Umwelt 15.10.2010, 19:49 Uhr

„Hier sieht es aus wie auf dem Mars“

Am 4. Oktober erlebte Ungarn seine bislang schlimmste Umweltkatastrophe. Der Damm eines Absetzbeckens einer Aluminiumoxidfabrik war gebrochen. 40 km2 Land wurden von verdünntem Rotschlamm überflutet. Über die langfristigen Folgen für Mensch und Natur streiten sich die Experten – zumal eine weitere Flutwelle nicht ausgeschlossen wird. Auch die Schuldfrage ist offiziell noch nicht geklärt. Die Politik greift aber bei den Firmeneignern hart durch.

Mária Kolompár, alleinerziehende Mutter von fünf Kindern, ist gerade dabei, das Essen zuzubereiten. Plötzlich sind Warnsirenen zu hören. Polizisten rennen durch die Straßen. Alle Bewohner von Devecser werden aufgefordert, sofort ihre Häuser zu verlassen. In der westungarischen Stadt macht sich Angst breit. Schnell spricht sich rum: Großes Unheil rollt auf die 6000 Einwohner zu – in Form einer roten Schlammflut.

„Als ich die Welle in der Ferne sah, habe ich meine zwei kleinsten Kinder geschnappt und bin losgerannt“, erinnert sich Mária. Beim Erzählen bricht immer wieder ihre Stimme. „Wir konnten uns gerade noch auf eine Anhöhe retten.“ Geschockt wird sie Zeuge, wie der dünnflüssige Brei über die Landschaft schießt. Ihr kleines Haus wird nie wieder bewohnbar sein. Die Lehmwände, die standhielten, haben den giftigen Schlamm aufgesaugt. In einem Bündel trägt sie nun, was ihr von ihrem Hab und Gut noch blieb: Ein paar Kleider – und Windeln für die Kleinsten. „Was soll ich jetzt tun? Wo sollen wir hin?“, fragt sie verzweifelt. „Ich kann nur hoffen, dass Gott uns beisteht.”

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Entsprungen war die Flut, die eine Fläche von insgesamt rund 40 km2 überspülte, am Rande der nur wenige Kilometer entfernten Stadt Ajka. Dort unterhält das Unternehmen Magyar Alumínium Zrt. (MAL) eine Aluminiumoxidfabrik. Zu ihr zählen gewaltige Absetzbecken. Eines davon war geborsten. Aus dem insgesamt knapp 2 km langen Damm hatte ein etwa 40 m breites Teilstück dem Dauerdruck nicht mehr standgehalten. Laut Schätzungen strömten danach rund 700 000 m3 des laugigen Rotschlamms (siehe Kasten) aus dem riesigen Reservoir. Sie krachten in den nahe gelegenen Bach Torna, wodurch sich Wucht und Höhe der Flut potenzierten. Nach nur einer halben Stunde waren neben Devecser auch die Ortschaften Kolontár und Somlóvásárhely teilweise verwüstet.

In Devecser erfasste die Schlammlawine rund 200 Wohnhäuser, in Kolontár wurden 35 Häuser überflutet. Die Zahl der Todesopfer liegt derzeit bei neun, knapp 150 Personen wurden verletzt, sieben davon schwer. Die Verletzungen waren ausnahmslos Verätzungen, die vom alkalischen Rotschlamm verursacht wurden. In den ersten Tagen nach der Katastrophe wurden die Schäden vom ungarischen Umweltstaatssekretär Zoltán Illés mit 10 Mrd. Forint (rund 36,6 Mio. €) beziffert.

Wie es zu der Katastrophe kommen konnte, ist bisher nicht zweifelsfrei geklärt. MAL weißt jede Mitschuld von sich. Nach Darstellung der Firma kam einer der Ränder des Absetzbeckens auf dem völlig durchnässten lehmigen Untergrund „ins Rutschen”, nachdem es in den Wochen zuvor überdurchschnittlich viel geregnet hatte. Medienberichte, wonach das lecke Absetzbecken heillos überfüllt gewesen sei, wurden dementiert. Angeblich war die Kapazität nur zu „72 % bis 75 %” ausgenutzt.

Insgesamt besteht die Absetzanlage aus zehn Becken. Sie erstreckt sich auf einer Fläche von rund 170 ha. Das Unglücksbecken mit der Nummer 10 war das einzige Becken, in das noch Rotschlamm abgelagert wurde. Über das Volumen der Absetzanlage gibt es keine aktuellen Daten. Im Jahr 2001 wurde der bereits abgelagerte Rotschlamm auf rund 30 Mio. t geschätzt. Jährlich würden etwa 600 000 t hinzukommen.

Die Absetzanlage wurde in den 80er Jahren aus rund 30 Mio. t Grauschlacke sowie Flugasche auf einer etwa 10 m starken Lehmschicht errichtet. Die Dämme sind am Fuß 20 m stark, an den Kronen sind es noch mindestens 10 m. Sie haben eine Höhe von bis zu 30 m. Der in die Becken gepumpte Rotschlamm wird zunächst abgedeckt und von Wasser überspült, um Staubbildung zu vermeiden. Hat sich der Rotschlamm einmal abgelagert, kann dessen „Rekultivierung” begonnen werden. Bisher war es so, dass diejenigen Becken, in denen sich der Rotschlamm bereits abgesetzt hatte, nach und nach mit Grauschlacke, dem Abwasserschlamm der nahe gelegenen Stadt Ajka und später mit Ackererde und Gras bedeckt wurde.

Schon wenige Tage nach der Katastrophe haben sich an der lecken Außenwand des Beckens Nummer 10 neue Risse gebildet, die sich sukzessive vergrößerten. Da diese Risse in Bodennähe sind, könnte im Falle eines neuen Lecks der sich am Grund des Beckens abgesetzte dickflüssigere Rotschlamm austreten. Er würde zwar langsamer abfließen, hätte aber in der unmittelbaren Umgebung eine noch größere Zerstörungskraft. Verschärft wird die Situation auch durch den wachsenden Druckunterschied zwischen den Becken 9 und 10. Bricht die Innenwand, käme es zu einer weiteren Flutwelle. Um dies zu verhindern, versucht man, den Druckunterschied durch das Abpumpen von Wasser aus Becken 9 zu senken.

Sollte dieser Versuch fehlschlagen, wären die Ortschaften Kolontár und Devecser diesmal allerdings geschützt. Innerhalb von nur wenigen Tagen wurde ein Schutzwall aus Dolomitgestein und Mergelerde errichtet. Der in Rekordzeit aufgebaute Damm ist 4 m hoch, 1550 m lang und am Fuß 30 m breit. Die Dammkrone ist 8 m breit. Dieser Wall soll nicht nur kurz-, sondern auch langfristig einen Schutz gegen die Gefahr bieten, die von der Absetzdeponie ausgeht.

In den Tagen nach der Katastrophe rankten sich viele Spekulationen um den rostigroten Schlamm. Während einige Medien davon berichteten, dass der Rotschlamm hochgiftig, ja sogar radioaktiv sei, hieß es aus der Leitung der Firma MAL, dass der Schlamm „harmlos” sei. Einer der Firmenchefs ließ sich zu dem Satz hinreißen, dass im Schlamm sogar gebadet werden könne. Ungarns Innenminister Sandor Pinter forderte ihn darauf hin verärgert auf, es vorzumachen.

Gefährlich ist der Rotschlamm nicht zuletzt wegen seines Natronlaugegehalts. Der bei Ajka deponierte Rotschlamm hat einen Natronlaugeanteil von 5 % bis 8 %. Die Natronlauge (oder Natrium-Hydroxid) ist ein in hohem Maße basischer Stoff, der vor allem in der Papier- und Textilindustrie, bei der Seifen- und Waschmittelherstellung und in der Chemieindustrie verwendet wird. Kommt sie in starker Konzentration vor, kann sie aufgrund ihrer ätzenden Wirkung Verbrennungswunden verursachen – nicht umsonst wird die Natronlauge auch als Ätznatron bezeichnet.

Äußerst gefährlich ist die Natronlauge auch für die Augenschleimhäute. Kommt sie in konzentrierter Form mit den Augen in Berührung, kann sie sogar blind machen. Etlichen Tieren in Devecser droht dieses Schicksal. Helfen kann nur schnelles reinigen. Deshalb haben sich Tierschützer inzwischen vor dem Bürgermeisteramt postiert und behandeln Hunde, Katzen, Hühner und Truthähne. Sogar eine Schildkröte bekam schon eine Augenwäsche.

Da die Natronlauge in der Schlammflut anfangs noch in hochkonzentrierter Form enthalten war (pH-Wert 13-14), wurde jegliches Leben in den betroffenen Abschnitten der Bäche Torna und Marcal zerstört. Indem es gelungen war, die im Rotschlamm enthaltene Natronlauge durch Gips, Bittersalz und Eisenvitriol zu neutralisieren, konnte in den Flüssen Raab und Donau ein Massensterben verhindert werden. Auch in trockener Form ist der Rotschlamm gefährlich. So kann er aufgrund seines Natronlaugegehalts die Atemwege irritieren. Zwei Kinder von Mária Kolompár leiden an Asthma. Sie befürchtet nun, dass sich die Symptome verschärfen werden.

Neben der großen Anteilnahme mit den Opfern und Leidtragenden der Rotschlammkatastrophe herrschte in Ungarn in den vergangenen Tagen auch helle Empörung. Der Zorn vieler Menschen richtet sich auf die Chefetage von MAL. Bisher hat das Unternehmen allen Leidtragenden der Schlammkatastrophe lediglich eine Soforthilfe von 100.000 Forint versprochen. Das sind rund 400 €. In den Augen vieler Menschen, insbesondere der Opfer, ist diese Summe viel zu gering. Zumal in der Chefetage von MAL drei der hundert reichsten Personen Ungarns sitzen. Lajos Tolnay, der 40 % der Anteile an MAL hält, verfügt angeblich über rund 92 Mio. €. Jeweils 30 % an MAL halten die Familie Bakonyi sowie Béla Petrusz. Beide Parteien verfügen angeblich über ein Vermögen von je 64 Mio. €.

Der Umsatz von MAL belief sich im Jahr 2009 auf rund 113 Mio. €. Im Jahr 2007, also vor der Wirtschaftskrise, waren es sogar noch über 225 Mio. €. MAL gilt mit über 1000 Mitarbeitern in der Region als größter Arbeitgeber.

Generaldirektor Zoltán Bakonyi wurde am Montag wegen des Verdachts auf „Umweltschädigung und Massengefährdung mit mehrfacher Todesfolge“ festgenommen. MAL ist inzwischen verstaatlicht. Das ungarische Parlament stimmte in der Nacht zu Dienstag in einem Eilverfahren einem entsprechenden Gesetzesentwurf zu.

Am Schreckensszenario in Kolontár ändert das erstmal nichts. Rentner János Varga blickt über die roten Straßen und stellt resigniert fest: „Hier sieht es aus wie auf dem Mars.“

PETER BOGNAR/dapd/sta

Rotschlamm aus der Aluminium(oxid)herstellung

-Wirtschaftlich lässt sich Primär-Aluminium (Hüttenaluminium) heute nur aus Bauxit gewinnen. Um aus dem Erz das Zwischenprodukt Aluminiumoxid zu gewinnen, wird es in Natronlauge gelöst. Dabei entsteht Rotschlamm als Abfallprodukt.

-Rotschlamm besteht vor allem aus dem farbgebenden Eisenoxid. Der Schlamm in Ungarn enthält außerdem nach Angaben der Verursacherfirma MAL noch Siliziumdioxid, Calciumoxid, Titandioxid und Natriumoxid. Außerdem kann Rotschlamm auch Schwermetallen wie Arsen, Blei, Cadmium, Chrom, Vanadium oder Quecksilber enthalten. Das ist abhängig von Herkunft und Art des Bauxits. Laut Greenpeace enthalten 1 kg Trockenmasse des ausgetretenen Rotschlamms 110 mg Arsen, 1,3 mg Quecksilber sowie 660 mg Chrom.

-Aluminiumoxid wird durch Schmelzflusselektrolyse nach dem Kryolith-Tonerde-Verfahren zu Aluminium. Pro Kilogramm Aluminium fallen rund 1,5 kg Rotschlamm an.

-In Deutschland verarbeitet nur noch die Aluminium Oxid Stade GmbH Bauxit als Rohstoff für die Aluminium-Produktion. Dessen Rotschlammdeponie liegt bei Bützflethermoor in Niedersachsen. Bis in die 90er-Jahre gab es noch mehrere vergleichbare Werke. „Deren Abfalldeponien befinden sich im Stadium der rekultivierung oder sind schon rekultiviert“, erklärt Georg Wolter, Sprecher des Martinswerks in Bergheim bei Köln. Die Rotschlammdeponie dieses Werkes sei in einer Erdmulde angelegt worden, sodass es nicht zu einem Dammbruch kommen könne.

-Zur Rekultivierung wird der Rotschlamm von der enthaltenen Natronlauge getrennt und mit Gips angereichert, um den ph-Wert zu senken. Für eine Rekultivierung in Weideland ist es erforderlich, Mutterboden aufzutragen. Neutralisierter Rotschlamm kann auch als Farbstoff für rote Deckfarbe, Füllstoff im Straßenbau und Ausgangsmaterial für Keramik verwendet werden.

-Rohaluminium wird hierzulande vor allem aus Sekundäraluminium gewonnen, also durch Recycling. 2009 entstanden so laut Gesamtverband der Aluminiumindustrie 560 800 t. Dem stehen 291 700 t Primäraluminium gegenüber. dapd/sta

Ein Beitrag von:

  • Stefan Asche

    Stefan Asche

    Redakteur VDI nachrichten
    Fachthemen: 3-D-Druck/Additive Fertigung, Konstruktion/Engineering, Logistik, Werkzeugmaschinen, Laser

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