Teilchenphysik 20.07.2025, 12:00 Uhr

Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie enträtselt?

Erstmals wurde eine Asymmetrie bei Materie-Bausteinen entdeckt. Was das mit unserer Existenz zu tun hat, zeigt ein neues CERN-Experiment.

Röhre eines Teilchenbeschleunigers

In der Röhre des Large Hadron Collider bei CERN prallen Teilchen nahezu mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander – und liefern neue Hinweise auf das Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie.

Foto: Smarterpix / MP_foto71 (Symbolbild)

Warum gibt es uns? Warum besteht das Universum aus Materie – und nicht aus einer Mischung aus Materie und Antimaterie, die sich gegenseitig ausgelöscht hätte? Diese Frage beschäftigt Physikerinnen und Physiker seit Jahrzehnten. Denn nach gängigen Theorien hätten beim Urknall gleiche Mengen beider Substanzen entstehen müssen. Doch das Universum, wie wir es kennen, widerspricht diesem Szenario.

Was wir beobachten, ist eine klare Asymmetrie: Sterne, Planeten, Galaxien – alles besteht aus Materie. Antimaterie hingegen taucht allenfalls in winzigen Mengen auf – etwa in Teilchenbeschleunigern oder bei bestimmten radioaktiven Prozessen. Doch warum ist das so?

Spurensuche im Teilchenwirbel

Wenn Materie und Antimaterie beim Urknall tatsächlich in gleichen Mengen entstanden sind, stellt sich eine einfache Frage: Warum hat sich Materie durchgesetzt? Warum existieren wir – und nicht nur ein leerer Raum, in dem sich alles gegenseitig ausgelöscht hat?

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Die Spurensuche nach der Antwort führt zu einem Ort, an dem das Universum im Miniaturformat nachgestellt wird: zum Large Hadron Collider, dem größten Teilchenbeschleuniger der Welt. Hier, tief unter der Erde bei Genf, lässt man Protonen mit enormer Energie aufeinanderprallen. Dabei entstehen neue Teilchen – manche davon gibt es im normalen Alltag gar nicht.

Eines dieser kurzlebigen Teilchen stand jetzt im Mittelpunkt eines außergewöhnlichen Experiments.

Materie und Antimaterie verhalten sich nicht ganz gleich

Die Forschenden nahmen ein Teilchen ins Visier, das zur Familie der Baryonen gehört – also jener Bausteine, aus denen auch Protonen und Neutronen bestehen. Es trägt einen sperrigen Namen: Lambda-Baryon. Dieses Teilchen existiert nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor es in kleinere Teilchen zerfällt. Genau dabei liegt der Schlüssel.

Man untersuchte, ob der Zerfall dieses Teilchens exakt so abläuft wie der Zerfall seines Gegenstücks – also des Antiteilchens. Wenn beide Vorgänge gleich sind, spricht man von CP-Symmetrie. Diese Abkürzung steht für zwei Regeln: die Umwandlung in ein Antiteilchen (C) und die Spiegelung des Raums (P).

Die Theorie sagt: Wenn beide Bedingungen erfüllt sind, sollte kein Unterschied feststellbar sein. Doch genau das beobachteten die Forschenden nicht.

Ein kleiner Unterschied mit großer Wirkung

In sieben Jahren sammelten sie Daten von Millionen solcher Zerfälle. Die Ergebnisse zeigten: Der Zerfall des Teilchens unterschied sich messbar von dem seines Antiteilchens. Und dieser Unterschied war so deutlich, dass er nicht durch Zufall oder Messfehler erklärbar ist. Er ist echt – ein klarer Hinweis darauf, dass sich Materie und Antimaterie eben nicht exakt gleich verhalten.

Diese Entdeckung ist ein Meilenstein, denn zum ersten Mal wurde eine solche Abweichung bei einem Baryon beobachtet. Zuvor war das nur bei anderen Teilchen gelungen, den sogenannten Mesonen. Die aber kommen in stabiler Materie gar nicht vor. Bei Baryonen ist das anders – sie sind der Stoff, aus dem Atome und damit auch wir bestehen.

Was bei einem Teilchen-Zerfall passiert

Ein solcher Zerfall lässt sich bildlich so vorstellen: Ein schweres Teilchen bricht in mehrere kleinere Stücke auseinander – wie ein instabiler Stein, der in kleinere Brocken zerfällt. Es gibt dabei verschiedene Wege, auf denen dieser Zerfall ablaufen kann. Manche davon sind direkt, andere gehen über kurze Zwischenzustände – man könnte sagen: mit Umwegen.

Diese verschiedenen Wege können sich gegenseitig beeinflussen. Und wenn dabei bestimmte Bedingungen erfüllt sind, kann es zu einer Art Ungleichgewicht kommen. Genau das ist offenbar beim untersuchten Teilchen geschehen.

Besonders auffällig: die Resonanzen

Die Forschenden haben sich nicht nur den Durchschnitt angesehen, sondern ganz genau hingeschaut. In bestimmten Momenten des Zerfalls – sogenannten Resonanzen – zeigte sich der Unterschied zwischen Teilchen und Antiteilchen besonders stark. In diesen Phasen verhielt sich das Teilchen fast doppelt so unterschiedlich wie im Durchschnitt.

Was dabei genau passiert, ist noch nicht vollständig verstanden. Aber man vermutet, dass die beteiligten Zwischenzustände dabei eine Rolle spielen – ähnlich wie bei einer Stimmgabel, die plötzlich einen bestimmten Ton besonders stark verstärkt.

Und jetzt?

Diese Entdeckung allein reicht noch nicht aus, um die ganze Geschichte der Materie im Universum zu erklären. Aber sie liefert einen weiteren Hinweis darauf, dass es physikalische Prozesse gibt, die das Gleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie stören – und das könnte der Schlüssel zu unserer Existenz sein.

Die Forschenden am CERN selbst sagen: „Wir haben ein weiteres Puzzleteil gefunden. Es ist nicht das ganze Bild, aber ein entscheidender Schritt.“

Die Hoffnung ist nun, weitere Zerfälle und Teilchen zu untersuchen. Vielleicht zeigen sich auch dort Unterschiede. Oder es tauchen neue Teilchen oder Kräfte auf, die bisher unbekannt sind.

Was das alles mit unserer Existenz zu tun hat

Wenn sich Teilchen und Antiteilchen nicht gleich verhalten, könnte das der Schlüssel zur größten offenen Frage der modernen Physik sein: Warum ist nach dem Urknall überhaupt etwas übriggeblieben?

Die neue Entdeckung am CERN deutet darauf hin, dass bestimmte Zerfallsprozesse von Teilchen das empfindliche Gleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie verschieben können. Zwar reichen die bisher beobachteten Unterschiede noch nicht aus, um das komplette Ungleichgewicht im Universum zu erklären. Aber: Sie liefern einen konkreten Hinweis, dass solche Unterschiede überhaupt existieren – und zwar in genau der Teilchenklasse, aus der unsere Welt besteht.

Ein altes Problem rückt in Reichweite

Schon 1967 forderte der sowjetische Physiker Andrej Sacharow, dass es drei Voraussetzungen geben müsse, damit nach dem Urknall mehr Materie als Antimaterie übrigblieb:

  1. Es muss einen Unterschied im Verhalten von Materie und Antimaterie geben (CP-Verletzung).
  2. Es muss Prozesse geben, bei denen Materie entsteht oder verschwindet.
  3. Und das alles muss außerhalb des thermischen Gleichgewichts geschehen – also nicht im stabilen Zustand.

Die neue Beobachtung erfüllt zumindest Bedingung 1. Und sie tut das in einem Bereich, der bislang unerforscht war: bei Baryonen, also Teilchen, die eine direkte Verbindung zu Atomen und damit zu unserem Alltag haben.

Was fehlt noch?

Die beobachtete Abweichung ist real – aber sie reicht allein nicht aus, um das Universum so zu erklären, wie wir es sehen. Physiker*innen schätzen, dass die bekannten CP-Verletzungen nur einen winzigen Bruchteil der nötigen Asymmetrie erklären. Das heißt: Es muss noch mehr geben.

Denkbar ist zum Beispiel, dass es weitere Teilchen gibt, die bisher nicht entdeckt wurden. Oder dass es ganz neue Naturgesetze gibt, die über das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik hinausgehen – also über die Theorie, die bisher alle bekannten Teilchen und Kräfte beschreibt.

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Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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