Kiruna zieht um und friert: Wie Stadtplanung am Polarkreis scheitert
Kiruna wurde komplett umgesiedelt, doch das neue Stadtzentrum friert. Warum moderne Stadtplanung am Polarkreis scheiterte.
Als die Stadt verlegt wurde, wollte der Stadtrat die Attraktivität von Kiruna als Wohnort steigern. Dazu gehörte auch die Schaffung eines Stadtzentrums mit dichter Bebauung und einem großen Platz, der zuvor gefehlt hatte. Doch bei der Planung ging einiges schief, jetzt frieren die Einwohnerinnen und Einwohner.
Foto: Kiruna Municipality
Kiruna war einmal ein Musterbeispiel für kluge Stadtplanung unter extremen Bedingungen. Gegründet um 1900, wählte der Stadtplaner Per Olof Hallman einen Südhang als Standort. So profitierten die Bewohnerinnen und Bewohner von möglichst viel Sonne, während die Hanglage kalte Fallwinde abhielt. Die Straßen folgten den natürlichen Höhenlinien, um Windkanäle zu vermeiden – ein Meisterstück klimabewusster Planung.
Doch als der Bergbau der staatlichen Gesellschaft LKAB immer näher rückte, stand fest: Der Boden unter Kiruna wird instabil. Ganze Stadtteile drohten abzusacken. Also musste die schwedische Stadt umziehen – samt 18.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Für die Planenden war das eine Jahrhundertaufgabe: komplette Infrastruktur, Versorgungsnetze und Gebäude neu zu denken. Doch dabei wurde das Klima vergessen.
Inhaltsverzeichnis
Moderne Vision – altes Klima vergessen
Die neue Stadt sollte ein Symbol moderner Urbanität am Polarkreis werden: ein offenes Zentrum mit Rathaus, Einkaufsstraßen, Hotels, kulturellen Treffpunkten. Doch die Planenden wählten einen Standort, der aus ingenieurklimatischer Sicht problematisch ist: eine Senke, in der sich im Winter Kaltluft sammelt.
Diese sogenannte Kaltluftsenke entsteht, wenn kalte, schwere Luftmassen aus höher gelegenen Gebieten in tieferliegende Zonen abfließen und sich dort stauen. Ohne ausreichende Durchmischung oder Sonneneinstrahlung bleibt die Luftschicht bitterkalt. Laut einer Studie der Universität Göteborg kann die Durchschnittstemperatur im neuen Kiruna im Winter bis zu 10 °C niedriger liegen als im alten Stadtgebiet.
Sonnenlos und windgeplagt
Hinzu kommt ein weiteres Problem: Das neue Straßenraster folgt nicht mehr dem Gelände, sondern einem geometrischen Gitter. Die Gebäude sind hoch und stehen eng beieinander. Im Sommer mag das kompakt wirken – im Winter verhindert es, dass die tief stehende Sonne die Straßen überhaupt erreicht.
Jennie Sjöholm, Spezialistin für gebautes Kulturerbe an der Universität Göteborg, bringt es drastisch auf den Punkt: „Die Entscheidungsträger haben bei der Planung der Stadt das Design nicht für das Stadtklima optimiert.“
Viele Versäumnisse
Sjöholm beobachtet die Umsiedlung und sieht viele Versäumnisse. „Obwohl die Stadtplaner mit drei Einkaufszentren, einem Platz und einem neuen Rathaus einen Mehrwert geschaffen haben, haben sie auch einen ‚verdammten Windkanal‘ geschaffen, wie mir ein Bewohner über den Platz gegenüber der Einkaufsstraße sagte.“
Windkanäle entstehen, wenn kalte Luft zwischen hohen Gebäuden beschleunigt wird. In Kombination mit Temperaturen von minus 20 °C kann das die gefühlte Kälte um weitere 10 °C verstärken – ein Effekt, der als Windchill-Faktor bezeichnet wird.
Warum das alte Kiruna wärmer war
Das historische Kiruna war – im Wortsinn – klimatisch clever gebaut. Der Südhang fungierte als natürliche Sonnenfalle. Die Straßen verliefen geschwungen, um Luftströmungen zu bremsen. Kleine Grünflächen an Kreuzungen wirkten wie Puffer, die Schneeverwehungen minderten.
Der Nachkriegsarchitekt Ralph Erskine, selbst Experte für arktische Architektur, setzte in den 1950er-Jahren auf Gebäude mit abgerundeten Ecken, um Luftwirbel zu vermeiden. Hohe Häuser schützten niedrigere Innenhöfe. Er nutzte sogar Schnee als natürliche Isolierung, indem Dächer so konstruiert wurden, dass sich dort kontrolliert Schneeschichten bildeten.
Diese Prinzipien sind in der neuen Stadt kaum erkennbar. Stattdessen dominieren breite Straßenachsen und glatte Fassaden, die Windströmungen beschleunigen. Die Senkenlage verschärft das Problem: Kaltluft bleibt liegen, während warme Luft entweicht – ein klassischer Fehler in der Stadtklimatologie.
Fehlende Balance zwischen Architektur und Klima
Sjöholm kritisiert, dass ästhetische und wirtschaftliche Überlegungen Vorrang vor klimatischen Faktoren hatten. Die Entscheidung für das neue Zentrum fiel auch, weil dort bereits Wasser-, Abwasser- und Stromleitungen vorhanden waren – eine ökonomisch nachvollziehbare, aber mikroklimatisch ungünstige Wahl.
„Die Entscheidungsträger haben anderen Dingen Vorrang vor dem vollständigen Schutz des Mikroklimas eingeräumt. Aber es ist auch teilweise eine Frage der Unwissenheit“, sagt Sjöholm. „Auf der Nordseite bestimmter Stadtteile der neuen Stadt wurden Spielplätze und Balkone gebaut.“
Kann man das noch retten?
Ganz verloren ist die neue Stadt nicht. Expertinnen und Experten empfehlen, durch gezielte Baumpflanzungen, Windschutzwände und geschickte Stadtmöblierung das Mikroklima zu verbessern. Schon kleine Eingriffe – etwa windbrechende Baumreihen oder transparente Schneeschutzwände – können den Luftfluss beruhigen.
Auch reflektierende Fassadenfarben oder wärmespeichernde Materialien wären denkbar, um den Temperaturverlust zu mindern. Doch solche Maßnahmen sind teuer und können das grundlegende Problem – die Lage in der Kaltluftsenke – kaum ausgleichen.
Ein Beitrag von: