Quantenphysik trifft Gitarrensaite: Rätsel nach 90 Jahren gelöst
Forschende lösen 90 Jahre altes Rätsel: Die „Quantengitarre“ erklärt Dämpfung im Atommaßstab und eröffnet neue Messmethoden.
Eine schwingende Gitarrensaite inspiriert ein Quantenmodell, das 90 Jahre ungelöst blieb.
Foto: Smarterpix / dgmata
Wenn Sie eine Gitarrensaite anschlagen, klingt sie eine Weile nach und verstummt langsam. Auch eine Schaukel auf dem Spielplatz bleibt nicht ewig in Bewegung, sondern verliert durch Luftwiderstand und Reibung ihre Energie. Physiker nennen solche Systeme „gedämpfte harmonische Schwinger“. Sie lassen sich mit den Bewegungsgesetzen von Isaac Newton beschreiben.
Doch was im Alltag leicht erklärbar ist, wird in der Quantenwelt zum Problem. Atome und Teilchen folgen nicht den gleichen Regeln wie Gitarrensaiten oder Schaukeln. Sie gehorchen den Gesetzen der Quantenmechanik. Und dort gelten Einschränkungen, wie das berühmte Heisenbergsche Unschärfeprinzip. Genau hier setzte eine offene Frage an: Lässt sich das Verhalten einer gedämpften Gitarrensaite auch in der Quantenphysik nachbilden?
Ein Team der University of Vermont hat nun eine Antwort gefunden. Der Physikprofessor Dennis Clougherty und sein Student Nam Dinh stellten ein Modell vor, das sie in „Physical Review Research“ veröffentlichten. Sie fanden eine exakte Lösung für ein System, das wie eine Quantengitarre schwingt. Damit konnten sie ein Rätsel lösen, das die Physik seit fast 90 Jahren beschäftigte.
Inhaltsverzeichnis
90 Jahre ungelöstes Problem
Das Thema ist nicht neu. Schon vor fast 100 Jahren versuchten Theoretiker, Dämpfung im Quantenbereich mathematisch zu fassen. Immer wieder scheiterte es am Heisenbergschen Unschärfeprinzip. Dieses besagt, dass sich Position und Impuls eines Teilchens nicht gleichzeitig exakt bestimmen lassen. Je genauer Sie den Ort kennen, desto unschärfer wird der Impuls – und umgekehrt.
Im klassischen Maßstab ist Energieverlust kein Rätsel: Luftwiderstand oder Reibung sorgen dafür, dass Bewegungen abbremsen. Doch auf atomarer Ebene läuft der Prozess diskret ab, in Energiepaketen. Frühere Modelle mussten daher künstliche Hilfskonstruktionen einführen. Ein konsistentes Bild fehlte.
Lambs altes Modell
Der britische Physiker Horace Lamb entwickelte bereits 1900 ein Modell für ein schwingendes Teilchen in einem Festkörper. Seine Idee: Die Bewegung erzeugt elastische Wellen, die wiederum auf das Teilchen zurückwirken. Dadurch schwingt es immer schwächer – die Dämpfung entsteht.
„In der klassischen Physik ist bekannt, dass Objekte, wenn sie schwingen oder oszillieren, aufgrund von Reibung, Luftwiderstand usw. Energie verlieren“, erklärt Dinh. „Im Quantenbereich ist dies jedoch nicht so offensichtlich.“
Clougherty und Dinh griffen Lambs Ansatz erneut auf. Mit Unterstützung der National Science Foundation und der NASA entwickelten sie eine Variante, die auch in der Quantenmechanik funktioniert.
Vom Teilchen zur Saite
Das überarbeitete Modell wirkt auf den ersten Blick simpel: Ein Teilchen hängt an einer Art Feder und ist mit einer Saite verbunden. Schwingt es, entstehen Wellen auf der Saite. Diese transportieren Energie ab und bremsen die Bewegung des Teilchens.
Im klassischen Bild lassen sich diese Vorgänge gut berechnen. Doch im Quantenszenario kommen unendlich viele Schwingungsmoden hinzu. Die Forschenden nutzten eine mathematische Methode, die „multimodale Bogoliubov-Transformation“. Sie macht es möglich, die Energiezustände exakt zu bestimmen.
Das Ergebnis ist ein ungewöhnlicher Grundzustand. Er ist nicht leer, sondern ein sogenanntes „multimodales gequetschtes Vakuum“. In diesem Zustand ist die Unschärfe einer physikalischen Größe reduziert, während die der anderen steigt.
Dämpfung exakt berechnet
Ein zentrales Resultat der Arbeit ist eine geschlossene Formel für die Dämpfungsrate. Damit lässt sich berechnen, wie schnell das Teilchen seine Energie verliert. Für schwache Kopplungen stimmt die Vorhersage mit den klassischen Ergebnissen überein. Das bestätigt die Konsistenz des Modells.
Gleichzeitig zeigt sich, wo klassische und quantenmechanische Welten auseinanderlaufen. So verliert das Teilchen Energie in Form diskreter Quantenanregungen. Diese entstehen sowohl in der Saite als auch im Teilchen selbst.
Ein weiterer Punkt betrifft die Stabilität: Wird die Kopplung zu stark, wird das Modell instabil. In physikalischen Begriffen hieße das, dass die Saite reißen könnte.
Warum das relevant ist
Die „Quantengitarre“ ist nicht nur ein theoretisches Konstrukt. Gequetschte Zustände gelten in der Quantenphysik als wertvolle Ressource. Sie reduzieren das unvermeidbare Quantenrauschen bei Messungen. Schon heute setzen Gravitationswellen-Detektoren wie LIGO oder Virgo auf solche Tricks. Damit können sie Abstandsänderungen messen, die weit kleiner als ein Atomkern sind.
Clougherty fasst den Kern ihrer Arbeit so: „Durch die Verringerung dieser Ungewissheit kann man die Position mit einer Genauigkeit messen, die unter der Standard-Quantengrenze liegt.“
Das eröffnet Perspektiven für neue Sensortechnologien. Möglich wären ultrapräzise Messungen von Abständen oder winzigen Bewegungen. Auch Anwendungen in der Optomechanik und Quanteninformation rücken in Reichweite.
Ein neues Werkzeug für die Theorie
Das Quantum Lamb Model liefert einen klaren Vorteil: Es bildet den Kopplungsmechanismus direkt ab und benötigt keine künstlichen Zusatzvariablen. Damit steht Physiker*innen ein Werkzeug zur Verfügung, um Dämpfung im Quantenmaßstab sauber zu beschreiben.
Neben der reinen Theorie ergeben sich praktische Erkenntnisse. Das Modell zeigt, wie die Ortsunschärfe des Teilchens mit zunehmender Dämpfung abnimmt. Mit anderen Worten: Das Teilchen „zittert“ weniger stark. Zudem macht es sichtbar, dass Energieabgabe über sogenannte Bogoliubons erfolgt – spezielle Quantenanregungen mit leicht verschobenem Energiespektrum.
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