Türzustände oder warum Elektronen manchmal einfach nicht rauswollen
Elektronen haben manchmal ein Orientierungsproblem: Sie besitzen genug Energie, bleiben aber trotzdem gefangen. Warum ist das so?
Wie entkommt ein Frosch aus einer Box? Er braucht genug Energie und er muss die Öffnung finden. Ähnlich sieht es bei Elektronen aus, die ein festes Material verlassen sollen. Ein nicht ganz triviales Rätsel, das nun von der TU Wien geknackt wurde.
Foto: TU Wien
Ein Frosch, ein Loch – und ein Hüpfer, der ins Leere geht. Genauso verhalten sich Elektronen in festen Materialien. Erst wenn sie den richtigen Ausgang finden, entkommen sie. Die TU Wien hat herausgefunden, wie.
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Der Frosch, das Loch – und das Elektron
Stellen Sie sich eine Schachtel vor. Innen sitzt ein Frosch. An einer Wand oben klafft ein Loch. Wenn der Frosch genug Energie hat, kann er theoretisch hinausspringen. Aber schafft er es auch wirklich? Vielleicht springt er zu früh, zu spät oder einfach in die falsche Richtung – und landet wieder unten.
So ähnlich verhalten sich Elektronen in einem festen Material. Auch sie brauchen Energie, um das Material zu verlassen. Und auch bei ihnen klappt das nicht immer, selbst wenn die Energie eigentlich reicht. Warum? Diese scheinbar simple Frage hat die Physik jahrzehntelang beschäftigt.
Ein Team der TU Wien hat nun die Antwort gefunden. Der entscheidende Punkt: Elektronen müssen den richtigen Ausgang finden. Nur dann schaffen sie es in die Freiheit – also aus dem Material heraus. Die Forschenden nennen diesen Ausgang einen „doorway state“, zu Deutsch: Türzustand. Quanten spielen somit eine wichtige Rolle dabei.
Nicht nur Energie zählt
Elektronen verhalten sich oft wie kleine Dickköpfe. Man kann sie anschubsen, sie mit Energie versorgen – und trotzdem bleiben sie dort, wo sie sind. Der Gedanke, dass sie automatisch abhauen, sobald sie genug Energie haben, liegt zwar nahe. Aber die Realität ist komplizierter.
„Nun könnte man glauben, dass all diese Elektronen, sobald sie genug Energie haben, das Material verlassen“, sagt Prof. Richard Wilhelm, der an der TU Wien die Forschungsgruppe für Atom- und Plasmaphysik leitet. „Dann wäre die Sache einfach … Aber wie sich gezeigt hat, stimmt das nicht.“
Wilhelm und sein Team wollten genau wissen, warum Elektronen trotz genügend Energie manchmal nicht aus einem Material austreten. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus der Theoretischen Physik und anderen Universitäten machten sie sich daran, dieses Rätsel zu lösen.
Elektronen mit Höhenangst?
Was bei der TU Wien passiert ist, klingt fast wie ein Geduldsspiel mit Teilchen: Man gibt ihnen Energie und schaut, ob sie den Absprung schaffen. Wenn nicht, liegt es vielleicht daran, dass sie keine „Tür“ finden.
„Feste Materialien, aus denen relativ langsame Elektronen austreten, spielen in der Physik eine wichtige Rolle. Man kann aus der Energie dieser Elektronen wertvolle Information über das Material ableiten“, erklärt Anna Niggas vom Institut für Angewandte Physik der TU Wien, Erstautorin der Studie.
Das gilt etwa für Rasterelektronenmikroskope, bei denen Elektronen das Material abtasten und Informationen über seine Struktur liefern. Doch immer wieder zeigte sich: Theorie und Experiment passten nicht zusammen. Manche Materialien ließen Elektronen wider Erwarten entkommen – andere nicht, obwohl sie ähnliche Energien hatten.
Graphen, Graphit und der Unterschied zwischen „Tür auf“ und „Tür zu“
Besonders deutlich wurde das Problem bei Graphen und Graphit – zwei fast identischen Materialien aus Kohlenstoff. Graphen besteht nur aus einer einzigen Atomlage, Graphit aus vielen. Eigentlich sollten sich die Elektronen in beiden ziemlich gleich verhalten. Tun sie aber nicht.
In Graphit taucht ein klarer Energiespitze bei rund 3,3 Elektronenvolt auf – Physikerinnen und Physiker nennen das den „X-Peak“. In Bilayer-Graphen (also zwei Lagen) erscheint ein ganz anderer Peak, bei etwa 7,7 Elektronenvolt. Und Monolayer-Graphen, die dünnste Variante, zeigt fast gar keine Struktur.
Warum das so ist, konnten klassische Modelle nicht erklären. Die Elektronen hatten genug Energie – aber nur manche fanden den Weg hinaus.
Die Türzustände: Nur wer sie trifft, kommt raus
Die neue Erklärung der TU Wien klingt simpel, ist aber tiefgehend: Es gibt spezielle Quantenzustände, über die ein Elektron das Material verlassen kann. Diese Zustände nennen die Forschenden doorway states.
„Die Elektronen müssen ganz bestimmte Zustände annehmen, sogenannte doorway states“, erklärt Prof. Florian Libisch vom Institut für Theoretische Physik. „Sie koppeln stark an Zustände, die tatsächlich aus dem Festkörper hinausführen. Nicht jeder Zustand mit prinzipiell ausreichender Energie ist ein solcher doorway-state.“
Man kann sich das vorstellen wie bei einem Konzertgelände mit vielen Notausgängen – aber nur einer davon führt wirklich ins Freie. Wer den falschen nimmt, landet bloß in einem anderen Gang.
Tür auf ab fünf Schichten
Spannend ist auch, dass sich manche dieser Türzustände erst bilden, wenn mehrere Lagen eines Materials übereinanderliegen. Erst ab etwa fünf Schichten öffnet sich die Tür wirklich. In dünneren Materialien bleibt sie verschlossen.
Für die Forschenden ist das mehr als nur ein kurioser Effekt: Es zeigt, dass sich Materialeigenschaften gezielt steuern lassen. Wer also mit Schichtmaterialien wie Graphen arbeitet, kann durch die Anzahl der Lagen beeinflussen, wie leicht oder schwer Elektronen austreten.
„Wir konnten erstmals zeigen, dass die Form des Elektronenspektrums nicht nur vom Material selbst abhängt, sondern vor allem davon, ob und wo solche resonanten Türzustände existieren“, sagt Anna Niggas.
Wie man eine unsichtbare Tür findet
Aber wie findet man so einen Türzustand überhaupt? Das Team der TU Wien nutzte dafür eine aufwendige Koinzidenz-Messung. Dabei werden zwei Elektronen gleichzeitig beobachtet – eines, das in das Material hineinfliegt, und eines, das herauskommt. Wenn man ihre Energien miteinander vergleicht, erkennt man, ob ein Türzustand im Spiel ist.
Das klingt technisch, ist aber im Grunde eine sehr clevere Art, zuzuschauen, wie ein Elektron die richtige Abzweigung nimmt.
Die Messungen zeigten: In Graphit steht die Tür bei 3,3 eV weit offen, in Bilayer-Graphen öffnet sie sich erst bei 7,7 eV. Bei einer einzigen Lage bleibt sie praktisch zu.
Wofür ist das gut?
Das klingt nach Grundlagenforschung – und ist es auch. Aber die Erkenntnisse könnten in vielen Bereichen nützlich sein: etwa bei der Entwicklung neuer Elektronenmikroskope, bei Nanotechnologie oder bei Materialanalysen, bei denen man verstehen will, wie sich Oberflächen elektrisch verhalten.
Und wer weiß: Vielleicht lassen sich künftig sogar Materialien so designen, dass Elektronen gezielt leicht (oder eben schwer) herauskönnen – je nachdem, was man will.
„Energetisch betrachtet ist das Elektron in diesem Fall gewissermaßen nicht mehr Teil des Festkörpers. Es hat eine Energie wie ein freies Elektron, aber es befindet sich räumlich immer noch dort, wo eben auch der Festkörper ist“, erklärt Richard Wilhelm. Das Bild vom Frosch in der Schachtel passt also erstaunlich gut.
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