Arbeiten unter Algorithmen: Amazon möchte 75 % Autonomie
Amazon treibt die Automatisierung seiner Logistik radikal voran. Tausende kollaborative Roboter übernehmen Tätigkeiten, die früher von Menschen ausgeführt wurden. Was der Konzern als Fortschritt verkauft, kann auch als ein globales Sozial- und Technikexperiment angesehen werden – mit offenem Ausgang.
Amazon automatisiert seine Logistik zu 75 Prozent. Cobots ersetzen Menschen – ein Echtzeit-Experiment, das die Grenzen von Technik und Arbeit zeigt.
Foto: Picture alliance/dpa/Wolf von Dewitz
Was demnächst bei Amazon passieren soll, erinnert schon fast an einen Science-Fiction Film. Laut internen Unterlagen, über die The New York Times und The Verge berichten, möchte das Unternehmen in Zukunft 75 % der Abläufe in ihrem Warenlagern automatisieren. Dafür sollen bis 2033 in den USA rund 600.000 Arbeitsplätze ersetzt und komplett abgeschafft werden. Schon 2027 sollen rund 160.000 Stellen entfallen.
Das Unternehmen treibt die Automatisierung seiner Logistik voran. Offiziell spricht man von einem „Zusammenspiel von Mensch und Maschine“. In den Hallen aber arbeiten immer weniger Menschen direkt am Produkt. Stattdessen koordinieren sie Roboter, überwachen Datenströme oder werden selbst durch algorithmische Systeme koordiniert.
Vom Roboterarm zum autonomen Arbeitskollegen
Die Basis bilden sogenannte kollaborative Roboter (Cobots), ausgestattet mit 3D-Kameras, KI-Vision-Systemen und lernenden Steuerungen. Sie sind in der Lage, Produkte selbstständig zu greifen, zu sortieren und zu verpacken. Im Gegensatz zu klassischen Industrierobotern benötigen sie keine physische Trennung durch Zäune. Sensorik und Software erlauben es, mit Menschen im selben Arbeitsraum zu operieren.
Doch genau hier liegt der Wendepunkt: Je intelligenter die Cobots werden, desto seltener braucht es menschliche Interaktion. Was einst als „Assistenzsystem“ begann, wird zum vollständigen Akteur im System. Ingenieurinnen und Ingenieure sprechen von einem Übergang von der Human-in-the-loop-Logik zur Machine-in-charge-Architektur.
Der Mythos vom Hand-in-Hand-Arbeiten
Amazon betont immer wieder, Roboter würden „keine Jobs zerstören, sondern die Arbeit sicherer und effizienter machen“. Wie die New York Times berichtet, zeichnen interne Memos jedoch ein anderes Bild. Dort ist von „Workforce Reduction through Process Automation“ die Rede. Also von einem klaren Ziel, der Personalreduktion durch Prozessautomatisierung.
Damit verschiebt sich das Rollenbild grundlegend: Mitarbeitende werden zu Supervisoren automatisierter Systeme. Sie greifen nur noch ein, wenn ein Algorithmus scheitert, ein Sensor ausfällt oder ein Förderprozess unerwartet stoppt. Das verändert nicht nur die Qualifikationsanforderungen, sondern auch den Charakter der Arbeit selbst. Wo früher körperliche Erfahrung, Reaktionsgeschwindigkeit und handwerkliches Geschick entscheidend waren, rücken heute Systemverständnis, Prozessdiagnostik und Datenkompetenz in den Vordergrund.
Gleichzeitig entsteht eine neue psychologische Dynamik: Wer überwacht statt handelt, erlebt weniger Selbstwirksamkeit. Das Gefühl, „nur noch zu kontrollieren“, kann zu Entfremdung führen. Ein Phänomen, das bereits in Studien des Fraunhofer-Instituts dokumentiert wurde. Sie zeigen, dass Mitarbeitende in hoch automatisierten Umgebungen häufiger unter kognitiver Überlastung und Sinnverlust leiden, wenn Entscheidungsprozesse vollständig von Maschinen vorgegeben werden.
Cobots und ihre Grenzen
Aus Ingenieursicht sind Cobots ein Erfolg, doch auch sie stoßen an klare Grenzen, weshalb menschliche Supervision weiterhin unverzichtbar bleibt.
In der Laborumgebung erkennen kollaborative Roboter Objekte mit hoher Präzision. In der Praxis jedoch – mit Staub, wechselnden Lichtverhältnissen, reflektierenden Oberflächen oder leicht deformierten Verpackungen – sinkt die Erkennungsrate deutlich. Studien des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) und der TU München zeigen, dass selbst moderne 3D-Vision-Systeme bei unstrukturierten Objekten bis zu 15 % Erkennungsverlust aufweisen. Das bedeutet, der Roboter greift viel häufiger daneben oder erkennt ein Objekt gar nicht.
Nach ISO 10218 und ISO/TS 15066 dürfen Cobots nur innerhalb definierter Kraft- und Geschwindigkeitsgrenzen operieren. Bei voller Produktionslast stoßen sie schnell an diese Normgrenzen. Ingenieure und Ingenieurinnen müssen daher Kompromisse finden: maximale Performance bei minimalem Risiko. Denn je höher das Risiko, desto häufiger greifen diese Sicherheitsabschaltungen. In der Praxis führt das zu unerwarteten Stillständen oder Taktzeitverlusten
Schließlich bleibt die Vertrauensfrage: Schon kleine Software- oder Kommunikationsfehler können Kettenreaktionen auslösen. Fällt ein Sensor aus, stoppt im schlimmsten Fall eine ganze Förderlinie. Das rückt Fehlertoleranz und Systemdesign wieder ins Zentrum klassischer Ingenieurarbeit. Redundante Sensorik, modulare Architekturen und Predictive-Maintenance-Konzepte sind entscheidend, damit Automatisierung nicht zur Schwachstelle wird.
Das offene Experiment
Was sich bei Amazon derzeit beobachten lässt, ist damit mehr als nur ein Fortschritt in der Automatisierung. Es ist ein Echtzeit-Experiment darüber, wie weit Technik die menschliche Arbeit ersetzen kann, bevor sie an ihre eigenen Grenzen stößt. Jede neue Robotergeneration verschiebt die Linie zwischen Unterstützung und Ersatz ein Stück weiter, ohne sie ganz aufzulösen.
In den Logistikzentren Amazons wird sich zukünftig wohl noch deutlicher zeigen, wie fragil diese Balance bleibt. Denn wo Maschinen präzise, schnell und unermüdlich agieren, braucht es Menschen, die verstehen, warum sie es tun – und was passiert, wenn sie es einmal nicht tun. Dieses Zusammenspiel dürfte letztlich darüber entscheiden, ob Amazons Experiment als Blaupause oder als Warnsignal für die Zukunft der Arbeit gelten wird.
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