ELIV 2025 16.10.2025, 18:31 Uhr

VDI-Kongress: Warum deutsche Autobauer ohne Open Source den Anschluss verlieren

Open Source oder abgehängt? Auf der ELIV-Konferenz in Bonn warnten Automotive-Experten: Europa droht im globalen Wettrennen um das Software-defined Vehicle (SDV) ins Hintertreffen zu geraten. Was die Lösung ist – und welche Trends die ELIV noch bewegten.

ELIV (Electronics in Vehicles) ist der weltweit größte Kongress für Automobil-Elektronik, -Software und -Anwendungen. Foto: Tim Stockhausen

ELIV (Electronics in Vehicles) ist der weltweit größte Kongress für Automobil-Elektronik, -Software und -Anwendungen.

Foto: Tim Stockhausen

Die Automobilindustrie steht an einem Scheideweg: Entweder sie setzt konsequent auf Open Source, oder sie verliert den Anschluss im globalen Wettbewerb. Dies ist eine Kernbotschaft der 23. ELIV in Bonn, auf der rund 850 Teilnehmer aus 110 Unternehmen am 15. und 16. Oktober über die Zukunft des Software-defined Vehicle (SDV) diskutierten.  Geladen hatte das VDI Wissensforum unter dem Motto „Accelerate Innovation“.

Eine neue Kultur in der Community

„Es gibt eine neue Kultur in der Community“, sagte Dr. Rolf Zöller, Chairman des Program Committee und Ex-Porsche-Manager, gleich zur Eröffnung. „Sharing“ lautet das Zauberwort – gemeinsame Grundlagen schaffen, um doppelte Arbeit zu vermeiden. Möglich wird dies durch Open Source – eine neue Arbeitsweise, die OEMs sowie Tier-1- und Tier-2-Zulieferern hilft, dem steigenden Kostendruck zu begegnen.

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Was verbirgt sich hinter dem Buzzword? Die kurze Antwort: Software, deren Quellcode öffentlich zugänglich ist – theoretisch kann also jeder reinschauen und mitentwickeln. Ein bekanntes Beispiel ist das Betriebssystem Linux. Auf der anderen Seite stehen proprietäre Systeme wie Windows von Microsoft, deren Code geschlossen ist.

Mit 850 Teilnehmenden aus aller Welt war der Kongress erneut gut besucht. Foto: Tim Stockhausen

Mit 850 Teilnehmenden aus aller Welt war der Kongress erneut gut besucht.

Foto: Tim Stockhausen

Das Rad nicht neu erfinden

Proprietäre Systeme sind heute Standard in der Automobilindustrie. Das sichert großen Zulieferern und OEMs wie BMW, Mercedes und VW die Kontrolle über ihre Software und schützt ihr geistiges Eigentum. Doch die Branche wird dadurch insgesamt ausgebremst: Jeder Hersteller startet bei null, muss das Rad also immer wieder neu erfinden. Dies verlangsamt die Entwicklung und erschwert die Zusammenarbeit. Dr. Marcus Bollig, Geschäftsführer des VDA, bringt es auf den Punkt:

„Auch angesichts des internationalen Wettbewerbs ist es sinnvoll, die gemeinsamen Kräfte in der Softwareentwicklung zu bündeln – insbesondere bei Umfängen, die aus Kundensicht nicht differenzierbar sind. Open Source bietet eine Möglichkeit, diese Bündelung transparent, offen und sicher umzusetzen.“

Nur durch einen gemeinsamen Kraftakt können die deutschen Autobauer den Abstand zur Konkurrenz aus den USA und Fernost aufholen.

Flexibilität statt Lock-in

Doch schaden sich die Hersteller nicht selbst, wenn sie ihren Code preisgeben? Nicht unbedingt, sagt Dr. Minea Schwenk, VP Connected Services bei Bosch: „80 % des gesamten Softwarestacks sind nicht differenzierend.“ So lange der differenzierende Markenkern geschützt bleibe, könne der Großteil der Softwareentwicklung offen und gemeinschaftlich erfolgen, ohne die Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden.

Dr. Céline Laurent-Winter, verantwortlich für Connected Vehicle Platforms bei BMW, ergänzte: „Wir sollten Lock-in vermeiden. Eine Multi-Cloud-Architektur ist wichtig, um flexibel auf sich ändernde regulatorische Rahmenbedingungen reagieren zu können. Open Source gibt uns die Möglichkeit, die Kontrolle über die Softwareentwicklung zu behalten, ohne von proprietären Systemen abhängig zu sein.“

Rund 80 Aussteller präsentierten ihre Neuheiten. Foto: Tim Stockhausen

Rund 80 Aussteller präsentierten ihre Neuheiten.

Foto: Tim Stockhausen

Das Auto als Erweiterung der Cloud

Doch ist Open Source bei aller Offenheit auch sicher genug für Automotive-Software? Auf jeden Fall, sagt Bob Monkman vom kalifornischen Open-Source-Anbieter Red Hat. Die Sicherheit sei bei Open Source sogar besser: „Es ist das ‚Viele-Augen-Konzept‘. Viele Leute schauen sich den Code an, man kann nichts verstecken. Sicherheitslücken werden schneller gefunden und schneller behoben.“

Wohin der Branchentrend geht, ist für Monkman eindeutig: „Das Auto wird eine Erweiterung der Cloud sein. Bidirektionaler Datenaustausch, prädiktive Analysen, Fehler und Updates – es wird Cloud-nativ, Cloud-zentriert sein. So kommen die Dinge wirklich in Bewegung. Deshalb ist es so wichtig, dass die Automobilindustrie Technologien nutzt, die andere Branchen bereits etabliert haben.“

Inwiefern Open Source bei der Entwicklung des SDV eine Rolle spiele? „Open Source und eine offene Zusammenarbeit sind essenziell für eine effiziente SDV-Transformation. Man kann das Tempo nicht halten, wenn man nicht Open Source und die dadurch ermöglichte Zusammenarbeit annimmt.“

SDV: Was bedeutet das eigentlich?

„Die Transformation hin zu SDV verändert das Fahrzeug grundlegend“, ist sich auch Robert ter Waarbeck, Principal Automotive Industry Manager bei Mathworks, sicher. Das Software-Unternehmen ist ein wichtiger Player in der Automotive-Entwicklung. Seine Tools „MATLAB“ und „Simulink“ kommen weltweit für das Model-Based Design (MBD) zum Einsatz. Dabei werden Hard- und Software simuliert, um sie lange vor der eigentlichen Produktion virtuellen Tests zu unterziehen. In der Automobilindustrie ist MBD zum De-facto-Standard für die Entwicklung von Antriebssteuerungen, Fahrerassistenzsysteme (ADAS) oder Batteriesoftware geworden.

Auch dadurch wird das Auto von einem „rein mechanischen System“ zu einer „intelligenten, softwarezentrierte Plattform, die sich über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg weiterentwickeln lässt“, erklärt ter Waarbeck. Damit verweist er auf ein weiteres Schlüsselwort: „Continuous Development“. Software für Autos wird heute laufend weiterentwickelt, neue Updates lassen sich schnell und einfach über die Luft (Over-the-Air, OTA) herunterladen. Wer ein Auto kauft, besitzt in dem Sinne also kein fertiges Produkt – sondern eines, das sich ständig selbst optimiert. Eine Software-Plattform auf Rädern.

Der neue Mercedes-Benz CLA mit EQ-Technologie. Foto: Tim Stockhausen

Der neue Mercedes-Benz CLA mit EQ-Technologie.

Foto: Tim Stockhausen

SDV: Die Verschmelzung von IT und Automotive

Das ist in der Praxis nicht immer unkompliziert: „Automotive und IT sind von Grund auf sehr verschieden“, erklärt Karine Paulini vom Softwareentwickler Sonatus. „Es geht darum, beide Welten zu kombinieren. Wer aus der IT kommt, muss von den Automotive-Experten lernen; wer aus der Automobilindustrie kommt, muss von den IT-Experten lernen.“ Sie muss es wissen: Sonatus hat 2018 als Start-up angefangen, heute ist die Technologie der Kalifornier bereits in über 5 Mio. Fahrzeugen verbaut. Hyundai und Kia sind die wichtigsten Partner-OEMs, europäische Unternehmen sollen folgen.

Sonatus entwickelt eine Plattform, auf der OEMs ihre SDVs aufbauen können – inklusive Tools für OTA-Updates, Datensammlung und AI-Nutzung. In der Praxis bedeutet das: Sitzt ein Fahrer in einem Auto mit Sonatus-Plattform, können während der Fahrt Updates installiert werden, die zum Beispiel die Fahrzeugleistung verbessern oder die Sicherheit erhöhen. „Unsere Gründer kommen aus der Welt der Software-Defined-Technologien – aus Netzwerken und Rechenzentren“, sagt Paulini. Diese IT-Expertise hätten sie mit einem Team aus IT-, Automotive- und Cloud-Experten ins Fahrzeug übertragen.

Mega-Trend Agentic AI

Die steigende Komplexität in der Fahrzeugentwicklung treibt die Automobilindustrie zu einem neuen Ansatz: Agentic AI – autonome KIs, die komplexe Aufgaben eigenständig planen, ausführen und überwachen können. Die Agenten reagieren also nicht nur auf Anfragen, sondern agieren proaktiv. Doch ihr volles Potenzial entfalten sie nur mit Open Source.

„Der Agent muss im Kontext arbeiten, sich mit anderen Systemen austauschen und auf Basis eines bestimmten Datenkontexts Entscheidungen treffen können“, erklärt Daniel Wilms vom KI-Start-up Spread. Konkret bedeutet das: Statt jedes Mal detaillierte Anweisungen zu geben (Prompt Engineering), erhält die KI permanenten Zugriff auf alle relevanten Entwicklungssysteme (Context Engineering).

Die technische Grundlage dafür bilden standardisierte Protokolle wie das Model Context Protocol (MCP). Sie ermöglichen es KI-Agenten, direkt auf Entwicklungsumgebungen und Fahrzeugsoftware zuzugreifen – und zwar herstellerübergreifend. „MCP sehen wir als Open Source – und wir wollen in Richtung Standardisierung gehen, zusammen mit OEMs und Partnern“, betont Kurt Gieske, Vice President Engineering Architecture Technology bei Bosch.

Roboter der Aachener FEV Group. Foto: Tim Stockhausen

Roboter der Aachener FEV Group.

Foto: Tim Stockhausen

Was Agentic AI schon kann

Wie leistungsfähig die Technologie schon ist, zeigt Dr. Christian Hort, Senior Vice President Automotive bei T-Systems International, in einer Livedemonstration: Er gibt einem KI-Agenten den Auftrag, eine Softwarefunktion zu ändern. Ohne weitere Unterstützung durchläuft der Agent daraufhin den gesamten Entwicklungsprozess: Er öffnet ein Ticket im Projektmanagement, analysiert die bestehenden Anforderungen, passt das Softwaredesign an, generiert neuen Code und führt automatisierte Tests durch. Der gesamte Prozess dauert nur wenige Minuten.

In der Automotive-Branche sieht die Realität aber meist anders aus: Hersteller arbeiten nicht mit offenen Schnittstellen, sondern setzen auf proprietäre, abgeschottete Systeme. „Die größte Gefahr ist nicht die KI, sondern die Fragmentierung“, warnte T-Systems-Experte Hort. „Wir brauchen Zugang zu den Systemen, sonst bleiben Agenten machtlos.“

Die Konsequenz liegt auf der Hand: Unternehmen, die weiterhin auf geschlossene Systeme setzen, verschenken das Potenzial autonomer KI-Assistenten. In einem Markt mit immer kürzeren Entwicklungszyklen kann Open Source damit über die Wettbewerbsfähigkeit entscheiden.

Open Source als Talentmagnet?

Der offene Code gilt auch aus einem anderen Grund als Hoffnungsträger: Er soll gegen den Fachkräftemangel helfen. Durch die Transformation des Autos zum SDV sind OEMs mehr denn je auf IT-Fachkräfte angewiesen. Das Problem: Softwaretalente denken bei ihrer Karriereplanung eher an SAP, Google und Microsoft als an die Automobilindustrie.

Doch wenn die Branche ihre proprietären Legacy-Systeme durch einen Open-Source-Ansatz ersetzt, könnte dies das Blatt wenden. Das Kalkül: Mit Open Source sind IT-Fachleute auch bei Autobauern Teil einer globalen Entwickler-Community und erwerben Skills, die branchenübergreifend gefragt sind „Große, erfolgreiche Systeme und Partnerschaften besitzen eine starke Anziehungskraft“, bestätigt VDA-Geschäftsführer Bollig. „So gewinnen wir qualifizierte Fachkräfte, Kompetenzen und Erfahrungen für die Automobilindustrie – auch aus anderen Branchen.“

Droht Europa ein „iPhone“-Moment?

SDVs sind die Zukunft des Automobilmarktes – daran ließen die ELIV-Experten keinen Zweifel. Doch die Zahlen sind eindeutig: „Die Technologie ist da, jedoch ist die Durchdringung sehr gering. Nur etwa 5 % der Fahrzeuge sind echte SDVs“, stellte Zöller zu Beginn des Kongresses fest. Trotz jahrelanger Ankündigungen bleibe die Transformation weitgehend Zukunftsmusik.

Besonders klar wurde Katrin Matthes, Lead Software Technologist bei Ampere (Renault). Sie verglich die aktuelle Lage mit der Situation der europäischen Handyentwickler vor 25 Jahren:

„Ab 2000 hatten wir eine starke Telekom-Industrie in Europa. 2007 kam die Disruption durch das iPhone. Wir wissen, was mit den großen Handy-OEMs passiert ist. Wir müssen uns aller Gefahren bewusst sein und der Notwendigkeit der Transformation – und der Gefahren, wenn wir das nicht schaffen.“

Eine Frage von Leben und Tod also. In einer solchen Situation ist es besser, zu kooperieren, als miteinander zu konkurrieren. Open Source bei nicht differenzierender Software ist das Mittel, mit dem die europäischen OEMs ihre Position im SDV-Wettrennen verbessern können – um am Ende nicht abgehängt zu werden.

Ein Beitrag von:

  • Magnus Schwarz

    Magnus Schwarz schreibt zu den Themen Wasserstoff, Energie und Industrie. Nach dem Studium in Aachen absolvierte er ein Volontariat und war mehrere Jahre als Fachredakteur in der Energiebranche tätig. Seit Oktober 2025 ist er beim VDI Verlag.

  • Tim Stockhausen

    Tim Stockhausen ist Volontär beim VDI Verlag. 2024 schloss er sein Studium der visuellen Technikkommunikation an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg ab. Seine journalistischen Interessen gelten insbesondere Künstlicher Intelligenz, Mobilität, Raumfahrt und digitalen Welten.

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