Energiegewinnung möglich? 14.08.2025, 17:17 Uhr

Die verrückte Physik hinter dem schnellsten Eis der Welt

Eine Eisscheibe flutscht wie von Geisterhand über eine Metallplatte. Die verrückte Physik dahinter könnte sogar Energiegewinnung ermöglichen.

Jack Tapocik

Schmelzendes Eis kann sich selbst antreiben – dank spezieller Metallrillen. Forschung zeigt Potenzial für Technik und Energie. Hier bereitet Jack Tapocik den Versuch vor.

Foto: Alex Parrish für Virginia Tech.

Jack Tapocik hatte schon viele Eisplatten schmelzen sehen. Doch diese hier machte plötzlich etwas, das ihn sprachlos zurückließ: Sie flutschte wie von Geisterhand über die Metallplatte. Der Doktorand im Labor für naturinspirierte Flüssigkeiten und Grenzflächen an der Virginia Tech hatte eine kreisrunde Eisscheibe auf eine speziell gefertigte Metalloberfläche gelegt. Unter ihr sammelte sich langsam Schmelzwasser. Eine Minute lang tat sich nichts. Dann löste sich die Scheibe plötzlich – und raste davon.

„Es war, als würde eine unsichtbare Hand das Eis antreiben“, beschreibt Tapocik den Moment. Dieses Phänomen faszinierte sofort das Team unter Leitung von Associate Professor Jonathan Boreyko. Dahinter steckt Physik, die nicht nur überrascht, sondern neue Wege für schnelles Auftauen – und sogar für die Energiegewinnung – eröffnen könnte.

Vom Wüstenboden ins Labor

Die Idee für den Versuchsaufbau entstand nicht zwischen Reagenzgläsern, sondern in der Natur – genauer gesagt im Death Valley in Kalifornien. Dort liegt der Racetrack Playa, ein ausgetrocknetes Seebett, berühmt für ein Rätsel: Große Steine hinterlassen lange Spuren im Boden, als würden sie von Geisterhand bewegt.

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Lange blieb unklar, wie diese „wandernden Steine“ vorankommen. Erst Richard Norris, Professor an der Harvard University, lieferte die Lösung: Nach Regen sammelt sich Wasser auf dem harten Boden. Gefriert es, bildet sich eine dünne Eisschicht. Steigt die Temperatur, treiben die Eisschollen – angetrieben vom Wind – über das Wasser und schieben die Steine gemächlich über den nassen Untergrund.

Boreyko und sein Team wollten mehr. Ihre Mission: eine Oberfläche bauen, die schmelzendes Eis ohne Wind und allein durch ihre Struktur in Bewegung versetzt.

Die Geburt einer „Eisrennstrecke“

2019 entwarfen Boreyko und der damalige Doktorand Saurabh Nath erste Konzepte. Es dauerte drei Jahre für die Versuche und zwei weitere für den Bau eines funktionsfähigen Modells.

Die Grundidee: Aluminiumplatten mit feinen, asymmetrischen Rillen versehen – ähnlich einem Fischgrätenmuster aus pfeilförmigen Kanälen. Dieses Muster zwingt das Schmelzwasser, in eine bestimmte Richtung zu fließen.

„Dieser gerichtete Schmelzwasserfluss trug die Eisscheibe mit sich“, erklärt Tapocik. „Man kann es sich wie einen Schlauch vorstellen, der auf einem Fluss treibt – nur dass hier die Kanäle selbst den Fluss erzeugen, ganz ohne Schwerkraft.“

Der überraschende „Schleudereffekt“

Aus Neugier behandelte das Team die Aluminiumplatten mit einem wasserabweisenden Spray. Die Erwartung: Das Eis würde noch leichter und schneller gleiten. Die Realität: Es bewegte sich überhaupt nicht.

„Auf einer wasserdichten Oberfläche wird das Schmelzwasser leicht aus den Kanälen gedrückt. Das Eis klebt dann an den Rippen der Struktur“, erklärt Boreyko. Zwar fließt das Wasser weiter entlang der Rillen, aber die Scheibe bleibt zunächst fest.

Das ändert sich abrupt, sobald das Schmelzwasser über die Vorderkante der Scheibe läuft. Auf einer Seite bildet sich eine kleine Pfütze, die ein Ungleichgewicht in der Oberflächenspannung erzeugt. Dieses Ungleichgewicht wirkt wie ein Auslöser: Die Scheibe löst sich schlagartig und schießt mit hoher Geschwindigkeit davon. Das Team gab diesem Effekt einen Namen – den „Schleudereffekt“.

Anders als in der Natur

Während im Death Valley Steine gemächlich über den Schlamm gleiten, beschleunigt das Eis auf Boreykos Oberfläche ruckartig. Die kontrollierte Struktur macht es möglich, die Bewegung gezielt auszulösen – ganz ohne Wind, nur mit dem Zusammenspiel aus Schmelzwasserfluss und Oberflächenspannung.

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Mögliche Anwendungen

Eine naheliegende Nutzung: schnelles und gezieltes Entfernen von Eis. Denkbar wäre der Einsatz auf vereisten Flächen – etwa bei Solarmodulen, Flugzeugtragflächen oder technischen Anlagen. Statt energieintensiv zu heizen, würde die Struktur das Eis allein durch den gerichteten Wasserfluss ablösen.

Der Vorteil: Der Prozess ist rein mechanisch, benötigt keine zusätzlichen Antriebe, spart Energie und reduziert Wartungsaufwand.

Vision: Strom aus schmelzendem Eis

Boreyko denkt bereits weiter. Inspiriert von den wandernden Steinen entwarf er ein technisches Konzept: Werden die Rillen kreisförmig angeordnet, könnte ein schmelzendes Objekt dauerhaft rotieren.

„Stellen Sie sich vor, Sie legen statt eines Felsbrockens einen Magneten auf das Eis“, sagt Boreyko. „Der Magnet würde sich drehen – und diese Bewegung könnte Strom erzeugen.“

Ein solches System würde die Bewegungsenergie schmelzenden Eises direkt in elektrische Energie umwandeln. Das Prinzip wäre ähnlich wie bei einem Dynamo – nur dass hier Wasser, Eis und Oberflächenspannung den Antrieb übernehmen.

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Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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