Physikalisches Rätsel gelöst? 04.06.2025, 10:00 Uhr

Chaos mit System: Tintenfischhaut als Fenster in die Physik

Forschende entdecken auf Tintenfischhaut eine neue Form der Unordnung – und was sie für Wachstum und Technik bedeutet.

Tintenfische

Tintenfische zeigen, wie Wachstum physikalische Muster stört: Forschende entdecken neue Form von Unordnung – die Hyperdisorder.

Foto: PantherMedia / thomaseder (YAYMicro)

Die Natur liefert seit jeher wertvolle Hinweise auf physikalische Prozesse – von der Bewegung von Himmelskörpern bis hin zur Entstehung von Zellstrukturen. Eine neue interdisziplinäre Studie des Okinawa Institute of Science and Technology (OIST) in Japan zeigt, dass sich diese Beziehung auch umkehren lässt: Biologische Systeme können helfen, bislang wenig verstandene physikalische Phänomene besser zu begreifen.

Im Mittelpunkt steht ein erstaunlicher Befund: Auf der Haut von Tintenfischen wächst ein Punktmuster aus Pigmentzellen, das sich mit klassischen physikalischen Prinzipien nicht vollständig erklären lässt. Die Forschenden bezeichnen es als Hyperdisorder – eine bisher kaum bekannte Form der Unordnung mit besonderen Eigenschaften.

Ordnung, die keine ist

In vielen natürlichen Systemen lassen sich sogenannte hyperuniforme Muster beobachten. Dabei entsteht trotz lokalem Zufall eine übergeordnete Gleichmäßigkeit. Ein Beispiel dafür sind die lichtempfindlichen Zellen in Vogelaugen. Je größer der betrachtete Bereich, desto gleichmäßiger wirken deren Abstände.

Tintenfische weichen von diesem Prinzip ab. Ihre Pigmentzellen, sogenannte Chromatophoren, verteilen sich mit wachsender Hautfläche nicht gleichmäßiger – im Gegenteil: Die Variabilität nimmt zu. Was auf kleiner Skala geordnet erscheint, wirkt auf größerer Fläche zunehmend unstrukturiert. Die Forschenden sprechen hier von Hyperdisorder.

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Links ein Bild eines 6 Wochen alten Tintenfischs, rechts eine Nahaufnahme des Chromatophorenmusters

Links ein Bild eines 6 Wochen alten Tintenfischs, rechts eine Nahaufnahme des Chromatophorenmusters, wobei die Chromatophoren durch grüne gepunktete Kreise hervorgehoben sind. Die Chromatophoren weisen ein Muster auf, bei dem größere, ältere Chromatophoren von kleineren, jüngeren Chromatophoren umgeben sind.

Foto: Ross et al., 2025 Creative Commons Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0)

Wie entstehen die chaotischen Muster?

Die Erklärung liefert ein einfaches physikalisches Modell. Es geht davon aus, dass neue Pigmentzellen zufällig auf der Haut entstehen – allerdings nur dann, wenn sie einen gewissen Mindestabstand zu bestehenden Zellen einhalten. Da die Haut des Tintenfischs stetig wächst, öffnen sich Lücken, in denen neue Zellen Platz finden. Doch diese Lücken entstehen nicht gleichmäßig über die gesamte Fläche verteilt.

Das Team entwickelte ein Computermodell, das diesen Prozess nachbildet: Harte Scheiben werden zufällig auf eine wachsende Fläche platziert, unter Einhaltung von Mindestabständen. Das Ergebnis ist ein Punktmuster mit stark variierender Dichte – genau wie auf der Tintenfischhaut.

Neue Perspektive auf Materie und Wachstum

Was bedeutet Hyperdisorder aus physikalischer Sicht? Dr. Robert Ross, Erstautor der Studie, spricht von einem „ungewöhnlichen Zustand der Materie“. Anders als bei geordneten oder zufällig verteilten Strukturen zeigt Hyperdisorder eine maßstabsfreie Unregelmäßigkeit. Die Dichtefluktuationen nehmen mit zunehmendem Betrachtungsbereich zu – ein Verhalten, das sonst vor allem aus der Physik von Phasenübergängen bekannt ist.

Professor Simone Pigolotti, Mitautor der Studie, sieht darin einen Paradigmenwechsel: „Diese Studie veranschaulicht die Bedeutung des Wachstums für das physikalische Verhalten verschiedener Systeme.“ Das entwickelte Modell sei auf viele andere Situationen übertragbar – von biologischen Geweben bis hin zu technischen Anwendungen in der Materialforschung.

Hyperdisorder vs. Hyperuniformität

In vielen natürlichen oder technischen Systemen lassen sich regelmäßige Muster erkennen – oder zumindest eine Ordnung im Ungeordneten. Zwei wichtige Begriffe aus der Physik helfen, solche Strukturen besser zu verstehen:

  • Hyperuniformität: Trotz lokaler Zufälligkeit wirkt das Gesamtmuster über größere Distanzen hinweg gleichmäßig. Beispiele sind die Zellverteilung im Hühnerauge oder bestimmte Kristallgitter.
  • Hyperdisorder: Das Gegenteil davon: Je größer der betrachtete Bereich, desto ungleichmäßiger wird das Muster. Fluktuationen nehmen mit dem Maßstab zu – wie bei den Pigmentzellen der Tintenfischhaut.

Solche Unterschiede sind nicht nur biologisch relevant, sondern haben auch technische Bedeutung – etwa bei der Entwicklung neuer Materialien oder bei der Analyse von Wachstumsprozessen.

 

Zellwachstum kennt das Alter

Ein weiterer Aspekt erstaunte die Forschenden besonders: Obwohl sich die Haut ständig vergrößert und neue Zellen hinzukommen, bleibt die Größenverteilung der Chromatophoren stabil. Offenbar wachsen ältere Zellen langsamer als junge. Dieses altersabhängige Wachstum sorgt dafür, dass große Zellen nicht dominieren.

Wie die Zellen das Alter des Tieres erfassen, ist noch ungeklärt. Denkbar sind hormonelle Signale, mechanische Spannungen oder chemische Konzentrationsunterschiede. Diese Selbstregulation könnte ein Schlüsselfaktor dafür sein, warum sich die Muster trotz Unordnung nicht vollständig auflösen.

Tarnung durch Unordnung?

Eine zentrale Frage bleibt: Hat Hyperdisorder eine biologische Funktion – oder ist es ein Nebenprodukt des Wachstums? Die Forschenden vermuten, dass die ungleichmäßigen Muster zur Tarnung beitragen könnten. Denn Strukturen mit vielen Maßstäben sind besonders effektiv, um sich in komplexen Umgebungen visuell zu verstecken. Möglich ist aber auch, dass das Muster rein zufällig durch physikalische Wachstumsprozesse entsteht – ein sogenannter evolutionärer Spandrel.

Ausblick: Was Technik aus Tintenfischen lernen kann

Die Entdeckung von Hyperdisorder öffnet laut Forschungsteam neue Wege für die Wissenschaft. Sie zeigt, wie eng Physik und Biologie verknüpft sind – und dass Wachstumssysteme mehr über Materialverhalten verraten können, als bisher angenommen.

Das zugrunde liegende Modell bietet Ansatzpunkte für die Entwicklung wachsender technischer Strukturen, etwa in der Materialforschung, Robotik oder Mikrotechnik. Überall dort, wo sich Partikel oder Strukturen auf expandierenden Oberflächen anordnen, könnten ähnliche Prinzipien gelten. Die Tintenfischhaut liefert damit weit mehr als nur faszinierende Tarnung – sie wird zur Blaupause für interdisziplinäres Denken.

Hier geht es zur Originalpublikation

Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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