Wo ist die Antimaterie geblieben? Die RWTH Aachen sucht mit
Nach dem Urknall blieb Materie übrig – aber warum? Neutrino-Experimente T2K und NOvA, mit RWTH Aachen, suchen die Spur der Antimaterie.
Blick auf den NOvA-Fern-Detektor. Er besteht aus 344.000 einzelnen Zellen mit einer Länge von jeweils 15 Metern, die mit einer Mischung aus Mineralöl und gelösten lichtemittierenden Chemikalien gefüllt sind. Wenn ein Neutrino im Detektor interagiert, erzeugt es einen Sprühnebel aus hochenergetischen Teilchen, die durch die Zellen strömen und diese zum Leuchten bringen. Die Forschenden erfassen und analysieren dieses Licht, um zu untersuchen, wie sich die Neutrinos auf ihrer Reise vom Fermilab verändert haben.
Foto: Reidar Hahn/Fermilab
Nach dem Urknall hätten sich Materie und Antimaterie eigentlich gegenseitig auslöschen müssen. Doch ein winziger Überschuss ließ das Universum entstehen. Zwei internationale Experimente – T2K in Japan und NOvA in den USA – suchen nach der Ursache. Eine wichtige Rolle spielt dabei die RWTH Aachen, deren Detektorentwicklung hilft, die „Geisterteilchen“ Neutrinos besser zu verstehen.
Inhaltsverzeichnis
- Wenn das Universum nicht ganz fair war
- Ein Energieblitz und alles ist weg
- Spurensuche im Untergrund
- Wenn Teilchen die Identität wechseln
- NOvA und T2K – Laboratorien für Geisterteilchen
- Ein hauchdünner Unterschied
- Forschen an der Grenze des Messbaren
- Das Rätsel um die Neutrinomassen
- Die nächste Generation wartet schon
Wenn das Universum nicht ganz fair war
Direkt nach dem Urknall herrschte im Universum Chaos. Alles war dicht, heiß und voller Energie. In diesem brodelnden Anfangszustand entstanden in rasender Folge Teilchen – und ihre exakten Gegenspieler: die Antiteilchen. Für jedes Elektron gab es ein Positron, für jedes Proton ein Antiproton. Materie und Antimaterie waren perfekt im Gleichgewicht.
Doch dieses Gleichgewicht hielt nicht lange. Als sich das Universum abkühlte, trafen die beiden aufeinander und löschten sich gegenseitig aus – es blieb nur ein Energieblitz zurück. Eigentlich hätte so jede Form von Materie verschwinden müssen. Und trotzdem sind wir hier.
Irgendetwas lief also schief – oder genau richtig, je nachdem, wie man es betrachtet. Ein winziger Überschuss an Materie blieb übrig. Auf eine Milliarde Teilchen Antimaterie kam nur ein einziges Teilchen mehr aus Materie. Doch genau dieser kleine Unterschied formte alles, was wir kennen: Sterne, Planeten – und schließlich uns selbst.
Warum aber gab es diesen Mini-Vorsprung der Materie? Diese Frage treibt die Physik seit Jahrzehnten um. Und sie führt zu einem der geheimnisvollsten Teilchen überhaupt: dem Neutrino.
Ein Energieblitz und alles ist weg
Antimaterie klingt nach Science-Fiction – aber sie ist Realität. Wenn Materie und Antimaterie aufeinandertreffen, vernichten sie sich gegenseitig. Was bleibt, ist pure Energie. Im Labor wurde das schon oft beobachtet.
Das Rätsel liegt also nicht darin, wie sie sich gegenseitig auslöschen, sondern warum sie das nicht vollständig getan haben. Warum hat die Natur ausgerechnet der Materie den winzigen Vorteil gegeben, der die Existenz des Universums überhaupt ermöglicht hat?
Spurensuche im Untergrund
Zwei große Experimente versuchen, die Antwort zu finden: T2K in Japan und NOvA in den USA. Beide schicken Neutrinos auf lange Reisen – quer durch die Erde.
Neutrinos sind merkwürdige Teilchen. Sie sind elektrisch neutral, extrem leicht und kaum nachweisbar. Milliarden von ihnen fliegen jede Sekunde durch Ihren Körper, ohne dass Sie etwas davon merken. Kein anderes Teilchen ist so zurückhaltend. Kein anderes könnte aber auch eine so große Rolle in der Geschichte des Universums gespielt haben.
Wenn Teilchen die Identität wechseln
Neutrinos gibt es in drei „Geschmacksrichtungen“: Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos. Das Kuriose: Sie können sich ineinander verwandeln. Physikerinnen und Physiker nennen das Neutrinooszillation.
Man kann sich das vorstellen wie ein Speiseeis, das unterwegs die Sorte wechselt: Es startet als Erdbeere und kommt als Schokolade an. Dieses bizarre Verhalten zeigt, dass Neutrinos eine Masse haben – eine Erkenntnis, die 2015 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.
Warum das wichtig ist? Nur Teilchen mit Masse können auf gewisse Weise „links“ oder „rechts“ bevorzugen – und genau das könnte erklären, warum Materie und Antimaterie unterschiedlich behandelt wurden.
NOvA und T2K – Laboratorien für Geisterteilchen
Beim NOvA-Experiment schießen Forschende am Fermilab bei Chicago einen Strahl aus Myon-Neutrinos durch 810 Kilometer Erdkruste bis zu einem gigantischen Detektor in Minnesota.
T2K in Japan arbeitet ähnlich: Dort wird ein Neutrinostrahl im J-PARC-Beschleuniger erzeugt und durchquert fast 300 Kilometer Gestein bis zum Super-Kamiokande-Detektor – einem riesigen Tank mit 50.000 Tonnen ultrareinen Wassers, tief unter der Erde.
Damit diese Geisterteilchen überhaupt beobachtbar werden, ist Präzision gefragt. Hier kommt auch die RWTH Aachen ins Spiel. Ein Team um Professor Stefan Roth war maßgeblich am Aufbau des sogenannten Nahdetektorkomplexes beteiligt – einer Art Kontrollstation nur wenige Hundert Meter hinter dem Teilchenziel. Dort werden die frisch erzeugten Neutrinos genau vermessen, bevor sie ihre lange Reise antreten.
„Ohne diese Messungen könnten wir die Veränderungen nach Hunderten von Kilometern gar nicht interpretieren“, erklärt Roth. Denn nur wer weiß, was am Anfang passiert, kann verstehen, was am Ende herauskommt. Die Arbeit der RWTH ist also der entscheidende erste Schritt, um später in den Tiefen des Super-Kamiokande sinnvolle Daten zu erhalten.
Die Anlage in Tokai an der japanischen Ostküste ist ein technisches Meisterstück: Ein Protonenstrahl trifft auf ein Graphitziel, daraus entstehen Pionen, die sich in Neutrinos verwandeln. Diese werden im Nahdetektor charakterisiert – ein entscheidender Schritt, um ihre späteren „Geschmackswechsel“ im fernen Kamioka zu deuten.
Ein hauchdünner Unterschied
Beide Großexperimente – NOvA und T2K – haben über Jahre hinweg Unmengen an Daten gesammelt. Zum ersten Mal wurden diese Datensätze nun gemeinsam ausgewertet.
„Durch die Zusammenführung dieser beiden Bemühungen können wir neue Erkenntnisse über die Funktionsweise von Neutrinos gewinnen“, sagt Ryan Patterson vom California Institute of Technology.
Und tatsächlich: Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Neutrinos und Antineutrinos sich nicht exakt gleich verhalten. Diese subtile Abweichung ist ein Hinweis auf CP-Verletzung – also darauf, dass die Natur selbst leicht unsymmetrisch ist.
Ganz bewiesen ist das noch nicht. Aber bestimmte Werte der sogenannten CP-Phase lassen sich bereits ausschließen. Die Lücke im Puzzle wird kleiner.
Forschen an der Grenze des Messbaren
Neutrinos sind die heimlichen Schwergewichte der Teilchenphysik – nicht, weil sie Masse hätten, sondern weil sie so schwierig zu fassen sind.
„Die Neutrinophysik ist ein seltsames Gebiet. Es ist sehr schwierig, Effekte zu isolieren“, sagt Kendall Mahn von der Michigan State University.
Schon kleinste Einflüsse – etwa das Gestein, das die Teilchen durchqueren – können Messungen verändern. Die Herausforderung besteht also darin, herauszufinden, ob ein beobachteter Unterschied wirklich von den Neutrinos selbst stammt oder von der Umgebung, die sie durchqueren.
Das Rätsel um die Neutrinomassen
Neben der CP-Verletzung beschäftigt Forschende noch ein zweites Problem: die Massenhierarchie. Sind zwei der drei Neutrino-Arten leicht und eines schwerer – oder ist es umgekehrt?
Diese Frage klingt akademisch, ist aber entscheidend. „Die Klärung der Ordnungsfrage steht in Zusammenhang mit einer Vielzahl von Phänomenen – von der subatomaren bis zur kosmologischen Ebene“, erklärt Patterson.
Nur wenn man die Reihenfolge der Massen kennt, lassen sich die Messergebnisse eindeutig deuten. Die Suche nach der Massenhierarchie ist also untrennbar mit der Suche nach der fehlenden Antimaterie verbunden.
Die nächste Generation wartet schon
T2K und NOvA liefern wertvolle Daten, doch die Zukunft der Neutrinoforschung beginnt jetzt erst richtig. In den USA entsteht mit DUNE (Deep Underground Neutrino Experiment) ein Nachfolgeprojekt, das Neutrinos über 1300 km durch die Erde schicken soll – vom Fermilab in Illinois bis nach South Dakota.
In Japan ist der Bau von Hyper-Kamiokande in vollem Gange – eine noch größere, noch empfindlichere Version des bisherigen Detektors. Und in China wird das Jiangmen Underground Neutrino Observatory (JUNO) aufgebaut, das die Massenhierarchie klären soll.
All diese Projekte verfolgen dasselbe Ziel: dem Universum sein größtes Geheimnis zu entlocken – warum es überhaupt existiert.
Ein Beitrag von: