Forscher enträtseln innovative Steinzeittechnik
Forschende entdecken: Menschen der Steinzeit nutzten Erdöfen, um Zähne unversehrt aus Kiefern zu lösen – für Schmuck, Erinnerung und Rituale.

Steinzeitmenschen nutzten Erdöfen, um Zähne für Schmuck vorsichtig zu lösen.
Foto: Smarterpix / brians101
Wie gewannen Menschen der Steinzeit unversehrte Tierzähne für ihren Schmuck? Eine neue Studie zeigt: Erdöfen halfen dabei, die Zähne schonend zu lösen. Forschende testeten verschiedene Techniken, um das Verfahren zu rekonstruieren – und entdeckten eine Verbindung zwischen Essenszubereitung, Handwerk und sozialem Leben.
Inhaltsverzeichnis
Zahnschmuck als Spiegel der Gemeinschaft
Schon vor über 7.000 Jahren trugen Menschen Tierzähne als Schmuck. Ob um den Hals, an der Kleidung oder als Grabbeigabe – die Zähne waren mehr als nur Dekoration. In zahlreichen Gräbern aus der Mittelsteinzeit, besonders am Fundort Zvejnieki im Norden Lettlands, fanden Archäolog*innen solche Zahnanhänger in großer Zahl. Ein Doppelgrab enthielt sogar 332 Zähne von Wildschweinen, Hirschen, Elchen und weiteren Tieren.
Doch wie gelang es, die Zähne so unversehrt aus dem Kiefer zu lösen? Schließlich brechen sie leicht, wenn man sie mit Gewalt entfernen will. Eine neue Studie geht dieser Frage mit Mitteln der experimentellen Archäologie nach – und kommt zu einer unerwarteten Lösung: Der Schlüssel lag im Kochen. Genauer gesagt: im Garen ganzer Tierköpfe in Erdöfen.
Gräberfeld mit über 2000 Zähnen
Zvejnieki zählt zu den bedeutendsten steinzeitlichen Fundstätten Europas. Über 330 Gräber aus der Zeit zwischen 7500 und 2500 v. Chr. wurden dort untersucht. In mehr als 80 % der Bestattungen fanden sich Tierzähne – viele davon in auffälliger Anordnung im Bereich von Kopf und Brust. Die Zähne stammen von Pflanzenfressern wie Elchen oder Rehen, später auch von Raubtieren wie Hunden.
Viele dieser Zähne zeigen Spuren von Bohrungen, Politur oder Abnutzung durch Tragen. Die Frage war nur: Wie konnten diese empfindlichen Materialien überhaupt unbeschadet gewonnen werden?
Experimentelle Archäologie bringt Licht ins Dunkel
Ein internationales Team von Archäolog*innen testete sieben verschiedene Methoden, um Zähne aus echten Tierkiefern zu lösen. Darunter waren mechanische Varianten wie Schneiden, Hämmern oder das Lufttrocknen der Schädel. Auch das Kochen in Tontöpfen und das Einlegen in Wasser gehörten zu den getesteten Verfahren.
Die Resultate waren eindeutig. Direkte Hitze durch Feuer zerstörte die Zähne – sie wurden spröde und zerbrachen. Auch das Trocknen an der Luft zeigte kaum Wirkung. Nur mit Wasser und kontrollierter Hitze gelang es, die Zähne schonend zu lösen.
Steinzeitliche Zahngewinnung im Überblick
• Fundort: Zvejnieki (Lettland), über 330 Gräber, 7500–2500 v. Chr.
• Besonderheit: Mehr als 2.000 unversehrte Tierzähne als Schmuckbeigaben
• Herausforderung: Zähne ohne Bruch aus dem Kiefer zu lösen
• Effektivste Methode: Garen ganzer Tierköpfe in Erdöfen mit feuchter Hitze
• Vorgehen: Heiße Steine, Tierhäute und Pflanzenmaterial zur Wärmespeicherung
• Ergebnis: Zähne lösen sich nahezu rückstandslos
• Zusatznutzen: Fleischverwertung, Knochen für Werkzeuge, Zähne als Schmuck
• Vermutung: Zahnextraktion war Teil gemeinschaftlicher Mahlzeiten und Rituale
Erdöfen: Die effektivste Methode
Die überzeugendsten Ergebnisse erzielte das Garen in Erdöfen. Dabei wurden Tierköpfe mitsamt Haut und Fleisch in eine mit heißen Steinen vorbereitete Grube gelegt. Bedeckt mit Pflanzenmaterial und Erde wurden sie über Stunden gegart. Durch die feuchte Hitze lösten sich die Zähne beinahe von selbst aus dem Kiefer – ganz ohne sichtbare Spuren.
„Unsere Experimente zeigen, dass das Ziehen der Zähne ein bewusster, zeitkritischer Vorgang war, der fest in den Alltag, insbesondere in die Kochgewohnheiten, eingebettet war“, sagt Dr. Aija Macāne von der Universität Helsinki.
Mehr als nur Technik: Das soziale Element
Diese Zahngewinnung war offenbar kein separater Arbeitsschritt, sondern Teil des alltäglichen Kochens. Während das Fleisch gegart wurde, konnten die Zähne gewonnen werden – vielleicht auch gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Gemeinschaft. Dr. Aimée Little von der Universität York betont: „Diese Praxis zeigt, dass die Menschen der Steinzeit sich bewusst waren, dass es eine ‚richtige Art und Weise‘ gab, die Tierreste zu behandeln.“
Zahnschmuck war somit nicht nur Handwerk, sondern auch sozialer Ausdruck. Die gleichzeitige Nutzung von Fleisch, Knochen und Zähnen verweist auf einen ganzheitlichen Umgang mit dem Tier. Die Herstellung der Anhänger könnte Teil gemeinschaftlicher Rituale gewesen sein.
Wandel der Symbolik
Auch die Auswahl der Tiere änderte sich im Laufe der Jahrhunderte. In früheren Gräbern dominierten Pflanzenfresser wie Elche und Rehe. Später wurden häufiger Zähne von Raubtieren wie Hunden verwendet. Das lässt auf eine sich wandelnde Symbolik oder ein verändertes Tieraufkommen schließen. Denkbar ist auch, dass bestimmte Tiere mit besonderen Bedeutungen verknüpft waren – etwa Jagderfolg, Schutz oder Zugehörigkeit.
Auffällig ist, dass Zahnschmuck geschlechter- und altersübergreifend getragen wurde. Männer, Frauen und Kinder trugen ihn gleichermaßen. Besonders häufig lagen die Anhänger im Kopf- und Brustbereich der Gräber.
Technik trifft Erinnerung
Einige Gräber enthielten ganze Zahnsätze – möglicherweise von einem einzigen Tier. Das könnte darauf hinweisen, dass die Anhänger auch eine Art Erinnerung darstellten: an eine erfolgreiche Jagd oder ein gemeinsames Festmahl. Möglicherweise wurden die Zähne direkt nach dem Essen gelöst und weiterverarbeitet. Auch eine rituelle Bedeutung ist denkbar, zum Beispiel im Zusammenhang mit Bestattungen.
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