Tschernobyl: Experten machen besorgniserregende Entdeckung
35 Jahre nach der Katastrophe im AKW Tschernobyl haben Fachleute Messungen vor Ort durchgeführt. Erste Ergebnisse verheißen nichts Gutes.

Ein verlassener Kindergarten in der Geisterstadt Prypjat nahe dem Atomkraftwerk Tschernobyl: Noch immer gibt es strahlende Staubpartikel rund um das Katastrophengebiet.
Foto: Panthermedia.net/enolabrain
Eine Minute, die alles veränderte: Um exakt 1.23 Uhr am 26. April 1986 ereignete sich in Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl das, was später als der erste katastrophale nukleare Unfall klassifiziert werden würde. Der Reaktor explodierte nach einem fehlgeschlagenen Experiment, mindestens 50 Menschen starben unmittelbar nach der Katastrophe im Atomkraftwerk, Tausende weitere erkrankten wegen der freigesetzten Strahlung: Die Zahl der anzunehmenden Opfer schwankt zwischen 4.000 und 100.000. Hunderttausende Menschen wurden zwangsumgesiedelt, große Gebiete in der Ukraine, Belarus und Russland sind verstrahlt.
Die Menschen von Tschernobyl: „Wir haben Angst, vergessen zu werden“
Die Folgen der Katastrophe von Tschernobyl sind bis heute sogar hierzulande zu spüren. Erst vor wenigen Tagen hat das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) auf radioaktiv belastete Pilze in Wäldern aufmerksam gemacht. Demnach weisen vor allem in Süddeutschland manche Pilzarten stark erhöhte Mengen des radioaktiven Isotops Cäsium-137 auf, das noch immer aus dem Reaktorunfall in Tschernobyl vor 35 Jahren stammt.
Tschernobyl: Gefahr ist längst noch nicht verschwunden
Jetzt haben Experten festgestellt: Das ehemalige sowjetische Atomkraftwerk in Tschernobyl strahlt noch immer. Auch Fachleute aus Deutschland vom Bundesamt für Strahlenschutz sind in den Norden der Ukraine gereist, um mit Kollegen vor Ort eine neue Karte mit der Strahlenbelastung zu erstellen. Erste Ergebnisse deuten an, dass die Gefahr längst nicht verschwunden ist.
„Radioaktivität macht an Grenzen nicht halt. Deshalb müssen wir auch auf Unfälle im europäischen Ausland vorbereitet sein und bei der Bewältigung eines Unfalls grenzüberschreitend zusammenarbeiten. Es ist uns ein Anliegen, mit unserer Expertise internationale Partner-Organisationen zu unterstützen“, so BfS-Präsidentin Inge Paulini.
Unter anderem mit Hubschraubern der Bundespolizei waren die Experten in der Luft nahe dem Unglücksort unterwegs, um die radiologischen Situation in der 2600 Quadratkilometer großen ukrainischen Sperrzone (das entspricht etwa der Fläche Saarlands) zu untersuchen. Dafür wurde die Sperrzone in kleinere Gebiete unterteilt, die nach und nach systematisch überflogen wurden. Die deutschen Fachleute arbeiteten eng mit dem staatlichen Unternehmen SSE Ecozentr zusammen, das zusätzlich Mess-Drohnen in den Bereich schickte.
Hubschrauber dürfen nicht über dem AKW fliegen
Direkt über dem Tschernobyl Reaktor, der seit 2016 von einer rund zwei Milliarden Euro teuren Stahlhülle ummantelt ist, durften die Hubschrauber allerdings nicht fliegen, weil den ukrainischen Behörden das Risiko eines Absturzes zu groß ist. Zusätzlich waren Teams aus aus Mitarbeitern des Katastrophenschutzes des westukrainischen Atomkraftwerks Riwne und des deutschen Bundesamts für Strahlenschutz bestehenden am Boden unterwegs um 200 Messpunkte zu untersuchen.

Ein Stahlmantel umhüllt seit 2016 den explodierten Reaktor des AKW Tschernobyl.
Foto: European Bank for Reconstruction and Development (EBRD)
Die genauen Ergebnisse der Messungen sollen im April auf einer Fachtagung präsentiert werden. Doch schon jetzt ist klar, dass die Cäsiumverteilung derjenigen ähnelt, die bereits in den 90er Jahren festgestellt wurde.
Solarkraftwerk neben dem AKW Tschernobyl
Das zum Biosphärenreservat erklärte Gebiet ist inzwischen trotz solcher Messergebnisse nicht mehr komplett menschenleer. „Unser Ziel ist heute, die Sperrzone als Territorium der Entfremdung in ein Territorium der Wiedergeburt zu verwandeln“, hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 35. Jahrestag der Katastrophe im Frühjahr 2021 verkündet. 2018 wurde bereits ein erstes Solarkraftwerk von einem Megawatt Leistung neben der Atomruine errichtet. Weitere sollen folgen.
App ermittelt persönliche Strahlenbelastung
Auch im benachbarten Belarus will man das Gebiet um den Unfallort offenbar wieder besiedeln. Machthaber Alexander Lukaschenko sagte der Staatsagentur Belta jüngst, es gebe immer weniger Orte, in denen die Grenzwerte der Strahlung überschritten würden. „Aber was viel wichtiger ist: Wir produzieren wieder Lebensmittel, die man essen darf. Hier wohnen Menschen, hier werden Familien gegründet und Kinder geboren.“
Belarus war besonders vom Nuklear-Unfall betroffen
Tatsächlich war Belarus besonders betroffen von dem AKW-Unfall in Tschernobyl. Die Grenze von Belarus ist nur etwa zehn Kilometer vom stillgelegten Kraftwerk entfernt. Ähnlich wie in der Ukraine wurde ein großes Gebiet im Süden um die Stadt Gomel zum Schutzgebiet erklärt. Die Natur hat sich allmählich die früher vom Menschen bewohnten Flächen zurückerobert. Umweltschützer berichten stolz, dass dort inzwischen zum Teil bedrohte Tier- und Pflanzenarten leben.
„Das Bundesumweltministerium unterstützt und begleitet die Sicherung des havarierten Reaktors und des darin enthaltenen Kernmaterials bereits seit langem. Der Messeinsatz des Bundesamtes für Strahlenschutz ist ein weiterer Baustein dieses Engagements“, sagte Jochen Flasbarth, Staatssekretär im Bundesumweltministerium zur jüngsten Messaktion mit deutscher Beteiligung.
Auch wenn in Deutschland im kommenden Jahr die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet würden, stehe das Bundesumweltministerium zur internationalen Zusammenarbeit im radiologischen Notfallschutz und bei der Überwachung der Umweltradioaktivität. „Wir müssen auch in Zukunft schnell, kompetent und zielgerichtet auf Gefahren aus der Atomkraftnutzung reagieren können, insbesondere auf mögliche AKW-Unfälle im Ausland.“
Tschernobyl als bizarres Ausflugsziel
Derweil entwickelt sich das Tschernobyl-Sperrgebiet zu einem bizarren Tourismus-Ziel. Reisen zur Geisterstadt Prypjat, die in den 70er Jahren gegründet worden war, sind beliebt: 2019 waren mehr als 120.000 Touristen in der Zone.
Während Tschernobyl bis heute an die Risiken gemahnt, die in Atomkraftwerken stecken können, plant Polens nationalkonservative PiS-Regierung den massiven Einstieg in die Atomenergie, nachdem das Land 1990 den Bau eines damals prestigeträchtigen AKW in Zarnowiec gestoppt hatte – auch als Reaktion auf den Unfall in Tschernobyl. Die beiden favorisierten Standorte für Kernkraftwerke liegen nahe der Ostsee: Zarnowiec und Lubiatowo-Kopalino sind knapp 70 Kilometer von Danzig und 450 Kilometer von Berlin entfernt. Spätestens 2026 will Polen mit dem Bau des ersten Reaktorblocks beginnen, ab 2033 soll er ans Netz gehen. Bis 2043 sollen fünf weitere Reaktorblöcke folgen. Die Kernkraft soll Polen den Ausstieg aus der Kohle ermöglichen. Derzeit stützt das Land knapp 80 Prozent seiner Energieversorgung auf Steinkohle und Braunkohle.
Wie lange dauert es bis Tschernobyl wieder bewohnbar ist?
Die Katastrophe von Tschernobyl setzte laut der World Trade Organization (WTO) mehr Radioaktivität frei als die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki. Das Gebiet ist radioaktiv verseucht – ein Ende ist bis heute nicht in Sicht. 2012 wurde mit dem Bau einer neuen Schutzhülle begonnen. Doch aufgrund der hohen Strahlung konnte der Sarkophag nicht unmittelbar über dem Reaktor errichtet werden. Stattdessen ist er in unmittelbarer Nachbarschaft entstanden. Die Schutzhülle ist 31.000 Tonnen schwer und wird auf Schienen Millimeter für Millimeter über die alte einstürzgefährdende Halle gezogen. Von Dauer ist das Konstrukt nicht: 100 Jahre soll dieser Mechanismus greifen.
Die 30-Kilometer-Zone um Tschernobyl ist bis heute nicht bewohnbar – und das wird wohl tausende Jahre so bleiben. Nach dem Super-GAU wurden Dörfer in Gruben versenkt und zugeschüttet. Weit über 10.000 Quadratkilometer Land sind bis heute für die Landwirtschaft unnutzbar. Obst und Gemüse weisen zu hohe Strahlungswerte auf. In der besagten Zone liegt beispielsweise Pripjat. Die als Geisterstadt bezeichnete Region ist mit hochgiftigem Plutonium verseucht – einem Spaltprodukt aus Atomkraftwerken.
Laborantin entdeckt Strahlung in Fleisch
Eine Chemielaborantin hat in Irschenberg eine beunruhigende Entdeckung in Fleischproben gemacht. In ihrer Freizeit prüft die Jägerin Wildschweinfleisch auf Radioaktivität. Das Problem: Die Wildschweine aus der Region graben radioaktive Pilze aus. Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl gelangte radioaktive Strahlung in viele Böden bayerischer Regionen. Diese Strahlung sitzt in zehn bis 30 Zentimeter Tiefe. Metzgereien müssen Wildfleisch vor dem Verkauf prüfen lassen.
Steak aus dem 3D-Drucker: Erstaunliche Kehrtwende kann Probleme der Fleischindustrie lösen
In Lebensmitteln gibt es einen natürlichen Gehalt an Radioaktivität. Dieser stammt häufig von Kalium 40. Der Wert liegt bei circa 40 bis 60 Becquerel (Bq/L) in Milch, in Gemüse zwischen 30 und 150 Bq/kg. In Fleisch bewegt sich der Wert zwischen 50 bis 150 Bq/kg. In den belasteten bayrischen Regionen seien Messwerte von 600 Becquerel Radiocäsium pro Kilogramm keine Seltenheit.
Rückbau in Tschernobyl: Die Maßnahmen
2022 soll die Demontage des ehemaligen AKW erfolgen. Die restlichen Baustrukturen sollen zusammen mit den drei anderen Reaktorblöcken bis 2065 zurück gebaut werden. Wie mit den brennstoffhaltigen Materialien im Sarkophag langfristig umgegangen werden soll, ist noch nicht klar. Ansätze sehen vor, dass Teile dieser Materialien vor Ort bleiben. Die Ukraine sowie Belarus haben die 30 Kilometer Sperrzone von Tschernobyl bis heute nicht minimiert.
(mit dpa)
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