Weltgrößter Neutrinos-Detektor startet Suche nach neuer Physik
700 Meter tief und 20.000 Tonnen schwer: JUNO soll Neutrinos entschlüsseln und Physik neu schreiben. Einblick in Technik und Ziele des Experiments.
Unter der Acrylhülle des Neutrino Observatoriums Juno sollen Geisterteilchen aufgefangen werden und dabei helfen, Teilchenphysik zum Teil neu zu schreiben.
Foto: JUNO Collaboration
In 700 Metern Tiefe, nahe der südchinesischen Stadt Jiangmen, hat eine der größten wissenschaftlichen Anlagen der Gegenwart ihren Betrieb aufgenommen: das Jiangmen Underground Neutrino Observatory, kurz JUNO. Mit einem 20.000 Tonnen schweren Flüssigszintillationsdetektor will die internationale Kollaboration Antworten auf eine der zentralen Fragen der Teilchenphysik geben – die Reihenfolge der Neutrinomassen.
Doch JUNO ist weit mehr als ein Labor für Spezialfragen. Es ist ein technisches System, das Ingenieurinnen und Ingenieure aus aller Welt über ein Jahrzehnt lang geplant, konstruiert und optimiert haben. Ein Detektor dieser Größe musste nicht nur stabil gebaut, sondern auch auf höchste Reinheit und Präzision ausgelegt werden.
Inhaltsverzeichnis
Ein Herz aus Acryl
Im Zentrum von JUNO steht eine transparente Acrylkugel mit einem Durchmesser von 35,4 Metern. Sie ist gefüllt mit 20.000 Tonnen Flüssigszintillator. Dieses Material hat eine besondere Eigenschaft: Wenn geladene Teilchen hindurchfliegen, überträgt sich deren Energie auf die Moleküle. Diese geben die Energie in Form von Lichtblitzen wieder ab – ein Prozess, der als Szintillation bezeichnet wird.
Um die winzigen Lichtsignale überhaupt sichtbar zu machen, ist die Kugel von Tausenden Photomultiplier-Röhren umgeben. Sie verstärken jedes Photon, also jedes einzelne Lichtquant, in ein elektrisches Signal. Rund 20.000 große Röhren mit 20 Zoll Durchmesser arbeiten hier Seite an Seite mit über 25.000 kleineren Modulen.
Alle Signale laufen in einer ausgefeilten Elektronik zusammen. Sie liefert Daten in einer Genauigkeit, die bisher kein anderes Experiment erreicht hat.
Technische Daten von JUNO
• Standort: Jiangmen, Provinz Guangdong, China
• Tiefe: 700 Meter unter der Erde
• Flüssigszintillator: 20.000 Tonnen
• Acrylkugel: 35,4 Meter Durchmesser
• Edelstahlgerüst: 41,1 Meter Durchmesser
• Wasserbecken: 44 Meter tief, 60.000 Tonnen Wasser
• Photomultiplier: 20.000 (20 Zoll) + 25.600 (3 Zoll)
• Inbetriebnahme: 26. August 2025
• Beteiligte: über 700 Forschende aus 17 Ländern
Warum 700 Meter Tiefe?
Die Lage tief unter der Erde hat einen klaren Grund: Strahlung von der Erdoberfläche darf die empfindlichen Messungen nicht stören. Beton, Fels und Wasserbecken bilden eine Art Schild gegen kosmische Teilchen.
„Zum ersten Mal haben wir einen Detektor dieser Größe und Präzision in Betrieb, der speziell für Neutrinos entwickelt wurde“, sagt Prof. WANG Yifang, Sprecher von JUNO. Die Natur dieser Teilchen zu verstehen, sei entscheidend für das Wissen über Materie und das Universum.
Die Suche nach der richtigen Reihenfolge
Neutrinos gelten als Geisterteilchen. Sie durchdringen Materie fast ungestört. Milliarden fliegen jede Sekunde durch Ihren Körper, ohne dass Sie etwas davon merken. Dennoch spielen sie eine Schlüsselrolle in der Physik.
Bisher ist unklar, welche Masse die drei bekannten Neutrinos haben. Es geht nicht um die exakte Größe, sondern um die Reihenfolge: Ist der dritte Massenzustand schwerer als der zweite oder umgekehrt? JUNO soll das klären.
Die Anlage misst Antineutrinos, die in den Kernkraftwerken Taishan und Yangjiang entstehen. Sie sind rund 53 Kilometer vom Observatorium entfernt. Diese Distanz ist ideal, um die Schwingungen der Neutrinos – die sogenannte Oszillation – präzise zu untersuchen.

Die Acrylkugel um Herzen von Juni hat einen Durchmesser von 35 Metern und ist mit 20.000 Tonnen Flüssigkeit gefüllt.
Foto: JUNO Collaboration
Flüssigszintillation – eine bewährte Methode neu gedacht
Die Szintillationsmethode ist seit Jahrzehnten bekannt. Schon früh hielten Forschende Zinksulfidschirme in Strahlengänge, um Lichtblitze zu zählen. Heute erfolgt die Messung in großem Maßstab und mit höchster Präzision.
Der Prozess lässt sich in vier Schritten erklären:
- Ein Teilchen trifft auf den Flüssigszintillator und regt dessen Moleküle an.
- Diese geben ihre Energie als Fluoreszenzlicht ab.
- Photomultiplier erfassen das Licht und verstärken es.
- Elektronik wandelt die Signale in Daten um, die Rückschlüsse auf die ursprüngliche Teilchenenergie zulassen.
Die Vorteile: große Empfindlichkeit, flexible Bauweise und die Möglichkeit, verschiedene Teilchenarten zu unterscheiden.
So funktioniert ein Flüssigszintillationsdetektor
• Energieübertragung: Ein Teilchen trifft auf den flüssigen Szintillator und regt Moleküle an.
• Lichtemission: Die Moleküle geben ihre Energie als Fluoreszenzlicht ab.
• Signalverstärkung: Photomultiplier wandeln die Lichtblitze in elektrische Signale um und verstärken sie.
• Auswertung: Die Signale verraten, welche Teilchen durchgeflogen sind und wie viel Energie sie hatten.
Vorteile:
– Hohe Empfindlichkeit durch großes Detektionsvolumen
– Flexible Bauweise in unterschiedlichen Geometrien
– Gute Unterscheidung verschiedener Teilchenarten
Ingenieurleistung im XXL-Format
Der Bau war eine logistische Meisterleistung. Zunächst musste ein 44 Meter tiefes Wasserbecken entstehen. Darin hängt das Edelstahlgerüst, das die Acrylkugel trägt. Dieses Gerüst ist 41 Meter breit und trägt nicht nur das Gewicht des Flüssigszintillators, sondern auch die Last von Tausenden PMTs.
Auch die Befüllung war heikel. In einem Zeitraum von sechs Monaten flossen 20.000 Tonnen Flüssigkeit in die Kugel. Der Pegel durfte dabei nicht stärker schwanken als wenige Zentimeter. Schon eine kleine Abweichung hätte die Struktur gefährden können.
„Der Bau von JUNO war eine Reise voller außergewöhnlicher Herausforderungen“, sagt Chefingenieurin Prof. MA Xiaoyan. „Um die strengen Anforderungen an Reinheit, Stabilität und Sicherheit zu erfüllen, war der Einsatz von Hunderten von Ingenieur*innen erforderlich.“
Fenster in neue Physik
JUNO soll nicht nur die Massenordnung der Neutrinos bestimmen. Forschende erhoffen sich Daten zu Neutrinos aus der Sonne, aus Supernovae oder aus dem Erdinneren. Auch die Suche nach völlig neuer Physik ist Teil des Programms: etwa sterile Neutrinos oder der Zerfall von Protonen.
Die geplante Lebensdauer liegt bei 30 Jahren. Für die Zukunft sind Erweiterungen vorgesehen, etwa die Untersuchung des sogenannten neutrinolosen Doppelbetazerfalls. Dieser Prozess könnte zeigen, ob Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind – eine Erkenntnis, die das Verständnis der Kosmologie grundlegend verändern würde.
Internationale Zusammenarbeit
JUNO ist kein rein chinesisches Projekt. Über 700 Forschende aus 74 Institutionen in 17 Ländern bringen ihr Wissen ein. Sie haben Erfahrung aus früheren Anlagen wie KamLAND in Japan oder Borexino in Italien eingebracht.
„Die weltweite Flüssigszintillator-Gemeinschaft hat die Technologie an ihre Grenzen gebracht und damit den Weg für die ehrgeizigen physikalischen Ziele des Experiments geebnet“, sagt Prof. Gioacchino Ranucci von der Universität Mailand.
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