Standseilbahn-Unglück in Lissabon: Warum versagte das Zugseil?
Erste Einschätzung nach dem Standseilbahn-Unglück in Lissabon: Zugseil gab nach, Bremsen versagten. 16 Tote, 21 Verletzte.
Das Unglück im Herzen von Lissabon: Der Elevador da Glória liegt zertrümmert auf der Straße.
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Drei Tage nach dem Unfall liegt die erste Einschätzung der staatlichen Unfalluntersuchung vor. Im Zentrum steht die Verbindung zwischen dem Zugseil und der talwärts fahrenden Kabine. Genau an diesem Befestigungspunkt gab das Kabel nach – und das System verlor sein Gleichgewicht. Der Wagen beschleunigte bergab, die Bremsen griffen nicht ausreichend, und die Kollision mit dem Gebäude wurde unausweichlich.
Inhaltsverzeichnis
Brutale Chronologie
Die Abfolge ist erschreckend kurz: Beide Kabinen setzten sich in Bewegung, doch nach wenigen Metern fiel die Zugkraft aus. Der Wagenführer zog pneumatische sowie Handbremse. Trotzdem nahm die Geschwindigkeit weiter zu. Nach nicht einmal einer Minute prallte die Kabine mit rund 60 km/h gegen ein Gebäude.
Die Bilanz ist verheerend: 16 Menschen kamen ums Leben, 21 wurden verletzt. Unter den Toten befanden sich Reisende aus Portugal, Großbritannien, Kanada, Südkorea, der Schweiz, der Ukraine, Frankreich und den USA. Ein zunächst unter den Opfern vermuteter Deutscher konnte später lebend im Krankenhaus identifiziert werden.
Das Zugseil im Detail
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Zugseil. Es handelt sich um eine 6×36-Seilkonstruktion mit Faserkern (FC): sechs Litzen mit je 36 Stahldrähten, die um einen Faserkern geschlagen sind. Nenndurchmesser: 32 Millimeter, angenommene Bruchlast: etwa 68 Tonnen. Der Seiltyp ist seit sechs Jahren im Einsatz, das betroffene Seil lief am Unfalltag seit 337 Tagen – von geplanten 600 Tagen Lebensdauer.
Kurz erklärt: 6×36-FC ist ein verbreiteter Industriestandard, wenn hohe Flexibilität gefordert ist. Viele dünne Drähte pro Litze verteilen die Biegewechselbelastung besser als wenige dicke. Der Faserkern dämpft Schwingungen und nimmt Schmierstoff auf. Nachteile sind die geringere Bruchlast und ein höheres Risiko von Verschleiß bei Feuchtigkeit oder Schmutz.
Die zentrale Frage lautet: Riss das Seil selbst – oder versagte die Endverbindung am Wagen? Laut Behörde gab es ein Nachgeben „am Befestigungspunkt“. Dort sind unterschiedliche Lösungen üblich: Keilgarnituren, vergossene Seilendköpfe oder Klemmen. Jede Variante bringt eigene Prüf- und Montagevorschriften mit sich. Genau hier setzt die Untersuchung an.

Rettungskräfte bergen Verletzte nach dem schweren Unglück des Elevador da Glória in Lissabon – der Wagen liegt zerstört an der Rua da Glória.
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Grenzen des Bremssystems
Standseilbahnen folgen einem einfachen Prinzip: Zwei Wagen sind über ein Seil gekoppelt, einer fährt bergauf, der andere bergab. Fällt diese Kopplung weg, fehlt das Gegengewicht. Die talwärts rollende Kabine muss dann allein durch die Bremse gestoppt werden.
In Lissabon war diese Redundanz offenbar nicht vorgesehen. Der erste Befund ist deutlich: Die vorhandenen Bremsen waren nicht darauf ausgelegt, die Kabine ohne Gegengewicht sicher zum Stillstand zu bringen.
Moderne Systeme setzen oft auf zusätzliche Klemmbremsen, die sich direkt an der Schiene festkrallen, wenn Geschwindigkeit oder Seildurchhang erkannt werden. Ob ein solches System in Lissabon installiert war, ist noch offen. Fest steht nur: Der Wagenführer bremste – doch es genügte nicht.
Technische Belastungsgrenzen
Was bedeutet eine Bruchlast von 68 Tonnen bei 32 Millimetern Durchmesser? Es ist die Mindestlast, bei der ein neues, korrekt montiertes Seil im Test reißt. Im Alltag zählt jedoch die Sicherheitszahl – das Verhältnis zwischen tatsächlich auftretender Seilkraft und Bruchlast. Im Personentransport liegt sie in der Regel deutlich über vier.
Diese Reserve nimmt mit der Zeit ab: durch Biegewechsel, Feuchtigkeit, Abrieb, Korrosion, mangelhafte Schmierung oder ungleichmäßige Führung. Entscheidend ist auch die Endverbindung.
Ein perfekt produziertes Seil nützt wenig, wenn der Abschluss falsch montiert oder konstruktiv unzureichend ist. Kerbspannungen, Korrosion unter Klemmen oder fehlerhafte Keilköpfe mindern die Tragfähigkeit erheblich. Welche Kombination in Lissabon wirkte, klären erst Laborbefunde und Prüfberichte.
Wartung und Verantwortung
Der Betreiber Carris verweist auf regelmäßige Kontrollen – täglich, wöchentlich, monatlich sowie in größeren Intervallen. Für den Unglückstag liegt eine Sichtprüfung vor. Doch die Bruchstelle befand sich unter einem Bauteil, das ohne Demontage nicht einsehbar war.
Hinzu kommt: Eine geplante Instandhaltung für Lissabons vier Standseilbahnen wurde Ende August wegen fehlender Budgettreue bei den Angeboten aufgehoben. Nun soll neu ausgeschrieben werden. Ob das Unglück damit in Verbindung steht, ist offen. Klar ist jedoch: Ausschreibungen, Kalkulationen und die Sicherheitsreserven historischer Systeme hängen eng zusammen.

Der Tag nach dem Unglück: Blick auf die völlig zerstörte Standseilbahn. Auf der Gegenfahrbahn steht eine verlassene Elevador da Glória.
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Funktionsweise der Glória
Die Glória verläuft über 265 Meter mit einer Steigung von 17 bis 18 Prozent. Zwei Wagen teilen sich die Strecke, das Zugseil läuft oben über eine Umlenkrolle. Das Prinzip: Gegengewicht statt Einzelantrieb. Dadurch ist der Energiebedarf geringer als bei zwei unabhängigen Fahrten. Die Wagen sind schräg gebaut, damit Boden und Sitze im Inneren waagerecht bleiben.
Der Elevador da Glória wurde 1885 eröffnet und gehört zu einem Trio mit den Bahnen Bica und Lavra. Entworfen wurde er von Raoul Mesnier du Ponsard. Die heutigen Wagen stammen – modernisiert – aus der Maschinenfabrik Esslingen. Das erklärt, warum das Unglück auch in Deutschland Aufmerksamkeit weckt: Viele heimische Standseilbahnen gehen auf die gleiche Tradition zurück.
Sicherheit im Vergleich
Standseilbahnen gelten weltweit als zuverlässige Verkehrsmittel. Die Fahrwege sind kurz, die Systeme überschaubar, die Technik erprobt. In Deutschland laufen mehrere Anlagen seit Jahrzehnten mit engmaschigen Prüfzyklen und Notfallübungen – etwa in Baden-Baden, Dresden oder Stuttgart. Dort gehören Seilriss-Szenarien zur Routine: Wagen werden über Klemmbremsen oder Sicherheitslogiken zuverlässig gestoppt.

Der Elevador da Glória in Lissabon – hier noch unversehrt. Das historische Wahrzeichen verbindet seit 1885 die Unterstadt Baixa mit dem Bairro Alto.
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Zeugenberichte
Was die Menschen vor Ort erlebten, lässt sich schwer in Worte fassen. „Der Waggon traf ein Gebäude mit brutaler Kraft und fiel auseinander wie ein Pappkarton“, berichtete ein Augenzeuge. „Ich hörte einen lauten Knall und dann die Schreie der Menschen“, schilderte ein Anwohner im Fernsehen.
Eine Frau sagte: „Die Bahn war mit voller Geschwindigkeit unterwegs, sie hatte keine Bremsen.“ Diese Stimmen zeigen, wie schnell ein vertrautes System außer Kontrolle geraten kann.
War die Katastrophe vermeidbar?
Ob sich die Tragödie hätte verhindern lassen, ist derzeit offen. Wir wissen, an welcher Stelle die Kette riss. Wir kennen die Eckdaten zu Seil und Bremsen. Wir wissen, dass der Wagenführer sofort reagierte.
Ob jedoch Konstruktionsfehler, mangelhafte Instandhaltung, fehlende Aufsicht oder eine unglückliche Kombination all dessen zum Unglück führten – das wird erst die detaillierte Analyse zeigen. Ein vorläufiger Bericht wird in wenigen Wochen erwartet, der Abschlussbericht in etwa einem Jahr. Bis dahin bleibt die Glória außer Betrieb. Die Stadt trauert.
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