Quantenphysik stellt Realität erneut infrage
Quantenversuche ohne Verschränkung stellen klassische Vorstellungen infrage. Was bedeutet das für unser Verständnis von Realität?

Photonen auf ununterscheidbaren Wegen: Neue Experimente zeigen quantenmechanische Korrelationen – ganz ohne klassische Verschränkung.
Foto: Smarterpix / MP_foto71
Die Quantenphysik irritiert seit jeher. Doch was zwei unabhängige Forschungsteams nun beobachtet haben, stellt zentrale Annahmen über quantenmechanische Korrelationen infrage. Sie zeigen: Die sogenannte Nichtlokalität – das merkwürdige Verhalten von Teilchen über große Entfernungen hinweg – könnte sich unter bestimmten Bedingungen auch ohne klassische Verschränkung zeigen. Das lange gültige Bild der Realität bekommt dadurch neue Risse.
Inhaltsverzeichnis
Was ist Nichtlokalität – und was galt bisher als Voraussetzung?
Ein Grundpfeiler der Quantenmechanik ist die sogenannte Quantenverschränkung: Zwei oder mehr Teilchen teilen sich einen gemeinsamen Zustand, unabhängig davon, wie weit sie voneinander entfernt sind. Eine Messung an einem Teilchen ändert dabei unmittelbar die statistischen Erwartungen für das andere – eine Eigenschaft, die Albert Einstein einst als „spukhafte Fernwirkung“ bezeichnete. Auch wenn sie dem gesunden Menschenverstand widerspricht, wurde diese Korrelation in zahlreichen Experimenten bestätigt.
Als physikalischer Maßstab für solche quantenmechanischen Phänomene gilt der sogenannte Bell-Test. Er überprüft, ob die beobachteten Korrelationen zwischen Teilchen mit den Regeln der klassischen Physik vereinbar sind. Verletzen die Messwerte eine sogenannte Bell-Ungleichung, liegt ein Hinweis auf Nichtlokalität im quantenmechanischen Sinne vor.
Bislang ging die Forschung davon aus, dass eine Verletzung der Bell-Ungleichung zwingend auf Verschränkung zwischen den Teilchen beruht. Zwei aktuelle Experimente deuten nun darauf hin, dass diese Annahme nicht universell gelten muss.
Chinesisches Experiment stellt alte Annahmen infrage
Ein Team um Xiao-Song Ma von der Universität Nanjing hat ein aufwendiges Experiment mit Photonen durchgeführt. Dabei wurden Lichtteilchen durch eine komplexe Anordnung aus Kristallen, Strahlteilern und Linsen geschickt – bewusst so gestaltet, dass keine Verschränkung zwischen den Photonen entstehen sollte.
Trotzdem stellten die Forschenden fest: Die Bell-Ungleichung wurde verletzt.
Der entscheidende Effekt war eine quantenmechanische Eigenschaft namens Ununterscheidbarkeit der Pfade. Die Photonen bewegten sich so durch das System, dass ihre Wege am Ende vollständig überlappten. Es war physikalisch nicht mehr möglich zu sagen, welches Photon von welcher Quelle stammte. Genau diese Ununterscheidbarkeit führte offenbar zu Korrelationen, die sonst als Signatur verschränkter Zustände gelten.
„Wir berichten über die Verletzung der Bellschen Ungleichung, die nicht durch Quantenverschränkung im System beschrieben werden kann, sondern aus der Quantenununterscheidbarkeit durch Wegidentität resultiert“, heißt es in der Studie.
Auch in Österreich: Bell-Verletzung ohne Verschränkung
Ein zweites Team um Mario Krenn, Markus Aspelmeyer und Nobelpreisträger Anton Zeilinger kam unabhängig zu einem ähnlichen Ergebnis. Ihre Studie, veröffentlicht in Science Advances, beschreibt ein Experiment, in dem Verschränkung ebenfalls gezielt vermieden wurde.
Stattdessen setzten die Forschenden auf eine besondere Art von Interferenzstruktur: Vier Photonenquellen wurden so miteinander kombiniert, dass die Wege der erzeugten Teilchen vollständig ununterscheidbar waren. Es entstand kein verschränkter Zustand im klassischen Sinn – und dennoch zeigte der gemessene Bell-Parameter mit einem Wert von
S = 2,275 ± 0,057 eine deutliche Verletzung der klassischen Grenze (S = 2). Zum Vergleich: Der theoretisch maximale quantenmechanische Wert liegt bei S = 2,828.
Auch wenn das Ergebnis diesen Maximalwert nicht erreicht, ist die Abweichung signifikant – und deutet auf nichtklassische Korrelationen, ohne dass eine direkte Verschränkung nachweisbar war.
Wie lassen sich diese Ergebnisse erklären?
Beide Experimente basieren auf der Idee, dass sich unumkehrbare Pfadinformation vermeiden lässt. Sind die Wege der Photonen von Beginn an nicht unterscheidbar – also gibt es keine Information darüber, welches Teilchen aus welcher Quelle stammt – dann können quantenmechanische Interferenzeffekte auftreten, auch ohne dass die Teilchen einen gemeinsamen Zustand teilen.
Dabei entsteht keine klassische Superposition verschränkter Zustände. Vielmehr geht es um eine Situation, in der die Ununterscheidbarkeit selbst zur Quelle quantenmechanischer Korrelationen wird. Im Unterschied zu sogenannten Quantenradierern, bei denen nachträglich Pfadinformation gelöscht wird, war hier von Anfang an keine Pfadinformation vorhanden.
In beiden Fällen könnten also Nichtlokalitätseffekte beobachtet worden sein – nicht infolge eines verschränkten Zustands, sondern aufgrund der quantenmechanischen Struktur der Entstehungsprozesse.
Technisches Schlupfloch oder echter Paradigmenwechsel?
Die Fachwelt diskutiert intensiv, ob diese Ergebnisse tatsächlich „Nichtlokalität ohne Verschränkung“ belegen – oder ob es sich um Artefakte experimenteller Methodik handelt. Ein kritischer Punkt ist die Verwendung von Postselektion: Nur jene Ereignisse werden ausgewertet, bei denen zum Beispiel alle vier Photonen gleichzeitig ankommen. Diese Einschränkung kann unter Umständen die Statistik verzerren.
Zudem ist nicht völlig auszuschließen, dass doch eine Form von Verschränkung existiert – nicht zwischen den Photonen direkt, sondern etwa zwischen den Feldmoden, aus denen sie hervorgehen. Solche Korrelationen könnten im bisherigen Interpretationsrahmen schwer erfassbar sein, wären aber dennoch physikalisch real.
Ein weiterer Einwand betrifft die räumliche Trennung der Messgeräte. In einem idealen Bell-Test müssen die Phaseneinstellungen der Geräte raumartig getrennt sein – das heißt, keine Information kann sich mit Lichtgeschwindigkeit oder schneller von einem Ort zum anderen bewegen. Diese Bedingung war in den beiden neuen Experimenten nicht vollständig erfüllt und könnte ein weiteres Interpretationsschlupfloch darstellen.
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