Teures Luftschloss 12.11.2025, 20:20 Uhr

The Line in Saudi-Arabien: Ist das Märchen aus 1001 Nacht zu Ende?

The Line Saudi-Arabien steht still: Kosten, Technik, Politik – warum das Megaprojekt stockt und was von der Vision übrig bleibt.

The Line in Saudi Arabien

170 Kilometer lang, 200 Meter breit und 500 Meter hoch sollte „The Line“ ursprünglich werden, nach außen komplett verspiegelt. Mittlerweile steht das Projekt vor dem Aus.

Foto: picture alliance / abaca | Balkis Press/ABACA

Das Megaprojekt The Line in Saudi-Arabien sollte ein Symbol des Fortschritts werden: eine lineare Stadt, 170 Kilometer lang, 500 Meter hoch und nur 200 Meter breit. Eine Metropole ohne Autos, ohne Straßen, versorgt ausschließlich mit erneuerbarer Energie. Die Vision war groß – und globales Aufsehen war ihr sicher. Doch mittlerweile ist davon wenig geblieben.

Die Arbeiten auf der Baustelle ruhen. Offiziell heißt es, das Projekt werde überprüft und strategisch neu geordnet. Inoffiziell ist klar: Die Finanzierung steht auf wackligen Beinen, und selbst die physikalische Machbarkeit einiger geplanter Elemente ist zweifelhaft. The Line Saudi-Arabien droht, von einem Zukunftssymbol zu einem Lehrbeispiel für überzogene Ambitionen zu werden.

Eine Stadt als Strich durch die Wüste

Ursprünglich sollte The Line das Herzstück von Neom werden – dem Prestigevorhaben von Kronprinz Mohammed bin Salman, eingebettet in die nationale Reformagenda Vision 2030. Ziel war es, Saudi-Arabiens Wirtschaft unabhängiger vom Öl zu machen und das Land als Innovationsstandort zu positionieren.

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Die Idee klingt simpel: eine schnurgerade Stadt durch die Wüste im Nordwesten des Landes, am Golf von Akaba. Keine Autos, keine Straßen, keine Abgase. Stattdessen eine modulare Struktur mit kurzen Wegen, vollständig versorgt durch erneuerbare Energie. Menschen sollten in vertikalen Quartieren leben, alles Nötige in wenigen Minuten erreichen und sich mit einer Hochgeschwindigkeitsbahn entlang der Achse bewegen.

Das Konzept versprach eine radikale Neuinterpretation des Städtebaus – kompakt, digital, klimaneutral. Doch genau diese Radikalität wurde zum Problem. Denn die technische, wirtschaftliche und soziale Realität konnte mit dem Anspruch nicht Schritt halten.

Eine Baustelle mit vielen Fragen

Bislang ist von der Stadt wenig zu sehen. Satellitenbilder zeigen Erdbewegungen, Gründungsarbeiten und Baustraßen. Kräne stehen still, Baufahrzeuge parken im Sand. Statt Glasfassaden und urbanem Leben dominieren Fundamente und Windturbinen.

Im Frühjahr 2025 tauchten Bilder eines Bauabschnitts namens „Hidden Marina“ auf. Dabei handelt es sich um einen geplanten Hafen, der teilweise von spiegelnden Fassaden verdeckt werden sollte. Er sollte Yachten und Kreuzfahrtschiffen Platz bieten und mehrere hunderttausend Menschen versorgen. Gebaut wird derzeit nicht mehr.

Ein internes Dokument, über das die Financial Times berichtete, bestätigt, dass die Bauarbeiten ausgesetzt sind. Von offizieller Seite heißt es, die Pause diene der „strategischen Neuausrichtung“. Insidern zufolge steckt jedoch mehr dahinter: Kostenexplosionen, technische Probleme und politische Reibungen.

Die Kosten: Milliarden, die sich vervielfachen

Als Kronprinz Mohammed bin Salman 2017 The Line ankündigte, war von 500 Milliarden US-Dollar die Rede. Schon das schien eine enorme Summe. Doch laut internen Kalkulationen soll das Budget später auf über 4,5 Billionen US-Dollar angewachsen sein. Inzwischen kursieren Schätzungen, die von bis zu 8,8 Billionen US-Dollar sprechen. Das wäre mehr als das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands.

Die Financial Times berichtete zudem von Hinweisen auf manipulierte Finanzberichte im Managementumfeld des Projekts. Der staatliche Investitionsfonds PIF hat inzwischen externe Beratungsfirmen beauftragt, die Tragfähigkeit neu zu bewerten. Offiziell heißt das: Effizienzsteigerung. In der Praxis geht es um Schadensbegrenzung.

Ein Branchenkenner kommentieren das so: „The Line Saudi-Arabien hat sich in eine wirtschaftliche Zwickmühle manövriert. Die Vision war faszinierend, aber die Kosten laufen der Realität davon.“

„The Line“ in Zahlen:
– Geplante Länge: 170 km
– Höhe der Gebäude: 500 m
– Breite: 200 m
– Geplante Bevölkerung: 9 Mio.
– Aktuell realisierbar bis 2030: ca. 2,4 km
– Projektstart: 2017
– Gesamtkosten (geschätzt): bis zu 8,8 Billionen US-Dollar
– Finanzierung: staatlicher Public Investment Fund (PIF)

 

Technische Grenzen: Wenn Physik den Plan stoppt

Die technischen Herausforderungen von The Line sind außergewöhnlich. Die Stadt sollte über 500 Meter hohe Glaswände haben – eine Art vertikales Gebirge aus Stahl und Beton. Darin integriert: Wohnräume, Büros, Schulen, Parks und Verkehrssysteme.

In der Praxis ergeben sich physikalische und logistische Fragen, die selbst erfahrene Ingenieur*innen an die Grenzen bringen. Ein Beispiel ist das geplante Stadion in 350 Metern Höhe, unter dem ein frei hängendes Gebäude namens „The Chandelier“ vorgesehen war.

Schon einfache technische Abläufe – etwa die Entsorgung von Abwasser – wären kaum praktikabel. In internen Entwürfen war vorgesehen, dass Fahrzeuge Abwasserbehälter abtransportieren sollten. Auch das Thema Windlast ist kritisch. Ein frei hängender Baukörper in dieser Höhe gerät unweigerlich in Schwingung. Selbst kleinste Resonanzen könnten sich aufschaukeln. Laut der Financial Times sollen Architekt*innen die Verantwortlichen früh auf diese Risiken hingewiesen haben – offenbar ohne Erfolg.

Physik, Statik und Materialtechnik setzen Grenzen. The Line zeigt, wie weit sich Visionen von der baulichen Realität entfernen können, wenn Grundlagen wie Lastabtrag, Wärmeausdehnung und Wartung nur am Rand bedacht werden.

Material und Energie: ein gigantischer Ressourcenverbrauch

Der Ressourcenbedarf von The Line Saudi-Arabien sprengt Dimensionen. Für jedes der geplanten 800 Meter langen Module werden nach internen Berechnungen rund 7 Millionen Tonnen Stahl und 5,5 Millionen Kubikmeter Beton benötigt.

Ein Informant sagte der Financial Times, dass das Projekt etwa 60 % der weltweiten Jahresproduktion von grünem Stahl verschlingen würde. Das wirft Fragen auf – nicht nur zur Verfügbarkeit, sondern auch zur Klimabilanz. Grüner Stahl entsteht mithilfe von Wasserstoff und erneuerbarem Strom. Beides ist kostspielig und derzeit nur begrenzt verfügbar.

Hinzu kommen die immensen Emissionen aus der Betonproduktion. Selbst wenn der Betrieb der Stadt vollständig mit erneuerbarer Energie versorgt würde, bliebe der Bau selbst ein gigantischer CO₂-Fußabdruck.

Klimaeffekte: eine Stadt, die Wetter macht

Ein Bauwerk dieser Größe verändert das lokale Klima. Der Meteorologe Donald Wuebbels von der University of Illinois erklärte in der Financial Times, das Projekt könne „das Potenzial haben, extreme Wetterphänomene wie Starkregen zu fördern“.

Der Grund ist einfach: Große, glatte Flächen verändern Windströmungen und Temperaturverteilungen. Studien aus Lausanne und Hohenheim zeigen, dass dichte, hochreflektierende Strukturen lokale Niederschlagsmuster verschieben können. Eine 170 Kilometer lange, 500 Meter hohe Spiegelwand in der Wüste könnte daher die Entstehung von Konvektion und Starkregen begünstigen.

Auch die Windverhältnisse wären betroffen. Eine vertikale Struktur dieser Länge würde wie ein künstliches Gebirge wirken. Sie könnte Sandstürme umlenken oder verstärken. Kritiker fordern deshalb unabhängige Untersuchungen zu den Klimaauswirkungen. Bislang liegen solche Analysen nicht öffentlich vor.

 

Mensch und Arbeit: Kritik an den Bedingungen

So ambitioniert die Architektur, so umstritten sind die Arbeitsbedingungen. Ein britischer Dokumentarfilm aus dem Jahr 2024 berichtete von Tausenden Todesfällen seit Beginn der Bauarbeiten 2017. Offizielle Zahlen gibt es nicht, doch Aussagen von Arbeiter*innen zeichnen ein belastendes Bild.

Ein Arbeiter berichtete, er müsse 16 Stunden täglich, 14 Tage in Folge arbeiten. Ein anderer klagte über ständige Übermüdung. Derartige Zustände widersprechen dem saudi-arabischen Arbeitsrecht. Neom verweist auf einen Verhaltenskodex, der nationale Gesetze und Standards der Internationalen Arbeitsorganisation berücksichtige. Unabhängige Kontrollen sind jedoch nicht bekannt.

Auch Zwangsumsiedlungen werfen Fragen auf. Medienberichte zufolge mussten Angehörige des Huwaitat-Stammes ihre Heimat verlassen. Offiziell sei das Land unbewohnt gewesen – was Augenzeugen widersprechen. Ein Aktivist, Abdulrahim al-Howeiti, hatte 2020 in einem Video gegen die Enteignungen protestiert. Kurz darauf wurde er von Sicherheitskräften erschossen.

Menschenrechtsorganisationen kritisieren The Line Saudi-Arabien daher nicht nur als Stadtprojekt, sondern als politisches Machtinstrument.

Planung und Realität: das Problem der Entfernung

Neben sozialen und ökologischen Fragen hat The Line auch planerische Schwächen. Eine Analyse des Complexity Science Hub in Wien kam 2023 zu dem Schluss, dass die lineare Struktur ineffizient sei.

In einer Stadt dieser Form wären die Menschen im Durchschnitt 57 Kilometer voneinander entfernt – in Johannesburg, einer Stadt mit 50-mal größerer Fläche, sind es nur 33 Kilometer. Eine Hochgeschwindigkeitsbahn mit 86 Stationen könnte kaum effizient verkehren. Die Fahrtzeit über die gesamte Länge läge bei rund einer Stunde.

Der Forscher Rafael Prieto-Curiel vermutet, dass weniger funktionale Überlegungen als vielmehr visuelle Effekte und Marketingstrategien im Vordergrund standen: „Das Branding oder die Erstellung ansprechender Videos in den sozialen Medien war vermutlich wichtiger als die städtebauliche Logik“, sagte er.

Umwelt und Ökologie: eine glänzende Barriere

Die Fassade der Stadt sollte aus verspiegeltem Glas bestehen. Sie hätte Sonnenlicht reflektiert – und damit auch Vögel irritiert. Biologinnen und Biologen warnen, dass die Spiegelwände zu tödlichen Hindernissen für Zugvögel werden könnten, deren Routen entlang des Roten Meers verlaufen.

Zudem unterbricht die geplante Stadt mögliche Wanderwege von Wüstenbewohnern und Tierpopulationen. Selbst bei Berücksichtigung von Korridoren bleibt der Eingriff in das Ökosystem massiv.

Das Vorhaben zeigt, wie schwer sich ökologische Verträglichkeit und architektonische Symbolik in Einklang bringen lassen. Wo Glas, Stahl und Wüste aufeinandertreffen, stoßen technische Visionen schnell an natürliche Grenzen.

 

The Line

Blick in „The Line“. Geplant sind unter anderem Fußballarenen in luftiger Höhe.

Foto: picture alliance / abaca | Balkis Press/ABACA

Energieversorgung: ambitioniert, aber fragil

Peter Terium, Chef des Energieunternehmens Enowa und ehemaliger RWE-Manager, erklärte, Neom werde vollständig mit erneuerbarer Energie versorgt. Solar- und Windparks sollen den gesamten Strombedarf decken, überschüssige Energie soll zur Produktion von grünem Wasserstoff dienen.

Das klingt gut, ist aber nur ein Teil der Bilanz. Großbaustellen benötigen in der Anfangsphase enorme Energiemengen – meist aus fossilen Quellen. Zudem ist unklar, wie die Speichertechnologien und das Stromnetz auf Dauer betrieben werden sollen.

Erneuerbare Energien funktionieren in der Theorie zuverlässig, in der Praxis aber nur mit Speichern, die Tag- und Nachtzyklen ausgleichen. In der Wüste erfordert das Batterien, Wasserstoffsysteme oder Pumpspeicher – alles energie- und kostenintensive Lösungen.

Fachleute bezweifeln daher, dass die Stadt kurzfristig klimaneutral betrieben werden kann. Der Betrieb könnte zwar eines Tages emissionsarm sein, der Bau selbst bleibt jedoch ein massiver CO₂-Treiber.

Ein Stadion auf dem Dach – Symbol der Überschätzung?

Eines der ambitioniertesten Einzelprojekte innerhalb von „The Line“ ist das geplante Neom-Stadion. Es soll 350 Meter über dem Boden entstehen, auf dem Dach eines Hochhauses, mit 45.000 Sitzplätzen. Der Bau ist Teil der Bewerbung Saudi-Arabiens für die Fußball-WM 2034.

Architektonisch wäre es eine Weltneuheit – technisch und logistisch aber kaum umsetzbar, sagen Fachleute. Die verspiegelte Decke im Innenraum könnte Spieler*innen blenden, die Lage erschwert Fluchtwege und Sicherheitsmaßnahmen. Die Stromversorgung soll vollständig durch erneuerbare Energien erfolgen – eine technische Herausforderung, besonders bei gleichzeitigem Einsatz von Licht, Kühlung und Übertragungstechnik.

Ob das Stadion tatsächlich gebaut wird, ist unklar. Doch es zeigt, wie sehr „The Line“ zwischen Realität und Machbarkeit schwankt.

Politische Dimension

Neom ist mehr als ein Stadtentwicklungsprojekt. Es ist Teil einer politischen Strategie. Saudi-Arabien will mit The Line ein neues Image schaffen: modern, umweltbewusst und zukunftsorientiert. Gleichzeitig soll das Projekt zeigen, dass das Land unabhängig vom Öl Wohlstand schaffen kann.

Doch diese Symbolik hat ihren Preis. Das Land investiert enorme Summen, während andere Teile der Wirtschaft stagnieren. Beobachter sehen in Neom daher auch den Versuch, Kontrolle und Fortschritt miteinander zu verbinden – ein Widerspruch, der kaum auflösbar scheint.

Die politische Bedeutung erklärt auch, warum das Projekt offiziell nicht aufgegeben wird. „The Line bleibt eine strategische Priorität“, sagte ein Vertreter von Neom der Financial Times. Es handle sich um „ein generationsübergreifendes Entwicklungsvorhaben von beispiellosem Ausmaß und Komplexität“. Hinter diesen Worten steht jedoch eine simple Tatsache: Das Projekt ruht.

Was bleibt von der Vision?

The Line war von Anfang an mehr als eine Stadtidee. Es war ein Experiment über Grenzen – technisch, ökonomisch und sozial. Die Idee, Städte kompakter und nachhaltiger zu machen, ist nachvollziehbar. Doch ihre Umsetzung als 170 Kilometer lange Spiegelwand in der Wüste war vermutlich nie realistisch.

Die Lehre ist nicht, dass Visionen scheitern müssen. Sie lautet: Maßstab und Kontext entscheiden. Städte funktionieren, wenn sie wachsen, sich anpassen, Rückkopplungen zulassen. Eine lineare Stadt, die aus Modulen besteht und vollständig top-down geplant wird, bleibt dagegen ein theoretisches Konstrukt.

Vielleicht wird The Line irgendwann in veränderter Form weitergebaut – kleiner, modularer, weniger spektakulär. Vielleicht bleibt sie aber auch ein Symbol für eine Epoche, in der technologische Machbarkeit und politische Selbstdarstellung schwer zu trennen waren.

 

Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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