Mängel vermeiden, nicht verwalten
Industrielle Qualitätssicherung erreicht seit Jahrzehnten, was das Qualitätsmanagement auf Baustellen nicht schafft: Fehler und somit Fehlerkosten maßgeblich zu vermeiden. Ein neuartiges Qualitätskonzept für Bauunternehmen kann zu spürbaren Verringerungen bei den Mängeln und damit deutlichen Einsparungen bei Zeitaufwand und Kosten führen.
„Made in Germany“ genießt weltweit einen ausgezeichneten Ruf. Grund dafür sind die hohen Qualitätsstandards hierzulande. Mit diesen Standards gelingt es der deutschen Industrie seit Jahrzehnten auf dem globalisierten Markt dem Wettbewerb der Niedriglohnländer standzuhalten.
Nur systematische Qualitätssicherung kann Qualität erzeugen
William Edwards Deming, der US-amerikanischer Pionier des Qualitätsmanagements, war sich bereits in den 1940er-Jahren sicher, dass Qualität erzeugt werden muss. Deshalb forderte er: „Suche ständig nach Ursachen von Problemen, um alle Systeme in Produktion und Dienstleistung sowie alle anderen Aktivitäten im Unternehmen beständig und immer wieder zu verbessern!“ [1]. Für Qualitätsstandards sind also die Weiterentwicklung der Prozesse sowie eine systematische Qualitätssicherung zwingend erforderlich.
Fehler dürfen nicht verwaltet, sie müssen am besten vermieden oder möglichst früh entdeckt werden. Etwa Dreiviertel der Produktmängel haben ihre Ursache in der Entwicklung, Konstruktion und Arbeitsvorbereitung [2]. Und je weiter sich ein Fehler unentdeckt in die späten Phasen des Produktionsprozesses bewegt – oder gar bis zum Kunden –, umso höher werden die Kosten zur Behebung dieses Fehlers. Als Faustregel der Fehlerkosten gilt die „rule of ten“: Fehlerkosten für einen nicht entdeckten Fehler erhöhen sich von Stufe zu Stufe der Wertschöpfung um den Faktor 10.
Die Baubranche hat den Entwicklungsprozess der industriellen Fertigung nicht durchlaufen. Einerseits schützt die ortsgebundene Einzelfertigung die vielen kleinen Unternehmen vor globalen Wettbewerbern. Andererseits hat die Osterweiterung des europäischen Binnenmarktes dazu geführt, dass Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit mit günstigen Arbeitskräften steigern konnten. Doch die allmähliche Angleichung der Lohnniveaus in den EU-Staaten zeigt, dass diese Entwicklung langfristig einen gegenteiligen Effekt bewirkt. In Deutschland fehlen immer mehr Facharbeiter und osteuropäische Fachkräfte bleiben bei angleichendem Lohn lieber in ihrer Heimat.
Heutige Anforderungen führen zu Zeit- und Budgetüberschreitungen
Indessen steigen die Anforderungen an Wohn- und Bürogebäude: Wärmedämmung, nachhaltige Baumaterialien, Anforderungen an die Kreislaufwirtschaft, Smart Home, Solaranlagen und Geothermie etc. Damit wächst auch die Komplexität für die Bauindustrie. In diesem Spannungsfeld treten Mängel häufiger auf und führen zu Terminverschiebungen und zusätzlichen Fehlerkosten von schätzungsweise 10 bis 15 Prozent. Denn was vielfach fehlt, ist ein ganzheitliches Qualitätskonzept. Nach Angaben des McKinsey Global Institute dauern Großprojekte mittlerweile 20 Prozent länger als geplant und können bis zu 80 Prozent über dem Budget liegen [3].
Beim seriellen Bauen gelingt die Qualitätssicherung heute schon deutlich besser als in der Einzelfertigung. Die Serienfertigung in einem stationären Umfeld ermöglicht ein Qualitätsmanagement nach industriellen Standards. Um die Produktqualität von Einzelfertigungen nachhaltig zu verbessern bedarf es eines ganzheitlichen Ansatzes, der über die bestehenden Gestaltungsmodelle wie ISO 9001 hinausgeht. Diese Richtlinien betonen lediglich den Überdeckungsgrad von Kundenforderungen und Produkteigenschaften, ohne Audits mit den ausführenden Gewerken, ohne wirksame Konsequenzen oder Verbesserungen.
Mängelvermeidung beginnt, bevor der Bagger anrollt
Mit einheitlichen Qualitätsstandards in den Abläufen der Unternehmen lässt sich die Leistungslücke nachhaltig verringern, also die Diskrepanz zwischen dem geplanten und dem realisierten Ergebnis. Qualität muss von Anfang an Mängel und Fehler vermeiden, bevor der erste Bagger auf die Baustelle rollt. Das kann sich lohnen: Bei deutschen Bauprojekten entstanden 2020 nach Schätzungen jährlich Fehlerkosten von rund 18 Milliarden Euro [4].
Qualitätssoftware im Einsatz
Das Traditionsunternehmen Nesseler Bau hat daher schon seit 2015 sein eigenes digitales Tool im Einsatz, das die Qualität auf Baustellen systematisch sichert. 2021 hat die Aachener Baufirma ein eigenes Softwareunternehmen für diese App ausgegründet; N.core Build ist nach wie vor eine 100-prozentige Tochter der Nesseler Gruppe.
„Im Baugewerbe sind Garantiekosten von zwei Prozent normal“, erklärt Dr.-Ing. Michael Kelleter, Geschäftsfeldleiter Wohnungsbau bei der Nesseler Bau Gmbh. „Das ist eine große Verschwendung. Denn die Höhe der Erlöse aus einem Bauprojekt liegt oft unter drei Prozent.“ Die Notwendigkeit, die Garantiekosten im Baugewerbe zu senken, ist entsprechend groß.
Fokus auf risikokritische Gewerke
Das „Quality-Modul“ der App deckt die für die Qualitätssicherung notwendigen Arbeitsschritte ab: Prüfplan erstellen, Prüfungen durchführen und Ergebnisse auswerten. In einem ersten Schritt, noch vor der Bauausführung, werden risikokritische Gewerke und Details identifiziert. Auf Grundlage der Risikobewertung wird ein spezifischer Prüfplan erstellt, der aus Prüfbausteinen besteht.
N.core Build enthält einen Katalog aus knapp 800 validierten Prüfbausteinen, die individuell zu einem Prüfplan zusammengestellt werden. Hier einige Beispiele:
- Ausführung Trockenbauwand nach DIN 18181: Fugenabstand Türöffnung
- Ausführung Schmutzwasser: Reduzierung der Nennweite nach DIN EN 12056
- Ausführung Trinkwasser: Befestigungsabstand Rohrleitungen senkrecht nach DIN EN 806–4
- Fußbodenheizung: Leitungsführung – Einhaltung der Installationszonen nach DIN 18015–3
- Konstruktiver Stahlbau: Brandschutzbeschichtung Stahlträger – Grundierungsschichtdicke Geschossdecke
- Beton- und Stahlbetonarbeiten: Ausführung Dreikammerwand – Wandfuge Werkplanung
Dieser Prüfplan führt die Baubeteiligten gemäß Bauzeitenplan zum richtigen Zeitpunkt an das richtige Bauteil – sobald ein Prozess eines Gewerks abgeschlossen ist und bevor der nächste beginnt. Sie erhalten das Bausoll, Normen und Details aus den Prüfbausteinen und dokumentieren nach getaner Arbeit die Ergebnisse mit Text oder Spracheingabe und Foto.
Bequemer Zugriff auf Bilder und Dokumente
Aufgenommene Bilder oder erstellte Dokumente legt die Software anhand von Metadaten im Foto- und Dokumentenmanagement automatisch ab. Der Bauleiter hat zu jedem Zeitpunkt einen Überblick über den Baufortschritt, den Status verschiedener Aufgaben und den Bearbeitungsstand des Prüfplans. Er sieht, welche Prüfungen gemäß Bauzeitenplan anstehen und erhält alle erforderlichen und aktuellen Informationen aus den Normen und Vorschriften direkt aufs Smartphone. Egal ob auf der Baustelle, in der Zentrale oder im Homeoffice – die Daten sind überall auf der Welt verfügbar.
Bei Abweichung vom Bausoll oder erfassten Mängeln wird die zuständige Firma vollautomatisch über das System aufgefordert: VOB/BGB-konform und ohne weitere Nacharbeit im Büro. Die Software kann einzelne Anwender sogar aktiv an Fristen oder notwendige Aktivitäten erinnern. Die erfolgreiche Mangelbehebung wird anschließend durch das Gewerk dokumentiert und der Reklamationsmeldung beigefügt.
Erste Erfahrungen aus der Praxis
Bei einer internen Bewertung von Nesseler Bau zeigte sich, wie sich die verbesserte Qualität durch die Bausoftware auf die Kosten ausgewirkt hat: Die Garantiekosten reduzierten sich um 48 Prozent, die Bearbeitungszeit von Mängeln um 36 Prozent. Es entstanden 34 Prozent weniger Gewährleistungsmängel und 56 Prozent weniger Abnahmemängel. Michael Kelleter glaubt, dass sich die systematische Qualitätssicherung in der Baubranche genauso etablieren wird wie in der industriellen Fertigung. „Die Vorteile sind schlichtweg zu groß“, resümiert Kelleter.
Literatur
- [1] Deming, W. Edwards (1986). Out of the Crisis. MIT Press.
- [2] von Regius Bernd (2002.) Die Qualitätskostenanalyse. In: Kostenreduktion in der Produktion. Springer, Berlin, Heidelberg.
- [3] www.mckinsey.com/business-functions/operations/our-insights/imagining-constructions-digital-future
- [4] bauinfoconsult.de/presse-fehlerkostenbilanz-2020-rund-18-milliarden-euro-verbauter-schaden
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