„Schräge Physik“: Diese Kristalle rotieren, brechen und binden sich neu
Kristalle, die sich selbst zerlegen und wieder zusammensetzen – was nach Science Fiction klingt, ist reale Physik. Forschende aus Deutschland und den USA haben rotierende Festkörper entdeckt, die völlig neue Materialgesetze befolgen. Ihre Erkenntnisse könnten die Grundlagen der Materialforschung verändern.
Rotierende Kristalle: Die winzigen Bausteine drehen sich, zerfallen und fügen sich selbst wieder zusammen – ein völlig neues Materialverhalten.
Foto: Courtesy of the researchers, colorized by MIT News, Creative Commons BY-NC-ND 3.0
Physikerinnen und Physiker der RWTH Aachen, der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der Universität Mainz und der Wayne State University in Detroit haben zusammen diese exotischen Objekte und ihre Eigenschaften untersucht.
Kristalle, die sich drehen
Anders als herkömmliche Kristalle wie Salz bestehen die neu entdeckten nicht aus starren Teilchen, sondern aus winzigen, rotierenden Bausteinen – sogenannten Rotoren.
Normalerweise wirken zwischen zwei geladenen Körpern Zentralkräfte – sie wirken zentral in Richtung der Verbindungslinie zwischen den beiden Körpern. Diese Kräfte sorgen dafür, dass sich Körper aufeinander zu- oder voneinander wegbewegen. Inzwischen wurden jedoch auch sogenannte transversale Wechselwirkungen entdeckt. In solch einer Wechselwirkung wirkt die gegenseitige Kraft senkrecht zu Verbindungslinie. Dadurch fangen Körper an, sich spontan umeinander zu drehen.
Viele rotierende Teilchen bilden einen festen Körper, der anders reagiert als normale Festkörper – dieses Verhalten widerspricht den bekannten Gesetzen der Kristallbildung.
Kristalle zerfallen und setzen sich zusammen
Wenn Kristalle wachsen, zum Beispiel im Fall von Eiskristallen oder Salzen, lagern sich die Teilchen immer weiter an, solange die Bedingungen stimmen. Das heißt, ein Wachstum erfolgt, wenn Temperatur, Konzentration und Energieverhältnisse stimmen – also wenn es für die Teilchen energetisch günstiger ist, sich im Kristall zu ordnen, statt frei zu bleiben. Das führt dazu, dass immer größere Kristalle entstehen.
Bei den rotierenden Kristallen läuft das Wachstum genau andersherum ab. Große Kristalle zerfallen von selbst in kleinere Stücke, weil die Bausteine sich ständig drehen und dadurch transversale Kräfte entstehen. Diese Kräfte sorgen dafür, dass sich das Material nicht stabil zusammenhalten kann und in kleine rotierende Einheiten zerbricht.
Kleine Kristalle dagegen wachsen nur bis zu einer bestimmten Größe, aber nicht darüber hinaus. Ab dieser kritischen Größe beginnen sie wieder zu zerfallen. Die einzelnen Fragmente können sich wieder zu einem neuen Kristall verbinden – so lange, bis die kritische Größe erneut erreicht ist.
Schräge Eigenschaften rotierender Kristalle
Ein Beispiel für die unüblichen Eigenschaften der Festkörper ist ihre Elastizität. Wenn man an einem Gummiband zieht, verformt sich das Material in Zugrichtung. Ein schräg-elastisches Material dagegen würde sich nicht dehnen, sondern seitlich verdrehen – eine Eigenschaft, die neue technische Schaltelemente ermöglichen könnte.
Rotierende Kristalle als Zukunft der Werkstoffe?
Das Forscherteam hat auf Grundlage dieser Beobachtungen eine Theorie entwickelt, die auch auf andere Forschungsbereiche übertragbar ist.
„Wir konnten auch zeigen, dass Defekte in den Kristallen eine eigene Dynamik zeigen. Die Ausbildung solcher Defekte kann von außen beeinflusst werden. Hierüber können auch die Eigenschaften der Kristalle mit Blick auf Anwendungen gezielt gesteuert werden“, erklärt Raphael Wittkowski vom DWI – Leibniz-Institut für Interaktive Materialien und von der RWTH Aachen.
Die Rotation der Teilchen widerspricht der normalen Physik von Kristallen und zeigt, dass in solchen Systemen neue Naturgesetze gelten – die Bewegung der Teilchen verändert das Gleichgewicht. Dies könnte beispielsweise für folgende Anwendungen genutzt werden:
- Materialien mit drehbaren Schaltelementen
- Gezielte Steuerung von Defekten in Kristallen
- Biologische Anwendungen (bei Zellen oder Mikroorganismen)
Exkurs: Auch bei lebenden Organismen vorhanden
Forschende des MIT haben ein ähnliches Verhalten auch an lebenden Organismen entdeckt: In einem Experiment mit sehr vielen schwimmenden Seestern-Embryonen wurde beobachtet, dass sich diese Embryonen durch ihre Schwimmbewegungen gegenseitig beeinflussen. Dadurch rotieren sie ebenfalls umeinander und bilden „lebende Kristalle“.
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