mell) liegt mein Gehalt deutlich unter dem meiner Kommilitonen. Geld ist nicht meine Priorität, dies ist nur ein weiterer Indikator dafür, dass ich meinem Potenzial nicht gerecht werde. Meine Gesamtsituation sehe ich dennoch als befriedigend an. Was ich suche, ist ein Weg, um einen Job entsprechend meiner Neigungen zu finden. Dieser Weg muss mir auch genug Stabilität und Sicherheit bieten.

Antwort:

Antwort/1: Ich springe jetzt ein wenig nach vorn, glaube aber, dass in dieser Studienentscheidung eine der zentralen Ursachen Ihrer späteren Probleme liegt. Sie hätten vielleicht doch besser Physik studiert. Sie hatten eine Leidenschaft für dieses Fach, haben sich aber aus Vernunftgründen dagegen entschieden. Es gibt Menschen, die können mit „im Kopf“ und gegen das Bauchgefühl getroffenen Entscheidungen leben, andere quälen sich wegen der verpassten Gelegenheit lebenslang herum, ich zähle Sie zu dieser Gruppe.

Antwort/2:Ihre Schilderung setzt sich dann ebenso zum Thema Hauptstudium fort, ich musste zwangsläufig kürzen. Aber ich bin enttäuscht! Da ist der Mann mit dem Abitur 1,4 –vom Typ her „verhinderter Physiker“ – der alles, was er hat, in ein Maschinenbaustudium hineinlegt und dabei ein Verhalten zeigt, das jeder Professor als leuchtendes Beispiel studentischen Idealverhaltens bezeichnen könnte. Und was kommt dabei heraus: ein „Gut“, keine Promotion. Da habe ich auch aus dem Maschinenbaustudium an jener Universität schon deutlich bessere Resultate gesehen (von Leuten, die mit deutlich weniger leuchtenden Worten auf ihren besonderen eigenen Arbeitsstil hingewiesen hatten).

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Lassen Sie sich dieses Resultat als Warnung dienen: Im Studium und ganz besonders später im Beruf geht es nicht vorrangig darum, eigene Vorstellungen über das optimale Vorgehen als zentralen Maßstab zu nehmen. Zu empfehlen ist das ergebnisoptimierte Handeln: Erst entscheidet der Professor, später der Chef, wie „gut“ Sie wirklich sind oder vorgehen. Sie können es auch anders anlegen – aber dann holen Sie sich immer wieder Probleme ins Haus.

Antwort/3:Ein Praktikum ist ein zeitlich befristeter Kennenlerneinsatz von Studenten bei Institutionen, die als spätere Arbeitgeber in Frage kommen. Es gilt als große Chance, die dem Studenten gewährt wird. Und die vermasselt man nicht.Oh, Sie dürfen sich dabei langweilen, Sie dürfen sich „auf dem falschen Dampfer“ fühlen, Sie dürfen die Leutchen in diesem Konzern mit etwa 100.000 Mitarbeitern für merkwürdige Typen halten, die ihren Laden völlig falsch organisieren und angehende Ingenieure in drittklassigen Aufgaben verheizen. Aber: Die maßgeblichen Menschen dort dürfen das nicht merken! „Max Müller war hier – und er hat erstklassige Arbeit abgeliefert und einen hervorragenden Eindruck hinterlassen“ – das allein muss Ihre Devise sein. Und dann kassieren Sie eine erstklassige Bewertung; danach beschließen Sie, in diesen Saftladen nie wieder einen Fuß zu setzen – und eine Tätigkeit wie die Ihnen zugemutete nie beruflich aus­üben zu wollen. Gerade bei der befristeten Zeit, die solch ein Praktikum dauert, ist das machbar. Es passt übrigens nahtlos in die von mir empfohlene Berufs- und Lebensphilosophie „Wo immer mein Name darunter steht, wird erstklassige Arbeit geleistet“.

Ihre Freiheit besteht darin, sich Einsatzbereiche auszuwählen. Aber wenn Sie sich dann entscheiden, etwas anzunehmen, dann wird das mit höchstem Einsatz angegangen.

Übrigens hat man Ihnen dort die Ehre erwiesen, Sie direkt an Aufgaben mit „höherem Anspruch“ heranzulassen. Das ging bereits in Richtung „Managementfunktion“ – und so etwas wird höher gehandelt als das engagierte Tüfteln am Geheimnis einzelner Bauteile bis in die letzten Moleküle hinein.

Unternehmen, vergessen wir das nicht, sind vorrangig dazu da, durch effizientes Vorgehen auf allen Ebenen maximale Gewinne zu erwirtschaften. Das intensive Tüfteln am technischen Detail ist niemals Hauptziel, sondern letztlich nur Mittel zum Zweck. Sie dürfen das bedauern, dürfen auch für sich solche Aufgaben ablehnen, müssen aber das Prinzip akzeptieren: Was Sie da beschrieben haben, geht in Richtung „Funktion einer Führungskraft, mindestens jedoch eines Projektleiters“, beides sind bereits (von anderen) hochbegehrte und besser bezahlte Aufstiegsfunktionen.

Antwort/4:Ich kann Sie zunächst einmal beruhigen: Sie sind schon deshalb keine „shizoide Persönlichkeit“, weil es diesen Begriff offenbar gar nicht gibt, ich habe ihn jedenfalls nirgends gefunden. Und Ihr ganzer Brief ist auf einem so hohen sprachlichen Niveau, dass ich Ihnen „bloß“ ein vergessenes „c“ ausgerechnet in diesem Begriff nicht zutraue. Aber es reicht, wenn wir Ihren Definitionsversuch vergessen und uns nur mit den beschriebenen Symptomen befassen: Die gibt es durchaus – und mit denen wäre ein Ingenieur in unserer team- und kommunikations­orientierten industriellen Umgebung ziemlich falsch aufgehoben.

Es wird zwar auch dort einzelne Funktionen geben, in denen Sie eine Zeit lang still vor sich hinarbeiten können, aber auf Dauer bringt das nur Probleme. Ständig sind Sie im Kontakt mit anderen gefordert; wenn Sie gut sind, will Sie jemand befördern; alle „höherwertigen“ Aufgaben laufen wieder auf das hinaus, was Sie als „kann ich nicht, will ich nicht“ schildern.

Ich glaube, Sie sind hier falsch. Theoretische Physik, beispielsweise, hätte ein interessantes Forschungsgebiet für Sie gewesen sein können (bis man Sie zwingt, öffentliche/Dritt-Mittel irgendwo kommunikationsintensiv einzuwerben).

Eine dem Begriff gerecht werdende industrielle Forschung gibt es nur noch in kleinerem Umfang, auch dort wird ja letzten Endes wieder nur nach Umsetzbarkeit in verkaufsfähige Produkte gefragt. Aber in Einzelfällen mag es jenen „Elfenbeinturm“, in dem sich jemand ausschließlich mit einem isolierten Problem beschäftigt und kaum Kontakt mit anderen hat, noch geben. Schauen wir mal, ob Sie dort überhaupt hineinpassen würden.

Antwort/5: Ich schätze Ihr Alter (dieser Abdruck Ihrer Frage enthält nicht alle mir vorliegenden Details) auf Ende 20 bis Anfang 30. Also noch ist manches möglich. Lassen wir einmal alles beiseite, was mit „hätte“ formuliert werden müsste, dann meine ich:

1. Formal gesehen und gemessen am Durchschnitt der anderen Ingenieure im Lande ist das, was Sie beruflich im Augenblick vorzuweisen haben, ziemlich gut. Viele Leser, deren Probleme deutlich größer sind, werden murmeln: „Der Kerl hat ein Luxusproblem.“

2. Bei aller Anerkennung des Erreichten: Ich glaube, bei diesem speziellen Arbeitgeber können Sie ohnehin nicht ewig bleiben – die „Kunden“ wählen meist diese Variante, um im Ernstfall dieses Personal ohne die üblichen Probleme schnell wieder loszuwerden.

Hinzu kommt: Das von Ihnen so gesuchte „tiefgründige technische Tüfteln“, einer Forschung ähnlich, wird es beim Dienstleister mit Werkvertrag kaum geben können. Er wird beauftragt, um vorrangig praxisnahe Probleme zu lösen. Die Kunden werden aber in aller Regel nicht wollen, dass er in den Besitz bahnbrechender technologischer Grundkonzepte kommt – dann wären sie ja von ihm abhängig. Fazit: Ein Wechsel wird für Sie ohnehin irgendwann fällig, wie ich das sehe.

3. Ein viel zu wenig beachtetes Prinzip ist dieses hier: Ihre ganzen Probleme kommen nicht aus einer einzigen schwierigen Konstellation – sondern „nur“ aus den Differenzen zwischen dem, was Ihnen vorschwebt und dem, was ist. Eines von beidem müssten Sie ändern, bis die Dinge besser zueinander passen.

Also gut, dann ändern Sie doch Ihre Einstellung und Ihre Wünsche. Dabei haben Sie es nur mit einer einzigen Person zu tun. Die Änderung dessen, was ist, tangiert hingegen Dutzende von Menschen, die Sie dazu bringen müssten, einen Beitrag zu Ihrer Zufriedenheit zu leisten.Wenn alle unsere Leser auflisten würden, was sie einerseits täglich tun und andererseits gern täten, würden sich Abgründe auftun. Ich wage einmal etwas: Sie haben etwas auf dem Gebiet A erreicht. Ihre Chefs haben Ihnen etwas in Sachen A zugetraut – und sind recht zufrieden damit. Nur Sie reden sich ständig ein, das wollten Sie nicht, das könnten Sie nicht. Vielleicht ist das der einzige Fehler in Ihrem „System“. Vielleicht sind Sie auch einer jener bedauernswerten Menschen, deren Wirkung auf andere in Richtung A geht, die aussehen wie ein A-Typ, denen man folgerichtig ständig A-Aufgaben überträgt, die sie auch noch gut lösen(!), während sie ständig von B- oder C-Aufgaben träumen. Ändern Sie dieses Träumen – und alles ist gut. Wenn man den Status des abhängig Beschäftigten wählt, sind die Entfaltungsmöglichkeiten ohnehin irgendwo begrenzt.

Es gibt auch noch eine rein wissenschaftliche (Hochschul-/Instituts-)Laufbahn. Aber dafür waren Sie nicht gut genug.

4. Wenn alles das nicht hilft, bleibt: kämpfen Sie um die Realisierung Ihres Traums! Es ist erstaunlich, was der Mensch erreicht, wenn er sein Tun konsequent und kompromisslos auf ein Ziel ausrichtet.

Schreiben Sie Bewerbungen, insgesamt so an die tausend Stück. Legen Sie dar, was Sie wollen, zu können glauben und was Sie einbringen könnten. Schreiben Sie „initiativ“ direkt an Firmen aller Art, variieren Sie immer wieder Ihre Argumentation. Rufen Sie Personalleute an, versuchen Sie, zu Firmeninhabern direkt Kontakt aufzubauen. Der „Streuverlust“ Ihrer Bemühungen wird enorm sein, daher die große Zahl. Übrigens werben manche Outplacementberater (ich nicht) damit, sie würden Ihre Unterlagen bei tausend Adressen vorlegen („viel hilft viel“). Wenn Sie das ein bis zwei Jahre konsequent durchziehen, sind Sie in jedem Fall weiter als heute.

Kurzantwort:

Wenn man meint, ein ganz spezieller, vom Durchschnitt abweichender „Typ“ zu sein, der auch entsprechend spezielle Aufgaben braucht, dann sollte man von Anfang an darauf achten, alle Details des eigenen Werdeganges entsprechend auszurichten. Das Stichwort heißt „konsequentes Handeln“.

Frage-Nr.: 2834
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 37
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2016-09-15

Ein Beitrag von:

  • Heiko Mell

    Heiko Mell ist Karriereberater, Buchautor und freier Mitarbeiter der VDI nachrichten. Er verantwortet die Serie Karriereberatung innerhalb der VDI nachrichten.  Hier auf ingenieur.de haben wir ihm eine eigene Kategorie gewidmet.

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