Heiko Mell 02.01.2016, 03:35 Uhr

Benotung von Abschlussarbeiten

Zunächst eine einleitende Erklärung vom Autor der Serie: Das zuletzt in Frage 2.379 behandelte Thema hat ein beispielloses Echo ausgelöst mit längeren sachlichen Diskussionsbeiträgen ebenso wie mit kürzeren emotionalen. Ich habe sie alle gelesen und bedanke mich sehr dafür. Aber wir können leider auch nicht andeutungsweise alle Reaktionen abdrucken – wir würden damit viele Wochenbeiträge nacheinander füllen. Haben Sie also bitte Verständnis dafür, dass wir hier auswählen und z. T. sehr stark kürzen müssen.

Geprägt wird das Thema auch durch die große Vielfalt unterschiedlicher Regelungen an einzelnen Hochschulen, vor allem in einzelnen Bundesländern. Ich habe übrigens in keinem Falle von den Arbeiten im neuen Bachelor-/Master-System gesprochen. Meine Aussagen beziehen sich auf die klassische Diplomarbeit mit einem gewissen Schwerpunkt auf dem FH-Bereich. Auch mit der totalen Umstellung auf Bachelor / Master erledigt sich dieses Thema ja nicht: Es gibt eine extrem große Zahl von klassischen Diplom-Ingenieuren, die in den nächsten zwanzig Jahren als potenzielle Bewerber vorhanden bleiben. Und wenn ein junger „klassischer“ Diplom-Ingenieur mit fünf Jahren Praxis aus seiner ersten Anstellung sich bewirbt, dann ist sein „altes“ Diplom-Zeugnis das wichtigste – weil einzige – Dokument dieser Art. Das Thema verliert also vorläufig nichts von seiner Aktualität. Ich versuche, die ausgewählten Einsender nach beruflichem Status zu ordnen. Beachten Sie die Spannweite der Äußerungen, auch im emotionalen Bereich; H. Mell.

1. Aus der betrieblichen Praxis:

Leser A: Vielen Dank für Ihre sehr interessante und amüsante Kolumne, ohne diese wäre ich kein Abonnent der VDI nachrichten! Als Abteilungsleiter hatte ich auch das Vergnügen, schon einige Diplomarbeiten zu betreuen und zu benoten. Es ist sicher richtig, dass der Professor letztendlich die Note vergibt, doch der Student verbringt den überwiegenden Teil seiner Diplomarbeitszeit im Unternehmen, so dass der entsprechende Betreuer sich in der Regel ein besseres Bild vom Diplomanden machen kann. Das Problem mit der Benotung beginnt schon viel früher. In der Schule werden Kurse bei den Lehrern gewählt, die die besten Noten verteilen.

Ich hatte zwischenzeitlich einen Diplomanden, der sehr schlecht war. Normalerweise hätte dieser die Diplomarbeit nicht einmal bestehen dürfen, dennoch ist er mit einer 2,3 davongekommen. Dies lag auch daran, dass auch unser Unternehmen ein Interesse daran hat, dass wir bei den Studenten positiv wahrgenommen werden. Der Student hat aber auch wirklich gar nichts gewusst.

Leser B: Ich bin seit mehr als zwanzig Jahren in unterschiedlichen Funktionen im Personalwesen verschiedener Unternehmen tätig, seit zehn Jahren immer als Personalleiter.

Zunächst stimme ich Ihnen zu, dass es bedenklich ist, wenn durchschnittliche Studienergebnisse häufig durch sehr gute Diplomarbeiten nebst Kolloquien zu guten Abschlüssen mutieren. Der neutrale Betrachter fragt sich da, wie kann das passieren? Hat der Nachwuchsakademiker im letzten halben Jahr seines Studiums plötzlich den Erkenntnisdurchbruch geschafft?

M. E. wird die Sache klarer, wenn man betrachtet, auf welchem Wege i. d. R. eine Diplomarbeit (oder jede andere Abschlussarbeit) entsteht: Es gibt eine Fragestellung im Unternehmen, es gibt einen Verwertungszusammenhang zwischen betrieblicher Fragestellung und Ergebnis, es gibt einen Diplomanden, es gibt einen Betreuer. Zunächst ist festzustellen, dass damit alle Beteiligten ein Interesse daran haben, dass am Ende der Diplomarbeit ein vernünftiges (= gutes) Ergebnis steht (eine „Eins“ oder eine „Zwei“). Der Betreuer hat also allen Grund dazu, sich darum zu kümmern, dass am Ende der Diplomarbeit ein gutes Ergebnis steht.

In den 90er Jahren war ich als Leiter der Personalentwicklung in einem Unternehmen im Rheinland auch mit der Einstellung von neuen Mitarbeitern betraut. Wir suchten einen Jungingenieur für die mechanische Konstruktion. In die Auswahl wurde auch ein ehemaliger Diplomand unseres Hauses einbezogen. Seine Studienergebnisse waren durchschnittlich (Dreier und Vierer, gelegentlich eine Zwei), die Diplomarbeit war mit „sehr gut“ bewertet worden. Im Vorstellungsgespräch wurden gravierende fachliche Mängel deutlich, der suchende Abteilungsleiter war entsetzt. Wie konnte es sein, dass der Kandidat bei uns eine sehr gute Leistung erbracht (Diplomarbeit), aber wohl doch große Wissenslücken hatte?

Wir haben dann den Betreuer der Diplomarbeit aus unserem Hause sehr genau befragt. Der räumte dann auch große Probleme des Kandidaten während der Erstellung der Arbeit ein – und gab zu, dass er (der Betreuer) sich daher selbst um das Thema und die Diplomarbeit gekümmert hatte. Sein Kommentar (im Original im rheinischen Dialekt): „Was sollte ich denn machen, der Junge musste doch fertig werden.“

Aus meinen Erfahrungen weiß ich heute, dass das (leider) kein Einzelfall war und ist. Es erklärt, warum sich seit Jahrzehnten die Ergebnisse immer zwischen Eins und Zwei bewegen. Die Benotungen der Hochschulen sind wahrscheinlich richtig – zweifelhaft ist hingegen häufig die Gewichtung der Einzelergebnisse bei der Ermittlung der Gesamtnote.

Leser C: Gott sei Dank gibt es mit Ihnen noch jemanden, der sich traut, auf Missstände hinzuweisen.

Zunächst muss ich dem Leser A in der Frage 2.379 uneingeschränkt zustimmen (ein Geschäftsführer hatte erklärt, er betrachte nur die Einzelnoten der Fächer und halte die Gesamtnote für „falsch“ berechnet; H. Mell). Auch von mir (Leiter Produktmanagement, Maschinenbau- und Wirtschaftsingenieur) und meinen Kollegen aus dem Führungskreis wird bei Bewerbungen ganz gezielt auf die Einzelnoten in den Diplomzeugnissen geachtet. Die Note der Diplomarbeit ist – eben aufgrund des von Ihnen geschilderten Phänomens der Pauschalierung auf 1,0 bis max. 2,0 – eigentlich schon als für uns „nicht ausschlaggebend“ bis „daher uninteressant“ zu sehen.

Und es ist tatsächlich so, dass Unternehmen die Diplomarbeiten mit benoten! Ich persönlich habe eine Diplomarbeit eines Studenten der FH … betreut und benotet, wobei die Unternehmensnote zu 50 % in die Diplomarbeitsnote einging. Und ich bin mir sicher, dass dies nicht die Ausnahme darstellt!

Wir haben in unserem Bereich sehr wohl auch schon Diplomarbeiten gehabt, die eher das Prädikat „mangelhaft“ oder „schwach“ verdient hätten. Wir tun uns zugegebenermaßen schwer, nur eine 3,5 zu vergeben, weil man dem Diplomanden seine Zukunft nicht verbauen möchte, weil die Professoren andere „Notendimensionen“ haben und man komplett außerhalb des üblichen Notenbereichs liegen würde und weil man sich nicht den Ruf eines total schlecht benotenden Unternehmens aufbauen möchte, wenn man zudem noch in einer eher strukturschwachen Region residiert. Wir sollten alle den Mut haben, schlechte Abschlussarbeiten auch schlecht zu benoten!

Ich kann Sie in Ihrer unermüdlichen, mit beißenden Kommentaren und erhobenem Zeigefinger formulierten Kritik an solchen Missständen nur bestärken. Herzlichen Dank!

2. Hochschullehrer:

Leser D: Traurig finde ich es allerdings, dass Sie Ihre stichpunktartige Erfahrung so verallgemeinern und die Aussagekraft von Zeugnissen herabsetzen. Vielleicht schaden Sie dadurch – ungewollt – allen Beteiligten. Die Gewichtung der Abschlussarbeit im Verhältnis zu den Fachnoten ergibt sich aus dem Verhältnis des jeweiligen Arbeitsaufwandes. Insgesamt sind Ihre plakativen Aussagen wie „eine 1 ist FH-Standard“ keinesfalls hilfreich.

Leser E: Dies (vorstehende, hier aus Platzgründen nicht abgedruckte Erläuterungen; H. Mell) mag Ihnen helfen, die Sachverhalte zu diesem Thema auf die Reihe zu kriegen. Das muss aber nicht sein! Sie dürfen auch weiterhin unterstellen, dass an unseren Hochschulen der gesunde Menschenverstand außen vor ist und man schlechterdings nicht mehr 1 und 1 zusammenzählen kann.

Leser F: Ich bin Hochschullehrer an einer FH in Österreich. In unserer Studienordnung wird die Abschlussarbeit nicht so hoch gewichtet wie es scheinbar an anderen FHs der Fall ist. Zudem gibt es nur ganze Noten. Wobei „befriedigend“ in ca. 15 – 20 % der Fälle vergeben wird.

Wir führen intern jährlich die Diskussion der Inflationierung der guten Noten. Ihre Antwort lässt aber wesentlich schwerwiegendere Probleme vermuten, die ich aus meinem Erfahrungsschatz nicht bestätigen kann.

Leser G: Die Industriebetreuer schlagen mir für die von ihnen betreuten Bachelorarbeiten fast immer Noten zwischen 1,0 und 1,5 vor, mit wenigen Ausnahmen mal eine 1,7 oder 2,0, aber in meinen nun sechzehn Jahren an der FH nur einmal eine 2,3!!!

Vielleicht liegt es doch nicht daran, dass die Betreuer nur zu weich oder bequem sind, eine schlechte Benotung gegenüber dem Studenten zu vertreten. Vielleicht sind die Betreuer ja wirklich so zufrieden mit unseren FH-Studenten, weil die (im Unterschied zu Uni-Studierenden) i. d. R. keinen Praxisschock erleben, sondern sofort mit der Arbeit anfangen und in der kurzen gegebenen Zeit wirklich tolle Ergebnisse produzieren.

Ich vertrete vehement die Auffassung, dass wir in die Zeugnisse ein (noch zu diskutierendes) Ranking einbauen sollten, beispielsweise: „Notenschnitt Nr. 8 von 43 Absolventen des Jahrgangs“.

Leser H: Sehen Sie die Sache doch einfach ganz entspannt: Genauso wie ein Mitarbeiter seine Aufgaben grundsätzlich zur Zufriedenheit des Unternehmens erledigt (manche zur „vollsten“ und einige sogar „stets“), so kann man mit den Diplomarbeitsnoten 1,0 / 1,3 / 1,7 / 2,0 wunderbar zwischen hervorragend, sehr gut, gut und mäßig unterscheiden.

Antwort:

Antwort zu A, B und C: Diese Serie erhebt den Anspruch, im Rahmen des Möglichen zu verdeutlichen, wie in der betrieblichen Praxis gedacht und gehandelt wird. Daher der große Raum, den die Stellungnahmen dieser betrieblichen Entscheidungsträger hier einnehmen. In der Sache fühle ich mich bestätigt, mein Unbehagen an der Benotung von Diplomarbeiten und deren Auswirkungen wird von diesen Einsendern geteilt.

Antwort zu E: Sie geben mir sehr detaillierte Informationen zur Notengebung, die ich hier leider unmöglich abdrucken kann, die aber für mich sehr wertvoll sind. Zwei Dinge vermisse ich bei Ihnen wie auch bei vielen Ihrer Kollegen:

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a) Sie setzen sich nicht mit meinem in jener 2.379. Antwort dargestellten konkreten Fallbeispiel auseinander (bei dem ich absolut überzeugt bin – nach 45 Berufsjahren, die bis vor die FH-Gründungen zurückreichen und nach 15.000 Vorstellungs- und ungezählten Karriereberatungsgesprächen -,dass es typisch ist gerade für viele FH-Abschlüsse in Deutschland) und Sie legen nicht einfach eine Statistik aus Ihrer FH bei, die z. B. zeigt, ob sehr gute Diplomarbeiten Standard sind und wie oft sie erheblich (auffällig) vom übrigen Zeugnisdurchschnitt nach oben abweichen. Das wäre es doch gewesen!

Antwort zu F: Das ist („15 – 20 %“) eine präzise Angabe, mit der man etwas anfangen kann. Wenn man von den FHs dann zusätzlich auch noch die Notenverteilung der anderen (Haupt-)Fächer hätte, könnte man viel solider argumentieren.

Antwort zu G: Sie haben mir zusätzlich zahlreiche weitere Informationen geliefert, die das Problem Notengebung für mich transparenter machen (u. a. den Hinweis auf einen Arbeitsbericht des Wissenschaftsrats unter www.wissenschaftsrat.de/texte/7769-07.pdf).

Antwort zu H: Ich lese daraus, dass eine Diplomarbeit, die mit 2,0 beurteilt wurde, als „mäßig“ einzustufen ist. Genau das sage ich hier ja immer wieder – die „sehr gute“ Note ist praktisch Standard, eine „gute“ für die Diplomarbeit fällt schon unangenehm auf.

Ich verstehe (siehe auch Leser A, B und C), wie so etwas zustande kommt. Aber für das Hauptfach Thermodynamik (ein reines Beispiel) scheint das nicht zu gelten, dort bedeutet eine 2 eben „gut“. Das kann ich nicht widerstandslos akzeptieren. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als die Empfehlung zu geben: Wer einen jüngeren Ingenieur sucht und – warum auch immer – ein breites Leistungsspektrum der Kategorie „gut“ haben will, schaue besser im Examenszeugnis nach den für ihn wichtigen Hauptfächern mit der Note „gut“, statt sich auf ein Gesamtergebnis „gut“ zu verlassen, das wesentlich durch eine einsame „1“ in der Diplomarbeit hochgezogen wurde, während die wichtigen relevanten Fachnoten deutlich schwächer sind.

Ich habe gar nichts gegen sehr gute Diplomarbeiten. Aber ist es so unverständlich, dass ich es überzeugender finde, wenn dann auch wesentliche relevante Hauptfächer sehr gut sind? Unter diesen Umständen würde ich auch die hohe Gewichtung der Diplomarbeit problemlos akzeptieren können.

Der Vergleich mit den Arbeitszeugnissen führt auf sehr glattes Eis. Auf diesem Gebiet gibt es rechtliche Vorgaben, die dieses Thema einer „Geheimwissenschaft“ gefährlich nahebringen.Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir diese Diskussion hier erst einmal abbrechen – manche Leser langweilen sich sonst.

PS: Aus Platzgründen fallen jetzt viele weitere Meinungsäußerungen unter den Tisch. Darunter auch originelle wie diese eines Doktoranden: „Was zunächst noch als legere und humorvolle Antwort eingeordnet werden kann, entwickelt sich meines Erachtens im Gesamtbild fast zum eingeschnappten Sermon eines wortgewandten, trotzigen Kindes.“ Immerhin: Er gesteht mir „wortgewandt“ zu – besser als gar kein Lob.

Frage-Nr.: 2398
Nummer der VDI nachrichten Ausgabe: 11
Datum der VDI nachrichten Ausgabe: 2010-03-18

Ein Beitrag von:

  • Heiko Mell

    Heiko Mell ist Karriereberater, Buchautor und freier Mitarbeiter der VDI nachrichten. Er verantwortet die Serie Karriereberatung innerhalb der VDI nachrichten.  Hier auf ingenieur.de haben wir ihm eine eigene Kategorie gewidmet.

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