Biozide 12.09.2008, 19:37 Uhr

Freie Fahrt für Trittbrettfahrer  

VDI nachrichten, Berlin, 12. 9. 08, swe – Die Europäische Union will Industrie und Behörden vier Jahre mehr Zeit für die Risikobewertung von Bioziden geben. Doch damit will die EU-Kommission auch entsprechend länger einen Wettbewerbsvorteil für Trittbrettfahrer in der Branche dulden. Das sind jene Firmen, die bis 2010 ihre Produkte auch ohne Prüfung vermarkten. Das nämlich lässt die Reglung zu. Zum Nachteil anderer Hersteller, die sich an der teuren Bewertung beteiligen, während die Trittbrettfahrer weiterhin billig anbieten können.

Jürgen Gutknecht ist Mikrobiologe – und Gutknecht war Firmenbesitzer. 1991 gründete er die Firma Bactria GmbH & Co. KG mit Sitz im rheinland-pfälzischen Kirchheimbolanden. Ende 2007 musste er seine mittelständische Firma an einen Wettbewerber, die Stockmeier Holding in Bielefeld, verkaufen.

Der Grund für den Notverkauf ist die Biozidrichtlinie: Mit dem Tagesgeschäft konnten die Ausgaben für die Bewertung des wichtigsten Produktes – der Peressigsäure (siehe Kasten) – letztlich nicht getragen werden. „Die Richtlinie hat mich praktisch enteignet“, meint Gutknecht.

Die Geschichte begann 1998. Die EU erließ die Biozidrichtlinie, um Hunderte alter Wirkstoffe und Produkte bis 2010 auf ihre Risiken testen zu lassen. Wie das Prüfprogramm konkret aussieht – also, bis wann für welche Wirkstoffe welche Tests durchzuführen sind -, hatte die EU zwei Jahre später in der so genannten 1. Reviewverordnung festgelegt. Die EU unterschätzte damals anscheinend das Prüfprogramm jedoch massiv: Industrie und Behörden brauchten für Bewertung und Beurteilung der Wirkstoffe und Produkte mehr Zeit. Daher will die EU-Kommission die Frist für die Wirkstoffprüfung bis 2014 verlängern.

Bactria und Firmenleiter Gutknecht nahmen die Biozidgesetze ernst. 2001 gründete die Firma mit Herstellern der Peressigsäure wie Solvay und Degussa ein Konsortium mit dem Ziel, die Ausgaben für die Bewertung zu teilen. Eine richtige Entscheidung: Das Konsortium musste bislang schon mehr als 4,5 Mio. € für die Risikobewertung aufwenden.

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Jürgen Gutknecht, seit 2003 Vorsitzender des Konsortiums, rechnet mit mindestens nochmals 1 Mio. €, bevor die Risikobewertung abgeschlossen sein wird. Er hat selber viel Geld in die Hand genommen: „Bactrias Ausgaben für die Biozidgesetzgebung belaufen sich bisher auf weit mehr als 1 Mio. €.“

Doch nicht dieses Prüfprogramm führte zum Ende von Bactria, betont Jürgen Gutknecht, sondern ein durch die 1. Reviewverordnung eingeführter Wettbewerbsnachteil. Dort legte die EU fest, dass alle Hersteller ihre Wirkstoffe bis 2010 vermarkten dürfen – auch ohne sich am Prüfprogramm zu beteiligen. Die Folgen: Einerseits beteiligen sich inzwischen zwölf kleinere und größere Hersteller im Peressigsäure-Konsortium an der gemeinsamen Risikobewertung. 15 bis 20 andere Firmen andererseits bieten die Säure an, ohne die Mehrkosten berechnen zu müssen.

„Für mich als Mittelstandsunternehmen waren diese Trittbrettfahrer eine Katastrophe“, betont Gutknecht. Um die Firma am Leben zu halten, wählte er zwei Strategien. Die eine war zu expandieren, um die Kosten auf möglichst viel Tonnage verteilen zu können. Das war anfänglich erfolgreich: Bactria fand etwa in der Schweiz, in Frankreich und auch in den Arabischen Emiraten neue Kunden.

Doch dann schlug die Konkurrenz zu: Trittbrettfahrer unterboten permanent Bactrias Preise. „Wir haben viele Kunden verloren, die einen leicht höheren Preis nicht akzeptieren wollten“, erinnert sich Gutknecht.

Zusätzlich zog Gutknecht 2000 vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Die erste Klage gegen die EU-Kommission scheiterte aber aus formalen Gründen. Das Gericht sagte jedoch, die Kommission werde diesen Wettbewerbsnachteil mit der Vorlage der 2. Reviewverordnung streichen. Das geschah jedoch nicht und die EU verabschiedete die Verordnung 2003 ohne die Regeländerung.

Konsequenterweise zog Gutknecht 2004 erneut vor den Europäischen Gerichtshof und verklagte die Kommission darauf, der Trittbrettfahrerei ein Ende zu setzen, sowie auf Schadenersatz.

Die Erfolgsaussichten seien gut, glaubt Gutknechts Anwalt, Koen van Maldegem, Partner der Brüsseler Kanzlei Field Fisher Waterhouse. „Bei der mittelständischen Bactria ist die Benachteiligung so evident, dass wir den Prozess gewinnen werden.“

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Bactrias Wettbewerbsnachteil scheint in Luxemburg aber nicht oberste Priorität zu sein. Seit vier Jahren wartet Gutknecht auf einen Anhörungstermin oder ein Urteil. Dabei wäre ein Gerichtsurteil gerade jetzt sinnvoll, da die EU-Kommission die Revision der Richtlinie vorbereitet.

Will die EU-Behörde der Trittbrettfahrerei auch dann kein Riegel vorschieben, „werde ich mich persönlich in Brüssel dafür einsetzen, dass die Industrie in Luxemburg eine neue juristische Baustelle aufmacht“. Für die Firma Bactria ist es auf jeden Fall zu spät, doch anderen Herstellern könnte noch geholfen werden.

Die ganze Malaise habe jedoch auch bereits jetzt etwas Positives, so der ehemalige Firmeninhaber. „Die EU hat aus den Fehlern gelernt“, glaubt Jürgen Gutknecht. So erlaubt das Chemikaliengesetz Reach keine Trittbrettfahrerei. Hersteller und Importeure dürfen ihre Substanzen ab 2. Dezember 2008 nur dann weiter vermarkten, wenn sie ihre Stoffe angemeldet haben und an der Risikobewertung teilnehmen. RALPH AHRENS

Ein Beitrag von:

  • Ralph H. Ahrens

    Chefredakteur des UmweltMagazins der VDI Fachmediengruppe. Der promovierte Chemiker arbeitete u.a. beim Freiburger Regionalradio. Er absolvierte eine Weiterbildung zum „Fachjournalisten für Umweltfragen“ und arbeitete bis 2019 freiberuflich für dieverse Printmedien, u.a. VDI nachrichten. Seine Themenschwerpunkte sind Chemikalien-, Industrie- und Klimapolitik auf deutscher, EU- und internationaler Ebene.

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