Antarktis-Dektoren entschlüsseln Signale aus dem All
Geisterteilchen im Visier: Antarktis-Detektoren entschlüsseln Signale aus dem All und geben Einblicke in extreme Vorgänge des Kosmos.
Der IceCube in der Antarktis - er soll Neutrinos im Eis messen.
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Am Südpol, wo ewiges Eis und extreme Kälte herrschen, suchen Forschende nach Teilchen, die sich kaum einfangen lassen: Neutrinos. Diese „Geisterteilchen“ durchdringen unaufhaltsam die Erde, den Himmel – und auch uns Menschen, ohne Spuren zu hinterlassen.
Gerade deshalb gelten sie als Schlüssel zu den spektakulärsten Ereignissen des Universums: Supernovae, Schwarze Löcher, galaktische Jets. Während Licht oder Strahlung oft verschluckt wird, erreichen Neutrinos nahezu unverfälscht unsere Messgeräte. Wir blicken auf zwei Instrumente, die diese Signale einfangen sollen.
Inhaltsverzeichnis
- Geisterteilchen, die fast niemand bemerkt
- Die Herausforderung: Wie fängt man das Unsichtbare?
- IceCube – ein Würfel im Eis
- Das Licht, das schneller als Licht scheint
- Die Arbeit der Computer
- Neutrinos als Prüfstein der Physik
- Jagd nach kosmischen Quellen
- Wenn der Computer Alarm schlägt
- Präzision gegen Zufallstreffer
- Warten auf die nächste Supernova
- Neue Ideen: IceCube-Gen2
- Europa liefert Technik
- ANITA – die Ballonmission
- Signale aus der falschen Richtung
- PUEO – der Nachfolger
- Zwei Methoden, ein Ziel
- Warum Neutrinos so wichtig sind
Geisterteilchen, die fast niemand bemerkt
Neutrinos sind eigenartige Teilchen. Sie besitzen keine elektrische Ladung, haben nur eine winzige Masse und durchdringen fast jede Materie. Jede Sekunde rauschen Milliarden von ihnen durch Ihren Körper, ohne dass Sie es spüren. Die Physikerin Stephanie Wissel von der Penn State University fasst es so zusammen:
„In jedem Moment durchdringen eine Milliarde Neutrinos Ihren Daumennagel. Aber Neutrinos interagieren nicht wirklich.“
Genau diese Eigenschaft macht sie für die Forschung so interessant. Während Licht und andere Teilchen oft von Staub, Gas oder Magnetfeldern verschluckt werden, fliegen Neutrinos einfach hindurch. Sie tragen so Informationen über kosmische Vorgänge direkt bis zur Erde. Wer sie nachweisen kann, erhält einen Blick auf Ereignisse, die sonst verborgen bleiben – etwa den Kollaps eines Sterns, die Geburt eines Schwarzen Lochs oder die gewaltigen Jets aktiver Galaxien.
Die Herausforderung: Wie fängt man das Unsichtbare?
Das Problem ist so einfach wie frustrierend: Neutrinos sind allgegenwärtig, aber sie hinterlassen fast nie Spuren. Um sie nachzuweisen, braucht es riesige Mengen an Materie, durch die sie vielleicht, mit etwas Glück, doch einmal wechselwirken. Wasser und Eis eignen sich dafür besonders gut.
Deshalb hat man sich am geografischen Südpol für ein gewaltiges Experiment entschieden. Unter dem Namen IceCube entstand dort der größte Neutrino-Detektor der Welt. Das Projekt zeigt, was Wissenschaft und Technik erreichen können, wenn sie Geduld und Präzision miteinander verbinden.
IceCube – ein Würfel im Eis
IceCube ist kein Observatorium im klassischen Sinn. Es besteht nicht aus Teleskopen oder Spiegeln, sondern aus Tausenden Kugeln, die tief im Eis vergraben sind. Über 5.000 Lichtsensoren wurden an langen Kabelsträngen befestigt. Diese hängen in Schächten, die Forschende zuvor mit heißem Wasser in bis zu 2,5 Kilometer Tiefe gebohrt hatten.
So entstand ein Detektorwürfel mit einer Kantenlänge von einem Kilometer – ein gigantisches Messinstrument, das das Eis selbst als Beobachtungsmedium nutzt.
Damit IceCube gebaut werden konnte, mussten mehr als 2.000 Tonnen Material in die Antarktis transportiert werden. Ein 500 Tonnen schwerer Bohrer schmolz über Monate hinweg die Schächte ins Eis. Heute arbeiten die Sensoren in einer Tiefe, in der das Eis klar wie Glas ist. Dort registrieren sie selbst kleinste Lichtblitze.
Das Licht, das schneller als Licht scheint
Wenn ein Neutrino tatsächlich einmal mit einem Atom im Eis zusammenstößt, entstehen neue Teilchen. Diese sind elektrisch geladen und bewegen sich mit hoher Geschwindigkeit weiter. In Wasser oder Eis sind sie sogar schneller als das Licht in diesem Medium. Das klingt paradox, widerspricht aber nicht Einsteins Relativitätstheorie. Denn im Vakuum bleibt Licht unschlagbar schnell. Im Eis dagegen ist es etwas langsamer.
Die Folge: Die Teilchen erzeugen ein bläuliches Leuchten, das sogenannte Tscherenkow-Licht. Es ist vergleichbar mit dem Überschallknall eines Flugzeugs – nur eben als Lichtblitz. Genau diese Spuren fängt IceCube ein.
Die Arbeit der Computer
Die Sensoren im Eis liefern Rohdaten. Computerprogramme berechnen daraus die Richtung, Energie und Art der Neutrinos. Jede Spur ist wie ein Hinweis in einem kosmischen Krimi. Mit genügend solcher Ereignisse entsteht eine Himmelskarte, die zeigt, woher die Teilchen stammen.
Für die Astrophysik ist das ein neuer Blick ins Universum. Endlich können Forschende nicht nur auf Licht oder Röntgenstrahlung zurückgreifen, sondern auch auf diese schwer fassbaren Botschafter.
Neutrinos als Prüfstein der Physik
Lange dachte man, Neutrinos hätten keine Masse. Doch schon in den 1980er-Jahren tauchten Hinweise auf, dass sie doch ein wenig wiegen. Heute gilt das als gesichert. Mit dieser Erkenntnis eröffnete sich ein neues Forschungsfeld.
Denn Neutrinos treten in drei Varianten auf, sogenannte „Flavors“. Während ihrer Reise wechseln sie zwischen diesen Formen hin und her – ein Phänomen, das man Oszillation nennt. Das zeigt nicht nur, dass Neutrinos eine Masse haben. Es könnte auch Hinweise geben, ob die Struktur von Raum und Zeit selbst minimale Schwankungen aufweist.
Zwischen 2010 und 2018 wertete das IceCube-Team 60 hochenergetische Neutrino-Ereignisse aus. Mehrere Modelle, die Abweichungen von Einsteins Relativitätstheorie vorhersagen, ließen sich dabei ausschließen. Das Standardmodell der Teilchenphysik blieb bestehen. Doch die Suche geht weiter.
Jagd nach kosmischen Quellen
Die wichtigste Aufgabe von IceCube ist es, die Herkunft der kosmischen Strahlung zu klären. Diese Strahlung besteht aus einem Mix verschiedener Teilchen, die ständig auf die Erde treffen. Ihre Quelle ist bis heute unklar.
Neutrinos könnten helfen, dieses Rätsel zu lösen. Denn anders als andere Teilchen fliegen sie nahezu ungehindert von ihrem Ursprungsort bis zu uns. Treffen sie im Eis ein und werden gemessen, kann ihre Flugbahn zurückverfolgt werden. So lassen sich mögliche Quellen identifizieren: aktive Galaxienkerne, explodierende Sterne oder auch Gezeitenzerreißungsereignisse, bei denen Sterne von Schwarzen Löchern auseinandergerissen werden.
Die Physikerin Anna Franckowiak von der Ruhr-Universität Bochum beschreibt die Suche so: „Genauer gesagt sehen wir dieses Licht tausende Male pro Sekunde. Aber die meisten Teilchen, die wir auf diese Weise nachweisen, stammen aus unserer eigenen Atmosphäre und sind nicht diejenigen, nach denen wir suchen.“
Das zeigt, wie groß die Herausforderung ist. Das Team muss unzählige Signale aussortieren, um die wenigen echten Botschaften aus dem All zu erkennen.
Wenn der Computer Alarm schlägt
Ein besonderes Merkmal von IceCube ist die Geschwindigkeit, mit der die Daten verarbeitet werden. Innerhalb von etwa 30 Sekunden berechnet ein Algorithmus die Energie und Richtung eines Neutrinos. Danach verschickt das Team die Information in alle Welt.
Mit speziellen Apps wie Astro-COLIBRI, die Forschende in Bochum gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen in Paris entwickelt haben, können Teleskope sofort reagieren. Manche Anlagen sind so programmiert, dass sie sich automatisch in die richtige Richtung drehen, wenn IceCube Alarm schlägt.
Das ist entscheidend, weil viele Himmelsereignisse nur kurz aufflackern. Eine Supernova oder ein Jet aus einem Schwarzen Loch kann innerhalb weniger Stunden oder Tage wieder verschwinden. Wer zu spät hinsieht, verpasst die Chance.
„Diese Himmelsobjekte leuchten möglicherweise nur sehr kurz auf, daher ist es entscheidend, dass unser System in Echtzeit funktioniert“, betont Anna Franckowiak.
Präzision gegen Zufallstreffer
Die schnelle Analyse liefert erste Ergebnisse. Parallel läuft aber auch eine genauere Berechnung. Sie dauert länger – manchmal bis zu zwei Stunden – ist aber vier- bis fünfmal präziser. Damit lässt sich die Flugbahn der Neutrinos viel genauer eingrenzen.
Doch selbst dann ist Vorsicht geboten. Die Teams definieren strenge Kriterien, wann eine Quelle als bestätigt gilt. Erst wenn die Wahrscheinlichkeit eines Zufallstreffers extrem gering ist – nämlich bei 1 zu 1,7 Millionen – darf von einer echten Entdeckung gesprochen werden. In der Fachsprache nennt man das „5 Sigma“.
Bislang hat IceCube diesen Wert noch nicht erreicht. Aber es gab mehrere Annäherungen. 2017 konnte ein Neutrino mit einem aktiven Galaxienkern, einem sogenannten Blazar, in Verbindung gebracht werden. 2022 folgte ein Signal aus einer anderen Galaxie, diesmal ohne auffälligen Jet. 2023 schließlich gelang es, 80 Neutrinos mit der Galaxie NGC 1068 zu verknüpfen – mit 4,2 Sigma. Noch nicht genug, aber nah dran.
Warten auf die nächste Supernova
Insgeheim hoffen die Teams auf ein Ereignis, das nicht irgendwo am Rand des Universums geschieht, sondern direkt in unserer Nachbarschaft: eine Supernova in der Milchstraße.
„Wir könnten dann mit IceCube dieses Ereignis verfolgen, selbst wenn die Neutrinos nicht die höchsten Energien erreichen“, erklärt Nora Valtonen-Mattila, Mitglied des Bochumer Teams. „Denn dann würden so viele Neutrinos aus dieser Richtung kommen, dass nicht nur eine Lichtspur zu sehen wäre, sondern unser gesamter Detektor auf einmal aufleuchten würde.“
So etwas passiert allerdings höchstens ein- bis dreimal in hundert Jahren. Niemand weiß, ob es in naher Zukunft geschieht. Bis dahin bleibt nur die Geduld – und das ständige Verbessern der Methoden.
Die Forschung der Ruhr-Universität Bochum wurde in drei Arbeiten veröffentlicht. Sie können Sie hier, hier, und hier lesen.

Das Experiment ANITA hat über der Antarktis Signale empfangen, die sich mit aktuellen Modellen der Teilchenphysik nicht erklären lassen.
Foto: Stephanie Wissel / Penn State.
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Neue Ideen: IceCube-Gen2
Damit IceCube künftig noch mehr Daten liefert, soll das Experiment massiv ausgebaut werden. Unter dem Namen IceCube-Gen2 planen die Teams, den Detektor von einem auf acht Kubikkilometer zu vergrößern. Damit ließe sich die Zahl der gemessenen kosmischen Neutrinos um das Zehnfache steigern.
Der Ausbau bringt nicht nur mehr Sensoren, sondern auch neue Technologien. Moderne Kugeln mit 24 Pixeln ersetzen die bisherigen Ein-Pixel-Sensoren. Sie erfassen deutlich mehr Licht und können unterschiedliche Wellenlängen auswerten.
Zusätzlich soll eine große Fläche mit Radiodetektoren ausgestattet werden. Sie reagieren auf extrem energiereiche Neutrinos, die im Eis Radiowellen erzeugen. An der Oberfläche werden Teilchendetektoren installiert, die helfen, atmosphärische Störsignale auszusortieren.
Künstliche Intelligenz übernimmt dabei eine zentrale Rolle. Sie soll die Muster im Datenrauschen schneller erkennen und Ereignisse automatisch klassifizieren. So können astronomische Teleskope künftig noch schneller reagieren.
Europa liefert Technik
Auch deutsche und europäische Teams tragen entscheidend zum Ausbau bei. Mehr als 200 der neuen Sensoren entstehen hier. Viele der Technologien, die im Eis Jahrzehnte überdauern müssen, wurden extra entwickelt – robuste Glaskugeln, energiesparende Elektronik, zuverlässige Datenübertragung.
Die Fertigstellung von IceCube-Gen2 ist für 2032 geplant. Bis dahin wird das bestehende System kontinuierlich verbessert.
ANITA – die Ballonmission
Neben IceCube gibt es noch eine zweite Methode, um Neutrinos im Eis aufzuspüren. Sie heißt ANITA – Antarctic Impulsive Transient Antenna. Dabei handelt es sich um einen Heliumballon, der in 40 Kilometern Höhe über die Antarktis schwebt. An ihm hängen Antennen, die Radiopulse aus dem Eis registrieren sollen.
Die Idee basiert auf dem Askaryan-Effekt: Wenn ein Neutrino im Eis eine Teilchenkaskade auslöst, entsteht ein kurzer Radioblitz. Eis leitet Radiowellen gut, sodass das Signal über weite Strecken läuft und schließlich bei ANITA ankommt.
Das Verfahren erlaubt es, riesige Flächen gleichzeitig zu überwachen. Allerdings sorgt es auch für Rätsel.
Signale aus der falschen Richtung
In den Daten von ANITA tauchten Radiopulse auf, die scheinbar aus dem Erdinneren kamen. Für Neutrinos dieser Energie ist die Erde jedoch nicht transparent. Sie sollten längst absorbiert sein.
„Das Radiosignal hätte verschwinden müssen“, erklärt Stephanie Wissel, die auch am ANITA-Team beteiligt ist.
Die Anomalien lassen sich bislang nicht erklären. Weder IceCube noch andere Observatorien haben Vergleichssignale gefunden. Möglich sind Effekte durch besondere Eisstrukturen, Reflexionen oder sogar ganz neue Teilchen. Manche Medien sprachen sogar von einem „Paralleluniversum“ – ein Gedanke, den Fachleute als extrem spekulativ zurückweisen.
Hier geht es zur Originalpublikation
PUEO – der Nachfolger
Um das Rätsel zu klären, wird ANITA durch PUEO ersetzt, die Payload for Ultrahigh Energy Observation. PUEO soll empfindlicher sein, saubere Daten liefern und eine höhere Ereignisrate erreichen.
„Im Moment ist es eines dieser langjährigen Rätsel“, sagt Wissel. „Ich bin gespannt, dass wir mit PUEO eine bessere Empfindlichkeit haben werden.“
Ob sich damit die offenen Fragen lösen lassen, bleibt abzuwarten.
Zwei Methoden, ein Ziel
IceCube und ANITA – bald PUEO – nutzen verschiedene Ansätze. IceCube setzt auf optische Signale im dichten Sensornetz, ANITA auf Radiowellen über große Flächen. Beide Methoden ergänzen sich. Fällt bei einem System ein ungewöhnliches Ereignis auf, kann das andere gezielt nachschauen.
So entsteht ein Netzwerk von Experimenten, das Neutrinos aus unterschiedlichen Energiebereichen erfassen kann.
Warum Neutrinos so wichtig sind
Neutrinos erzählen Geschichten, die kein anderes Teilchen so direkt überliefert. Sie entstehen dort, wo extreme Kräfte wirken: bei Supernovae, Schwarzen Löchern oder gewaltigen Jets.
Weil sie ungehindert reisen, sind sie eine Art „direkter Draht“ zu den gewalttätigsten Orten des Universums. Wer sie entschlüsselt, versteht besser, wie kosmische Strahlung entsteht und wie Materie im großen Maßstab beschleunigt wird.
Sie liefern aber auch Hinweise für die Teilchenphysik. Ihre Oszillationen, ihre Masse und ihre Wechselwirkungen könnten Antworten auf Fragen geben, die über das Standardmodell hinausgehen
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