Schiffshebewerk Niederfinow – 90 Jahre Technikgeschichte
Wie funktioniert das älteste Schiffshebewerk Deutschlands – und warum brauchte es einen modernen Nachfolger? Technik und Geschichte aus Niederfinow.
Altes und neues Schiffshebewerk Niederfinow einträchtig nebeneinander.
Foto: picture alliance/dpa/Frank Hammerschmidt
Das Schiffshebewerk Niederfinow ist ein technisches Wahrzeichen – und zugleich ein Paradebeispiel deutscher Ingenieurskunst. Seit 1934 hebt es Schiffe am Oder-Havel-Kanal zuverlässig über einen Höhenunterschied von 36 Metern. Doch mit der Zeit stieß das alte Hebewerk an seine Kapazitätsgrenzen. Deshalb wurde direkt daneben ein neues, größeres Hebewerk gebaut, das seit 2022 in Betrieb ist.
Der Beitrag beleuchtet Geschichte, Bauweise, Technik und Zukunft der beiden Anlagen – und erklärt, warum Niederfinow heute ein einzigartiger Ort für Wasserbautechnik ist. Besonderes Augenmerk legen wir auf das alte Werk, schließlich wurde es 2007 zum Historischen Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland ernannt.
Inhaltsverzeichnis
- Alt und neu stehen nebeneinander
- Von der Schleusentreppe zum Wasserfahrstuhl
- Der Bau des alten Hebewerks
- Gründung des Bauwerks
- Komplexe Baustelleninfrastruktur
- Montage der Stahlkonstruktion
- Technische Zahlen
- Drehriegel als Alleinstellungsmerkmal
- Zuverlässige Technik
- Warum ein neues Hebewerk notwendig wurde
- Das neue Schiffshebewerk – moderner, größer, effizienter
- Neues Bauwerk integriert sich perfekt in die Landschaft
- Alt gegen Neu: Zwei Generationen Wasseraufzug im Vergleich
- Ein Ort für Technikfans
Alt und neu stehen nebeneinander
Wer im brandenburgischen Niederfinow steht, sieht etwas, das es weltweit nur selten gibt: Zwei Schiffshebewerke nebeneinander. Eines davon ist das älteste noch in Betrieb befindliche Deutschlands – das andere eine hochmoderne Antwort auf steigende Anforderungen im Binnenverkehr. Gemeinsam überwinden sie den 36 Meter hohen Geländesprung zwischen dem Oderbruch und der Schorfheider Platte – mitten im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin.
Das erste Hebewerk wurde 1934 in Betrieb genommen. Fast neun Jahrzehnte lang transportierte es unermüdlich Lastkähne und Güterschiffe auf dem Oder-Havel-Kanal. Ein technisches Denkmal, genietet aus 14.000 Tonnen Stahl und bis heute ein Publikumsmagnet. Doch mit wachsendem Schiffsverkehr, steigenden Transportvolumen und neuen Anforderungen war klar: Ein zweites, größeres Hebewerk musste her.
Von der Schleusentreppe zum Wasserfahrstuhl
Die Geschichte beginnt im 18. Jahrhundert mit dem Finowkanal – Deutschlands ältester noch genutzter künstlicher Wasserstraße. Um den Höhenunterschied zwischen Oder und Havel zu bewältigen, entstanden dort zunächst Schleusen, dann eine imposante Schleusentreppe mit vier Kammern. Deren Betrieb war jedoch aufwendig: fast zwei Stunden dauerte eine Durchfahrt – bei hohem Wasserverbrauch.
Der technologische Durchbruch kam mit dem Entschluss, stattdessen ein Schiffshebewerk zu bauen. Mehrere Entwürfe wurden geprüft, verworfen und überarbeitet. Letztlich setzte sich ein System durch, das auf Gegengewichten und einem sogenannten Drehriegel-Prinzip basiert – eine Erfindung des Oberregierungsbaurats Alfred Loebell.
Der Bau des alten Hebewerks
Die Entstehung des alten Schiffshebewerks Niederfinow zwischen 1927 und 1934 zählt zu den aufwendigsten Wasserbauprojekten der Weimarer Republik. Bereits die Baugrube stellte eine Herausforderung dar. Um den Baugrund zu verstehen, wurden rund 300 Bohrungen durchgeführt.
Die Erkenntnisse führten zu einem Planwechsel: Statt wie ursprünglich vorgesehen direkt am Hang, rückte man das Hebewerk einige Meter ab, um auf tragfähigerem Untergrund zu bauen. Damit verlängerte sich die Kanalbrücke, die den Oder-Havel-Kanal mit dem oberen Troganschluss verbindet – eine der ersten sichtbaren Konsequenzen der geologischen Bedingungen.
Gründung des Bauwerks
Besonders anspruchsvoll war die Gründung des Bauwerks. Der Baugrund erforderte eine Tiefe von bis zu 20 Metern unter der Geländeoberkante – und das bei hohem Grundwasserstand. Die Ingenieur*innen setzten auf das sogenannte Druckluftsenkkastenverfahren. Dabei wurden große stählerne Gerüste mit scharfen Schneidkanten versehen, die sich durch ihr Eigengewicht in den Boden einsenkten.
Um unterhalb des Grundwasserspiegels arbeiten zu können, wurden die Arbeitskammern luftdicht verschlossen und mit Überdruck versehen. Das verdrängte das Wasser, schuf aber extreme Bedingungen für die Bauarbeiter, die durch Schleusen in die Senkkästen ein- und ausschleusen mussten. Teilweise arbeiteten sie unter einem Überdruck von bis zu zwei Bar – was medizinische Betreuung und strenge Zeitpläne erforderlich machte.
Die Pfeiler, auf denen später das gesamte Hebewerk ruhte, wurden so stabil gegründet, dass sie selbst bei Störungen im Bauablauf keine nennenswerten Setzungen aufwiesen. Der Ostpfeiler der Kanalbrücke reicht heute noch 19 Meter tief unter das Grundwasser – eine bauliche Leistung, die damals nur wenige Großprojekte erreichten.

14.000 Tonnen Stahl wurden zusammengenietet, um den Wasseraufzug zu tragen.
Foto: picture alliance/dpa/Patrick Pleul
Komplexe Baustelleninfrastruktur
Parallel zur Gründung entstand die gewaltige Baustelleninfrastruktur: eine eigene Mischanlage, Werkstätten, Lagerräume, Wohnhäuser für das Personal, ein Dieselkraftwerk für die Stromversorgung und eine Seilbahn, mit der Kies aus den nahe gelegenen Gruben herantransportiert wurde.
Der Transport der Stahlteile erfolgte über eine extra eingerichtete Baustellenbahn, ergänzt durch eine Fährverbindung über den Finowkanal.
Montage der Stahlkonstruktion
Ab 1930 begann die Montage der Stahlkonstruktion – ein logistisch wie technisch anspruchsvolles Unterfangen. Ein eigens errichteter Bockkran mit 60 Meter Höhe und einer Spannweite von fast 47 Metern hob die bis zu 25 Tonnen schweren Einzelteile an ihren Platz. Zuerst entstand der Mittelturm, dann folgten der West- und der Ostturm.
Zeitgleich wurden die Mutterbackensäulen eingebaut – die zentrale Sicherheitskomponente des gesamten Hebesystems. Im Frühjahr 1932 war das Hebewerk in seiner äußeren Form vollständig errichtet, ein Jahr später war der Trog mit all seinen technischen Einrichtungen einsatzbereit.
Technische Zahlen
Der Trog selbst ist 85 Meter lang, 12 Meter breit und hat eine konstante Wassertiefe von 2,50 Metern. Im Betrieb wiegt er – inklusive Wasser – etwa 4290 Tonnen. Getragen wird dieser Koloss von 256 Stahlseilen mit einem Durchmesser von 52 Millimetern.
Diese laufen über 128 doppelrillige Seilscheiben mit einem Durchmesser von 3,50 Metern und führen zu insgesamt 192 Gegengewichten aus Beton, die exakt das Gewicht des Trogs ausbalancieren. Ein ausgeklügeltes System aus Seilgewichtsausgleichsketten sorgt dafür, dass die Belastung auf die Seile gleichmäßig verteilt bleibt – selbst bei minimalen Bewegungen.
Angetrieben wird der Trog durch vier Gleichstrommotoren mit jeweils 55 Kilowatt Leistung. Diese Motoren treiben Zahnstangengetriebe an, die über große Ritzel in vertikale Zahnstangen an den Hebewerkstützen eingreifen. Um die Synchronität zu gewährleisten, sind die Motoren über Wellen mechanisch gekoppelt – eine Notwendigkeit, damit der Trog nicht in Schräglage gerät. Die reine Hubbewegung dauert rund fünf Minuten, die gesamte Schleusung etwa 20 Minuten.

Blick in den Maschinenraum des historischen Schiffshebwerk Niederfinow.
Foto: picture alliance/dpa/Patrick Pleul
Drehriegel als Alleinstellungsmerkmal
Ein Alleinstellungsmerkmal ist die Sicherheitsvorrichtung mit Drehriegeln. Diese schraubenartigen Elemente drehen sich synchron mit dem Trog in geschlitzten Führungssäulen – den sogenannten Mutterbackensäulen. Unter normalen Bedingungen bewegen sich Drehriegel und Trog frei zueinander.
Bei einem Seilbruch oder einem abrupten Druckabfall stützen sich die Drehriegel aber sofort ab und blockieren den Trog mechanisch. Die gesamte Konstruktion arbeitet damit selbsthemmend – ein passives Sicherheitssystem, das ohne zusätzliche Energiezufuhr auskommt.
Zuverlässige Technik
Trotz seiner komplexen Technik erwies sich das alte Hebewerk als äußerst zuverlässig. Seit seiner Inbetriebnahme am 21. März 1934 verzeichnete es nur rund 50 betriebsbedingte Ausfalltage. Schon 1939 wurde das 100.000ste Schiff geschleust – ein Beleg für den hohen Verkehrsaufwand in der Region. Im Gründungsjahr passierten über 2,8 Millionen Tonnen Fracht das Bauwerk.
In den 1980er Jahren wurden die Tragseile komplett erneuert, in den Folgejahren folgten Wartungsarbeiten an Lagerpunkten, Seilscheiben und der Trogsicherung. Besonders aufwendig war zuletzt die Sanierung der Andichtrahmen – den beweglichen Bauteilen, die den Trog beim Ein- und Ausfahren an die Kanalbrücke abdichten.
Korrosion hatte den oberen Rahmen derart beschädigt, dass er komplett ausgebaut, gestrahlt, neu beschichtet und wieder montiert werden musste. Teilweise arbeiteten bis zu 20 Personen gleichzeitig, auch an Wochenenden, um die Sanierung im engen Zeitfenster zu realisieren.
Warum ein neues Hebewerk notwendig wurde
Trotz regelmäßiger Wartung stieß das alte Hebewerk an seine Grenzen. Moderne Binnenschiffe mit bis zu 110 Metern Länge und 2,80 Metern Tiefgang passen schlicht nicht in den alten Trog. Auch die steigenden Gütermengen – zuletzt rund 4,4 Millionen Tonnen jährlich – verlangten nach größerer Kapazität.
Deshalb begannen 2008 die Bauarbeiten für das neue Schiffshebewerk Niederfinow Nord. Die Inbetriebnahme erfolgte am 4. Oktober 2022 – fast genau 88 Jahre nach der Eröffnung des alten Werks.
Das neue Schiffshebewerk – moderner, größer, effizienter
Das neue Hebewerk ist 132 Meter lang, 54,6 Meter hoch und für Schiffe mit bis zu 2.300 Tonnen Gesamtgewicht ausgelegt. Der Trog misst 113 Meter in der Länge, 12,5 Meter in der Breite und ist vier Meter tief. Mit Gegengewichten von jeweils 41 Tonnen wird die 9.943 Tonnen schwere Last des gefüllten Trogs ausgeglichen.
Im Gegensatz zum alten Werk wird das neue Hebewerk mit acht Motoren à 160 Kilowatt betrieben. Eine Schleusung dauert hier nur 16,5 Minuten. Auch die Steuerung hat sich verändert: Während im alten Hebewerk fünf Personen pro Schicht notwendig sind, genügt im neuen eine einzige Bedienperson.
Neues Bauwerk integriert sich perfekt in die Landschaft
Trotz der Größe fügt sich das neue Bauwerk harmonisch in die Landschaft ein. Architekt Udo Beuke ließ sich bei der Gestaltung von der nahegelegenen Klosterkirche Chorin inspirieren. Massive Pylone wechseln sich mit schlanken Stützen ab, transparente Fassaden sorgen für optische Leichtigkeit.
Die Integration in das Biosphärenreservat war Teil eines umfassenden Umweltkonzepts. Fischottern, Bibern und Roten Waldameisen wurden neue Lebensräume geschaffen. Ein aufgeforsteter Mischwald bei Senftenhütte kompensiert den Flächenverbrauch.
Für die Planung kam moderne Computersimulation zum Einsatz. In einem digitalen Modell wurden alle Betriebsabläufe getestet – auch potenzielle Fehlerquellen. Die Sicherheitskonzepte reichen vom Brandschutz über Sprühwassersysteme bis hin zur Evakuierung über flexible Trogtreppen.
Auch nach der Inbetriebnahme wird das virtuelle Modell genutzt – etwa für künftige Updates oder Schulungen des Bedienpersonals.
Alt gegen Neu: Zwei Generationen Wasseraufzug im Vergleich
| Merkmal | Altes Hebewerk (1934) | Neues Hebewerk (2022) |
| Bauzeit | 1927–1934 | 2008–2022 |
| Höhe über Gelände | 52,0 m | 54,6 m |
| Länge des Trogs | 85,0 m (nutzbar: 83,5 m) | 115,0 m (nutzbar: 113,0 m) |
| Breite des Trogs | 12,0 m (nutzbar: 11,5 m) | 12,5 m (nutzbar: 12,5 m) |
| Wassertiefe im Trog | 2,50 m | 4,00 m |
| Zugelassene Schiffslänge | max. 85 m | max. 115 m |
| Zugelassene Schiffstiefe | max. 2,00 m | max. 2,80 m |
| Max. Troggewicht (mit Wasser) | 4.290 t | 9.943 t |
| Antriebsmotoren | 4 x 55 kW | 8 x 160 kW |
| Gegengewichte | 192 Stück à 20,87 t | 220 Stück à 41,0 t |
| Seildurchmesser | 52 mm | 60 mm |
| Anzahl Stahlseile | 256 | 224 |
| Seilscheiben Ø | 3,50 m | 4,00 m |
| Dauer einer Schleusung | ca. 20 Minuten | ca. 16,5 Minuten |
| Reine Hubzeit | 5 Minuten | 3 Minuten |
| Trogfahrgeschwindigkeit | 12 cm/s | 25 cm/s |
| Hubhöhe | 36 m | 36 m |
| Steuerung | manuell, 5 Personen pro Schicht | automatisiert, 1 Person |
| Trogsicherungssystem | mechanisch mit Drehriegel | gleiches Prinzip, modernisiert |
| Besonderheit | genietete Stahlkonstruktion | Stahlbeton mit architektonischem Konzept |
| Besucherplattform | oberhalb des Trogs, begrenzt | 40 m hoch, barrierefrei |
Ein Ort für Technikfans
Rund 150.000 Menschen besuchen jährlich die Hebewerke in Niederfinow. Ein Infozentrum, barrierefreie Wege und Besucherplattformen machen Technikgeschichte erlebbar. Besonders eindrucksvoll: der Blick durch Glasfenster auf die riesigen Seilrollen und der Moment, wenn ein beladenes Frachtschiff fast lautlos in die Höhe steigt.
Ein Beitrag von: