Göltzschtalbrücke – ein Weltrekord aus Ziegeln
Größte Ziegelbrücke der Welt: Wie Ingenieure 1851 mit Mathe und 26 Mio. Ziegeln die Göltzschtalbrücke im Vogtland bauten.
Die Göltzschtalbrücke ist nicht nur die größte Ziegelsteinbrücke der Welt, erstmals wurde außerdem eine Brücke mathematisch statisch berechnet.
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Zwischen den Städten Netzschkau und Mylau spannt sich ein Bauwerk, das in mehrfacher Hinsicht Rekorde hält: die Göltzschtalbrücke. Sie ist mit 574 m Länge und 78 m Höhe nicht nur die größte Ziegelsteinbrücke der Welt, sondern seit ihrer Fertigstellung 1851 auch ein Symbol für die Ingenieurskunst des 19. Jahrhunderts. Noch heute rollen täglich Züge über das Viadukt und verbinden Leipzig mit Hof und weiter nach Nürnberg.
Die Brücke entstand in einer Zeit, in der Eisenbahnprojekte Europa veränderten. Sie war Teil einer strategisch wichtigen Verbindung zwischen Bayern und Sachsen. Die neu gegründete Sächsisch-Bayerische Eisenbahn-Compagnie wollte die Strecke Leipzig–Hof fertigstellen und damit eine Lücke im Bahnnetz schließen. Damit waren ab Mitte des 19. Jahrhunderts direkte Fahrten von Berlin bis München möglich.
Inhaltsverzeichnis
- Ein Staatsvertrag und große Hindernisse
- Wettbewerb um die beste Lösung
- Schubert übernimmt selbst
- Baustart mit Hindernissen
- Organisation einer Großbaustelle
- Apotheker entwickelte speziellen Mörtel
- Anpassungen während des Baus
- Die Dimensionen
- Unterbrechungen und politische Spannungen
- Feierliche Schlusssteinsetzung
- Ein Staatsakt auf Schienen
- Erste Betriebsjahre
- Umbauten und Instandhaltung
- Anpassung an moderne Züge
- Weg zum UNESCO-Welterbe
- Technisches Erbe
Ein Staatsvertrag und große Hindernisse
Der Grundstein für dieses Vorhaben wurde schon 1841 gelegt. Damals unterzeichneten Bayern, Sachsen und das Herzogtum Sachsen-Altenburg einen Staatsvertrag, der den Bau der Bahnstrecke regelte. Die Trasse musste durch das Vogtland führen – und damit auch über das breite Tal der Göltzsch.
Dieses Tal war für die damaligen Ingenieure eine Herausforderung. Zwar ist der Fluss selbst vergleichsweise schmal, doch die tief eingeschnittene Landschaft machte eine Überbrückung von bis dahin unbekannten Dimensionen nötig.
Wettbewerb um die beste Lösung
Um eine geeignete Konstruktion zu finden, schrieb die Eisenbahngesellschaft am 27. Januar 1845 einen Wettbewerb aus. 1000 Taler Preisgeld waren eine enorme Summe, entsprechend hoch war das Interesse. 81 Entwürfe wurden eingereicht – von realistisch bis skurril.
Einige Ideen waren technisch kaum umsetzbar, etwa ein 80 m hoher Damm quer durchs Tal, in dessen Fundament ein Tunnel für die Göltzsch eingelassen werden sollte. Andere Konzepte waren zwar solide, konnten aber keine belastbare Berechnung ihrer Tragfähigkeit vorlegen.
Die Prüfungskommission unter Leitung des aus Wernesgrün stammenden Ingenieurs Johann Andreas Schubert – bekannt als Konstrukteur der ersten sächsischen Dampflokomotive „Saxonia“ – musste feststellen, dass keiner der Vorschläge allen Anforderungen entsprach. Das Preisgeld wurde auf mehrere Teilnehmer verteilt, deren Entwürfe zumindest nützliche Ideen lieferten.
Schubert übernimmt selbst
Weil keine der Einsendungen tauglich war, entwarf Schubert selbst eine Lösung. Er nutzte seine Erfahrungen aus dem Bau anderer Viadukte und entwickelte auf Basis der damals neuen Stützlinientheorie die erste mathematisch statisch berechnete Brücke der Welt. Diese Theorie erlaubte es, die Belastungen genau zu ermitteln, anstatt sich nur auf Erfahrung und Bauchgefühl zu verlassen.
Schubert plante eine Brücke aus vier Etagen mit insgesamt 98 Bögen, wobei Ziegel als Hauptbaustoff vorgesehen waren. Granit sollte nur dort verwendet werden, wo die Beanspruchung besonders hoch war. Die Entscheidung für Ziegel hatte praktische Gründe: In der Region gab es große Tonvorkommen, die den Bau preiswerter und schneller machten.
Ziegelbrücken waren im 19. Jahrhundert nicht völlig neu. In England stand bereits der Stockport-Viadukt, ebenfalls aus Backstein, wenn auch niedriger. Doch die Göltzschtalbrücke sollte deutlich größer werden. Die gleichmäßige Bogenstruktur erinnerte an römische Aquädukte, wie sie in Frankreich oder Spanien noch heute erhalten sind.

Das Bogenfeld von unten.
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Baustart mit Hindernissen
Die Grundsteinlegung erfolgte am 31. Mai 1846. Die Leitung der praktischen Arbeiten übernahm Oberingenieur Robert Wilke. Vor Ort koordinierte Ferdinand Dost, ebenfalls ein erfahrener Ingenieur, den Bauablauf.
Schon bald mussten die Pläne geändert werden. Der Baugrund im Tal erwies sich als weniger tragfähig als erwartet. Statt der vorgesehenen gleichmäßigen Bögen entstand in der Mitte ein großer Parabolbogen mit 31 m Spannweite. Diese Anpassung machte die Brücke nicht nur stabiler, sondern gab ihr auch ihr heutiges markantes Aussehen.
Organisation einer Großbaustelle
Für die Baustelle waren logistische Meisterleistungen nötig. Etwa 20 Ziegeleien entlang der Bahnlinie produzierten täglich bis zu 50.000 Ziegel im sogenannten Dresdner Format. Auf dem Höhepunkt wurden sogar 150.000 Stück pro Tag verbaut.
Der Bau erforderte enorme Mengen Holz für Lehrgerüste – Berichte schwanken zwischen 23.000 und 230.000 gefällten Bäumen. Bis zu 1.736 Arbeiter waren gleichzeitig im Einsatz. Die Arbeitsbedingungen waren hart: von Sonnenaufgang bis spät in den Abend, mit unzureichender Sicherheitsausrüstung. 31 Menschen verloren ihr Leben, über 1.300 mussten ärztlich versorgt werden.
Apotheker entwickelte speziellen Mörtel
Neben den Ziegeln war der Mörtel ein entscheidender Faktor für die Stabilität. Der Reichenbacher Apotheker und Chemiker Heinrich Carl entwickelte eigens eine Mischung aus Kalk, Sand, Ziegelmehl, Alaunschieferschlacke und Wasser. Diese Kombination sorgte für eine hohe Festigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen Witterungseinflüsse.
Qualitätssicherung war ein zentrales Thema. Schubert ließ eine Prüfmaschine entwickeln, mit der die Druckfestigkeit der Ziegel stichprobenartig getestet wurde. Nur Steine, die die Belastungstest bestanden, wurden verbaut.
Anpassungen während des Baus
Die geänderte Planung mit dem großen Mittelbogen führte zu einer architektonischen Besonderheit. Statt gleichförmiger Halbkreisbögen setzte man hier auf Parabolbögen, die die Kräfte günstiger verteilten.
Für jeden Bogen war ein massives Holzgerüst nötig. Diese Lehrgerüste mussten das Gewicht der Ziegel während der Bauphase tragen, bis der Schlussstein gesetzt war. Erst dann konnte der Bogen aus eigener Kraft stehen.
Die Dimensionen
Insgesamt wurden für das Bauwerk etwa 26 Millionen Ziegel verbaut. Das Mauerwerksvolumen belief sich auf rund 135.000 Kubikmeter, wovon über die Hälfte aus Ziegel bestand. Der Rest verteilte sich auf Werk- und Bruchstein.
Die Brücke ist 574 m lang, 78 m hoch und verfügt über vier Etagen mit 98 Gewölben. Der größte Bogen überspannt 30,9 m. Zur Bauzeit waren diese Maße eine absolute Ausnahme im Eisenbahnbau.

Blick ins Quergewölbe der Göltzschtalbrücke im Sommer 2025.
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Unterbrechungen und politische Spannungen
Die Arbeiten liefen insgesamt zügig, gerieten aber 1848 ins Stocken. Grund war die politische Lage: Die Februarrevolution in Frankreich löste auch in Teilen Deutschlands Unruhen aus.
Schubert selbst unterstützte offen die Forderungen nach mehr Demokratie. Das brachte ihn in Konflikt mit der sächsischen Regierung. 1849 wurde er von seinen Aufgaben entbunden. Zur Fertigstellung der Brücke lud man ihn nicht ein, und auch Ehrungen blieben aus. Erst viele Jahre später wurde er offiziell rehabilitiert.
Feierliche Schlusssteinsetzung
Am 14. September 1850 führte König Friedrich August II. die traditionellen Hammerschläge am Schlussstein des großen Mittelbogens aus. Ein Jahr später, am 12. Juli 1851, folgte die Belastungsprobe.
Zwei Tage danach, am 15. Juli, wurde die Brücke zusammen mit der Elstertalbrücke feierlich eröffnet. Ein Festzug fuhr von Leipzig nach Plauen, gezogen von der Lokomotive „Göltzschtal“. Unter den Gästen waren Prinz Albert von Sachsen und Vertreter der bayerischen Partner.
Göltzschtalbrücke – Technische Daten
- Bauzeit: 1846–1851
- Ort: Zwischen Netzschkau und Mylau, Vogtland (Sachsen)
- Funktion: Eisenbahnviadukt der Strecke Leipzig–Hof
- Länge: 574 m
- Höhe: 78 m
- Anzahl Bögen: 98 in vier Etagen
- Größter Bogen: 31 m Spannweite
- Hauptbaustoff: Ziegel (ca. 26 Mio. Stück)
- Mauerwerksvolumen: rund 135.000 m³
- Besonderheit: Erste statisch berechnete Brücke der Welt
- Baukosten: ca. 2 Mio. Taler
- Status heute: In Betrieb; Bewerbung als UNESCO-Weltkulturerbe
Ein Staatsakt auf Schienen
Auf dem Damm vor der Brücke hielt der Zug an. Oberingenieur Wilke überreichte Prinz Albert eine Zeichnung der Brücke. Unter Musik und Böllerschüssen setzte sich der Festzug wieder in Bewegung.
Die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ berichtete, wie der Staatsminister Behr ein Hoch auf den König ausrief, das von den umliegenden Bergen widerhallte. Noch am selben Tag wurde auch die Elstertalbrücke offiziell eröffnet.
Erste Betriebsjahre
Der erste Fahrplan nach der Eröffnung sah vier Personenzüge und zwei Güterzüge pro Tag vor. Damals war die Göltzschtalbrücke die höchste Eisenbahnbrücke der Welt – und ist bis heute die größte Ziegelbrücke überhaupt.
Die neue Strecke brachte wirtschaftliche Vorteile für die Region. Sie verband die Industrie- und Handelszentren Sachsens mit Bayern und eröffnete neue Transport- und Reisemöglichkeiten.
Umbauten und Instandhaltung
Schon vor dem Ersten Weltkrieg zeigte sich, dass die Brücke an die steigenden Anforderungen des Bahnverkehrs angepasst werden musste. 1930 erhielt sie eine neue Fahrbahnwanne aus Stahlbeton. Dadurch ließ sich der Abstand der Gleise auf vier Meter erweitern. Auch die Brüstung wurde erneuert, um die lichte Breite zu vergrößern.
Im Zweiten Weltkrieg entging das Bauwerk nur knapp der Zerstörung. Gegen Kriegsende plante die Wehrmacht, die Brücke zu sprengen, um den Vormarsch alliierter Truppen zu erschweren. Der Befehl wurde jedoch nicht mehr ausgeführt.
Zwischen 1955 und 1958 sanierte man das Mauerwerk. Bis in die 1970er Jahre folgten kleinere Arbeiten wie das Anbringen von Stahlblechabdeckungen zum Schutz vor Witterung.

Leben unter der Göltztalbrücke.
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Anpassung an moderne Züge
Heute ist die Brücke Teil der Sachsen-Franken-Magistrale, einer wichtigen Verbindung zwischen Sachsen und Bayern. Moderne Neigetechnikzüge können sie mit bis zu 160 km/h befahren, sonst gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h.
Von 2010 bis 2012 erfolgte ein größerer Umbau im Zuge der Elektrifizierung des Abschnitts Reichenbach–Hof. Während dieser Arbeiten war die Brücke nur eingleisig befahrbar. Das neue Gleistragwerk besteht aus 650 Stahlbeton-Halbfertigteilen und Ortbeton. Auch die Geländer wurden verändert, um Schneeverwehungen zu vermeiden.
Weg zum UNESCO-Welterbe
Seit 2020 bewirbt sich die Stadt Reichenbach im Vogtland um die Aufnahme der Göltzschtalbrücke in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes. Ziel ist es, das Bauwerk als einzigartiges Zeugnis der Ingenieurbaukunst des 19. Jahrhunderts weltweit anzuerkennen.
Parallel dazu wird ein Konzept zur touristischen Aufwertung des Umfelds erarbeitet. Geplant sind unter anderem neue Wander- und Radwege, eine verbesserte Beschilderung sowie bessere Park- und Fußgängerzugänge. Die Investitionskosten variieren je nach Ausführung zwischen 15 und 28 Millionen Euro.
Technisches Erbe
Aus heutiger Sicht zeigt die Göltzschtalbrücke gleich mehrere Aspekte der Baukunst:
- Sie war das erste Bauwerk weltweit, das auf Grundlage einer mathematisch fundierten statischen Berechnung errichtet wurde.
- Der Einsatz von Ziegeln in dieser Größenordnung gilt als Meilenstein der Materialnutzung.
- Die Bauorganisation mit paralleler Ziegelproduktion und Qualitätssicherung war für die damalige Zeit wegweisend.
Dass die Brücke noch heute in Betrieb ist, während viele andere Eisenbahnbrücken des 19. Jahrhunderts längst verschwunden sind, spricht für die Arbeit der damaligen Ingenieure und Handwerker.
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