Flug AI171 25.08.2025, 11:45 Uhr

Air-India-Absturz: Wasser im Elektronikraum als Ursache?

Air-India-Absturz in Ahmedabad: Zwei neue Hypothesen beschäftigen sich mit der Katastrophe – bei beiden spielt Wasser eine Rolle.

Air India

Air India steht unter Druck: Nach dem Absturz der 787 werden Flüge ausgesetzt und Triebwerksfragen laut.

Foto: Smarterpix / rarrarorro

Am 12. Juni 2025 hebt eine Boeing 787-8 mit der Flugnummer AI-171 in Ahmedabad ab. Ziel ist London-Gatwick. Nur zwei Minuten nach dem Start stürzt die Maschine ab und trifft ein Wohnheim des BJ Medical College. An Bord sind 242 Menschen, 241 sterben. Am Boden kommen 19 weitere Menschen ums Leben.

Wie konnte es zu diesem Unglück kommen? Offizielle Ermittler, internationale Behörden und unabhängige Experten suchen nach Antworten. Nun hat der Luftfahrtexperte Richard Godfrey eine Hypothese veröffentlicht, die das Bild der Katastrophe verändert. Seine Analyse ordnet das Geschehen neu und legt nahe, dass mehrere Probleme gleichzeitig auftraten. Und auch der Anwalt der Opferfamilien hat eine Hypothese, die ihm von Whistlebowern zugeflüstert worden sein soll.

Start um 13:39 Uhr Ortszeit

Um 13:39 Uhr Ortszeit setzt die Boeing 787-8 ihren Startlauf in Bewegung. Die Maschine wiegt 213 Tonnen, davon 54 Tonnen Kerosin. Die Startbahn misst 3,5 Kilometer. Wetter: 37 °C, Luftdruck 1001 hPa, leichter Wind aus Westsüdwest, Sicht sechs Kilometer. Für ein modernes Langstreckenflugzeug sind das schwierige, aber beherrschbare Bedingungen.

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ADS-B-Daten zeigen: Kurz nach dem Abheben erreicht die Maschine eine Höhe von 190 Metern – etwa 130 Meter über Grund – bei 322 km/h. Das Fahrwerk ist noch draußen. Dann verstummt der Transponder, wenige Sekunden später setzt die Crew einen Notruf ab.

Schon hier fällt auf: Die 787 beschleunigt langsamer als erwartet. Normal wären beim Start rund 0,18 bis 0,21 g. Doch AI-171 kommt nur auf 0,13 g. Ein klarer Hinweis auf zusätzlichen Rollwiderstand. Godfrey vermutet, dass Bremsen nicht vollständig gelöst waren oder zu heiß liefen. Rauchspuren auf Überwachungsvideos stützen diesen Verdacht.

Sekunden der Entscheidung

Drei bis vier Sekunden nach dem Abheben geschieht das Entscheidende: Beide Fuel Control Switches, die die Treibstoffzufuhr zu den Triebwerken regeln, springen auf „Cutoff“. Damit verlieren die Triebwerke sofort an Schub und drehen fast auf Leerlauf. Gleichzeitig fährt die Ram-Air-Turbine (RAT) aus – ein Notfallsystem, das bei Stromausfällen Energie aus dem Fahrtwind erzeugt.

Nach rund zehn Sekunden wird die Treibstoffzufuhr wieder aktiviert. Doch die Höhe reicht nicht mehr aus, damit die Triebwerke erneut genug Schub liefern. Die Boeing verliert an Geschwindigkeit und kracht ins Mensagebäude.

Ein Überlebender berichtet später von flackerndem Kabinenlicht unmittelbar nach dem Start. Auch das deutet auf elektrische Probleme hin.

Stimmen aus dem Cockpit

Die Flugschreiber liefern zentrale Hinweise. Schon am Tag nach dem Absturz bergen Einsatzkräfte den ersten Recorder. Zwei Tage später den zweiten. Zusammen liefern sie 49 Stunden Flugdaten und zwei Stunden Cockpit-Aufzeichnungen.

Auf dem Stimmenrekorder findet sich ein Dialog, der viele Fragen aufwirft:
„Why did you cutoff?“ – „I didn’t do it.“

Wer diese Sätze sprach, ist nicht klar. Der Tonfall bleibt ruhig. Für die US-Transportsicherheitsbehörde NTSB deutet die Aufnahme auf einen menschlichen Eingriff hin. Die indische Behörde AAIB mahnt dagegen, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

Godfrey bringt eine weitere Möglichkeit ins Spiel: Durch widersprüchliche Anzeigen oder Stromausfälle könnten die Piloten den Eindruck gewonnen haben, die Schalter betätigen zu müssen. Stress, Missverständnisse oder die Hoffnung auf einen Neustart der Triebwerke seien mögliche Erklärungen.

Air India AI171 – Vorläufiger Unfallbericht (12.06.2025)

Quelle: Preliminary Report der Aircraft Accident Investigation Bureau (AAIB), Government of India.

Allgemeine Angaben

  • Flugzeug: Boeing 787-8 (VT-ANB), Baujahr 2013
  • Betreiber: Air India
  • Flug: AI171, Ahmedabad → London Gatwick
  • Unfallzeitpunkt: 12. Juni 2025, 08:09 UTC (13:39 IST)
  • Ort: nahe Flughafen Ahmedabad, Aufschlag in Gebäude der BJ Medical College Hostels
  • Insassen: 230 Passagiere, 12 Crew
  • Opferbilanz: 260 Todesopfer (12 Crew, 229 Passagiere, 19 Personen am Boden), 68 Verletzte

Unfallhergang

  • Nach normalem Startlauf hob die Maschine um 08:08:39 UTC ab.
  • Kurz danach gingen beide Triebwerke fast gleichzeitig in Leerlauf, da die Fuel Control Switches von „RUN“ auf „CUTOFF“ wechselten.
  • In den Voice-Recordern ist zu hören, dass die Piloten sich fragten, warum die Schalter umgelegt wurden – beide bestritten, dies getan zu haben.
  • Die Maschine verlor sofort an Höhe, Ram Air Turbine (RAT) fuhr aus, die Piloten versuchten eine Neustartsequenz.
  • Triebwerk 1 konnte sich teilweise erholen, Triebwerk 2 nicht.
  • Um 08:09:05 UTC meldete die Crew „MAYDAY“. Wenige Sekunden später stürzte das Flugzeug ab.

Wichtige technische Aspekte

  • Beide Fuel Control Switches wurden kurz nach dem Start ungewollt auf „CUTOFF“ gestellt.
  • Ein US-Sicherheitsbulletin (SAIB 2018) warnte bereits vor Problemen mit der Arretierung dieser Schalter bei Boeing-Mustern.
  • Air India hatte die Empfehlung nicht umgesetzt, da sie nur beratenden Charakter hatte.
  • Flugdatenschreiber und Cockpit Voice Recorder (EAFR) wurden geborgen, Daten konnten teilweise gesichert werden.
  • Keine Hinweise auf Vogelschlag oder Treibstoffverunreinigung.
  • Wartungshistorie: mehrere Minimum Equipment List (MEL)-Einträge, jedoch innerhalb der zulässigen Fristen.

Schäden

  • Flugzeug vollständig zerstört.
  • Mindestens fünf Gebäude stark beschädigt oder ausgebrannt.
  • Große Trümmerverteilung auf 1000 x 400 ft.

Hier geht es zum vorläufigen Untersuchungsbericht (PDF)

 

Suizid oder technisches Problem?

Unmittelbar nach dem Absturz wurde spekuliert, die Piloten könnten die Triebwerke absichtlich abgeschaltet haben. Ein Suizid wurde nicht ausgeschlossen. Der Kapitän, Sumeet Sabharwal (55), und der Erste Offizier Clive Kunder (32) galten jedoch als erfahren und unauffällig. Sabharwal hatte 15.600 Flugstunden, davon 8.600 auf dem Dreamliner, und arbeitete als Ausbilder. Kunder kam auf 3.400 Stunden. Beide hatten am Vortag ausreichende Ruhezeiten.

Viele Fachleute zweifeln daher an der Theorie vom Suizid. Stattdessen rücken technische Ursachen in den Vordergrund.

 

Hypothese: Wasser im Elektronikraum

Besonders brisant ist eine These, die sowohl vom Anwalt Mike Andrews als auch vom Luftfahrtexperten Richard Godfrey vertreten wird. Demnach könnte Wasser aus einer Bordtoilette in den Elektronikraum – den sogenannten EE-Bay – gelangt sein. Dort sind zentrale Systeme für die Steuerung und Stromversorgung der Triebwerke untergebracht.

Ein Kurzschluss durch Feuchtigkeit könnte einen gravierenden Stromausfall ausgelöst haben. Tatsächlich war auf dem Vorflug von AI-171 von elektrischen Problemen die Rede, unter anderem flackernde Notbeleuchtung und Störungen beim Höhenleitwerk.

Godfrey verweist darauf, dass die Ram-Air-Turbine genau zwei Sekunden vor der Abschaltung der Triebwerke automatisch aktiviert wurde. Für ihn ein starkes Indiz: „Die beidseitige Abschaltung der Triebwerke ging zeitlich mit dem elektrischen Notfall – der Einschaltung der Ram Air Turbine – einher.“

Er spricht in seinem 17-seitigen Bericht von der „wahrscheinlichsten Unfallursache“. Gleichzeitig schränkt er ein: „Es ist eine plausible Hypothese, aber unbewiesen.“

Warnung der FAA vor dem Unglück

Ein Detail macht die Theorie noch brisanter: Nur wenige Wochen vor dem Absturz veröffentlichte die US-Luftfahrtbehörde FAA eine Richtlinie, die ausdrücklich vor Wassereintritt in die Elektronik von Boeing-787-Jets warnte. Betreiber wurden aufgefordert, die Feuchtigkeitsschutzsysteme zu überprüfen.

Für die Angehörigen wirkt dies wie eine verpasste Chance. Hätten strengere Kontrollen den Unfall verhindern können?

 

Hypothese von Richard Godfrey zum Air-India-Absturz

Langsamer Start: Nur 0,13 g Beschleunigung statt üblich 0,18–0,21 g – Hinweis auf Bremswiderstand.
Elektrikversagen: Sekunden nach dem Abheben Stromausfall, Auslösung der Ram-Air-Turbine.
Manuelle Schalter: Beide Treibstoffschalter werden fast zeitgleich auf „Cutoff“ gestellt.
Wasser im EE-Bay: Mögliches Eindringen von Feuchtigkeit in den Elektronikraum, Kurzschluss als Auslöser.

Fazit: Eine Verkettung von drei Problemen führte in weniger als 30 Sekunden zur Katastrophe.

Hier lässt sich die komplette Hypothese herunterladen

 

Anwälte bereiten Klagen vor

Mike Andrews vertritt mehr als 90 Familien von Opfern. Er prüft eine Klage gegen Boeing. „Es gibt nicht genügend Beweise dafür, dass der Absturz auf einen Pilotenfehler zurückzuführen sei“, sagt er. Sollte sich ein technischer Defekt bestätigen, könnte eine Klage wegen fehlerhafter Produkte folgen.

Andrews verweist auch auf vier Whistleblower, die ihm technische Hinweise gegeben hätten. Seine Kanzlei will die Daten des Flugdatenschreibers anfordern, um eine eigene Rekonstruktion zu erstellen.

Verkettung mehrerer Probleme

Für Godfrey ergibt sich ein Bild aus mehreren Ursachen, die sich in Sekunden überlagerten:

  • ein langsamer Start durch Bremswiderstand,
  • ein Stromausfall nach dem Abheben,
  • das manuelle Umlegen der Treibstoffschalter.

Jedes Problem für sich wäre möglicherweise beherrschbar gewesen. Gemeinsam aber führten sie unweigerlich ins Desaster. Der Flug dauerte nur 30,715 Sekunden.

Behörden unter Druck

Die US-Luftfahrtbehörde FAA betont, es handele sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um ein rein technisches Problem. Diese Einschätzung sorgt in Indien für Kritik. Dort pochen die Behörden darauf, alle Optionen offenzuhalten.

Zugleich rückt ein älteres Thema wieder in den Fokus: Schon 2018 warnte die FAA, dass Treibstoffschalter fehlerhaft installiert sein könnten. Auch wenn damals keine Pflichtüberprüfung angeordnet wurde, bleibt die Frage: Hätte eine konsequentere Kontrolle die Katastrophe verhindern können?

Forderung nach Cockpit-Kameras

Der Chef des internationalen Luftfahrtverbands Iata, Willie Walsh, fordert Konsequenzen. „Es gibt gute Gründe für Kameras im Cockpit“, sagt er. Videoaufnahmen könnten die Ermittlungen künftig erleichtern und Missverständnisse verhindern.

Viele Pilot*innen stehen solchen Vorschlägen skeptisch gegenüber. Dennoch wächst der Druck, mehr Einblick in die Abläufe zu ermöglichen.

Internationale Airlines ziehen Konsequenzen

Die Schockwellen des AI171-Absturzes reichen weit über Indien hinaus. Weltweit reagieren Fluggesellschaften auf die neuen Erkenntnisse – mit konkreten Maßnahmen. Lufthansa etwa ließ ihre Boeing-787-Flotte vorsorglich erneut überprüfen. Im Fokus: die Kraftstoffschalter. „Es gibt keinen Befund, es ist alles in Ordnung“, erklärte ein Lufthansa-Sprecher. Bereits 2018 hatte die Airline auf die damalige Empfehlung der US-Luftfahrtbehörde FAA reagiert und eine Überprüfung vorgenommen – auch damals ohne Auffälligkeiten.

Auch die österreichische Tochtergesellschaft Austrian Airlines hat ihre Dreamliner kontrollieren lassen. Ähnlich äußerten sich andere internationale Betreiber des Typs. Die australische Qantas und die japanische ANA teilten mit, die entsprechenden Bauteile bereits 2018 inspiziert zu haben. Singapore Airlines erklärte, dass sowohl die eigene Flotte als auch die der Tochter Scoot nach den neuesten Vorfällen erneut untersucht wurden – mit positivem Ergebnis: Alle Systeme arbeiteten einwandfrei.

Ermittlungen dauern an

Die indische AAIB untersucht den Fall gemeinsam mit Boeing, der FAA, der NTSB und britischen Fachleuten. Einige Szenarien haben sie bereits ausgeschlossen – ein Softwarefehler in beiden Triebwerken, ein Brand der Lithium-Batterien oder ein Feuer im Heck.

Der endgültige Bericht wird in einigen Monaten erwartet. Ob er die vielen offenen Fragen beantworten kann, bleibt abzuwarten.

Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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