Bildungspolitik 27.04.2012, 11:57 Uhr

Berufliche Bildung wird in Europa abgewertet

Länder, die ihre Studierendenquote nach den Empfehlungen der OECD nach oben treiben, gefährden ihre berufliche Bildung und ihre Wettbewerbsfähigkeit, warnt der Bremer Bildungsforscher Felix Rauner. Der Anteil der Arbeitsplätze für hoch Qualifizierte liege in den Industriestaaten nur bei 20 %.

Noch ist der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR), mit dem allgemeine und berufliche Bildungsabschlüsse vergleichbar gemacht werden, nicht unter Dach und Fach, doch eine Tendenz zeichnet sich schon ab: Die berufliche Bildung werde gegenüber der akademischen Bildung abgewertet, bemängelt Felix Rauner, Ingenieur und Bildungsforscher an der Universität Bremen. Denn im EQR seien die oberen Stufen für die akademische Bildung reserviert. Dabei müsse die Berufsausbildung den Kürzeren ziehen.

Die treibende Kraft, die in Europa hinter der Abwertung der beruflichen Bildung steht, ist Großbritannien, sagt Rauner. Die Briten orientieren sich am GATS, dem internationalen Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen. Darin wird der Qualifikationsmarkt als ein wichtiger Service-Markt eingestuft. Gesteuert werden soll dieser über ein modulares Zertifizierungssystem.

In allen bildungspolitischen Dokumenten der Europäischen Union, die meist von Briten verfasst würden, sei festgeschrieben, dass Bildung nicht an berufliche Bildungsgänge gebunden sein dürfe, so Rauner. In Form modularer Bausteine müsse Bildung unabhängig von Ort und Zeit erworben werden können. Mit Credit-Points als Währung sollen diese Angebote vergleichbar werden. Das soll den Arbeitsmarkt flexibler machen und die Mobilität erhöhen. Ein geregeltes Berufsbildungssystem gilt in diesem Zusammenhang im Vergleich zu diesem Baustein-System dagegen als Hemmschuh für die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und der Ökonomie.

Bildung ist zunehmend der Akademisierung unterworfen

Die zunehmende Akademisierung der Bildung geht zurück auf das Konzept der post-industriellen (Wissens)gesellschaft, das von dem einflussreichen amerikanischen Soziologen Daniel Bell (1973) formuliert wurde. Der Dreh- und Angelpunkt der post-industriellen Gesellschaft sei das theoretische wissenschaftliche Wissen, um das sich (zukünftig) alles drehen werde: die Technikentwicklung, die Ökonomie und die Bildung. Diese problematische Botschaft wurde Auslöser für eine Politik, die auf eine steigende Zahl von akademisch ausgebildeten jungen Menschen setzte. Im Englischen hat sich dafür die Redewendung „college-for-all“ eingebürgert.

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Eine solche Politik, die auch von der OECD propagiert wird, stehe jedoch konträr zur beruflichen Bildung, kritisiert Rauner. Denn die Anforderungen, die im Beruf gestellt werden, unterscheiden sich grundlegend von den Anforderungen an wissenschaftliches Arbeiten. In der Wissenschaft zähle die Vermehrung von disziplinärem Wissen. Deshalb werden „zu immer spezielleren Themen tiefe Löcher gebohrt – eine zu bewahrende Tradition für das Hervorbringen neuen Wissens“.

Anders in der Arbeitswelt. Dort müsse stets zwischen der Funktionalität, Wirtschaftlichkeit, Umwelt- und Sozialverträglichkeit sowie der Nachhaltigkeit der Aufgaben- und Problemlösungen abgewogen werden. Das Ziel müsse immer eine „situationsadäquate Lösung im Gespräch mit den Kunden“ sein, sagt Rauner. Dabei komme es auf die „Fähigkeit zur ganzheitlichen Aufgabenlösung“ an.

Die college-for-all-Politik negiere jedoch diese Unterschiede, bemängelt der Bremer Bildungsexperte. Und sie habe bei jungen Menschen Aufstiegshoffnungen geweckt, die nicht zu erfüllen seien. In Ländern, in denen die Studierendenquote hochgetrieben wurde, müssten sich Hochschulabsolventen oft mit Jobs begnügen, für die sie überqualifiziert sind. Denn in allen Industrieländern liege der Anteil der Arbeitsplätze, für die eine wissenschaftliche Ausbildung nötig sei, bei rund 20 %. In zahlreichen OECD-Ländern wie Kanada, Spanien, den USA, aber auch in vielen Schwellenländern übersteige der Anteil der hochschulisch Qualifizierten nicht selten um mehr als das Doppelte die Nachfrage. Die Redewendung „Now I have a bachelor-degree, but I don’t have any skills“ ist z. B. in den USA Ausdruck dieser Entwicklung. Selbst in China ist in den Ballungszentren diese Entwicklung zu beobachten. Dieses Problem ist in Deutschland aber aufgrund der geringeren Akademikerquote weniger gravierend, erklärt Rauner.

Schnittmenge zwischen beruflicher Bildung und Hochschulbildung vergrößert sich

Wie sieht die Alternative des Bremer Bildungsforschers aus? Er plädiert für mehr Durchlässigkeit zwischen beruflicher Bildung und Hochschulbildung. Sie dürfe aber nicht dazu führen, dass beruflich Qualifizierten eine ihnen fremde akademische Bildung übergestülpt wird. Es ergebe keinen Sinn, wenn beispielsweise ein Elektromeister ein Grundstudium der Elektrotechnik in einem Bachelor-Studium aufnähme. Ein solcher Studiengang sei ihm fremd und habe nichts mit seinen Kompetenzen zu tun. „Wenn er ein solches Studium durchhält, kommt er dümmer heraus als er hereingegangen ist.“ Er verliere Praxiserfahrung und tausche dafür formale Kenntnisse ein. Wenn er im Beruf zurück ist, brauche er noch einmal zwei Jahre, um dort hinzukommen, wo er schon einmal war. Inklusive des Studiums habe er dann fünf Jahre verloren. „Solche Durchlässigkeitsregelungen sind wirklichkeitsfremd und werden nicht angenommen.“

Rauner fordert stattdessen eine „Architektur paralleler Bildungswege“. Neben den herkömmlichen disziplinär ausgerichteten universitären Studiengängen müssten duale Studiengänge für Studenten eingerichtet werden, die aus dem Berufsleben kommen. Auch diese Studiengänge sollten bis zur Promotion führen.

Anfänge seien in Deutschland schon gemacht. So ist z. B. die Duale Hochschule Baden-Württemberg mit ihren dualen Bachelor- und Masterstudiengängen mittlerweile die größte Hochschule Baden-Württembergs. Wichtig sei allerdings, dass diese Studiengänge vor allem für Absolventen der dualen Berufsausbildung geöffnet würden. Rauner hält daher das Schweizer Modell für wegweisend, in dem mit einer „Berufslehre“ zugleich das Berufsabitur erworben werden kann. Fachhochschulen nehmen bevorzugt solche Bewerber auf.

Ein durchgängiger dualer Bildungsweg habe einen doppelten Vorteil, ist Rauner sicher: Er würde eine hochschulische Ausbildung für qualifizierte Berufspraktiker attraktiv machen. Ein solcher Bildungsweg würde verhindern, dass Berufspraktiker ein Studium aufnehmen, das an ihren Erfahrungen und Interessen vorbeigeht.

Doch mit dem Europäischen Qualifikationsrahmen werden solche Entwicklungen eher erschwert. Im deutschen Qualifikationsrahmen ist die Struktur paralleler Bildungswege dagegen angelegt.

Durch eine Initiative der G20-Arbeitsminister vom September 2011 zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit habe die duale Berufsausbildung international sehr viel Rückenwind erhalten. Zu Recht werde auf die im internationalen Vergleich sehr niedrige Jugendarbeitslosigkeit vor allem in der Schweiz, aber auch in Deutschland und Österreich, verwiesen. Europa hat eine Chance auf der Grundlage moderner, breitbandiger Kernberufe wie z. B. dem Kfz-Mechatroniker, der in einem europäischen Projekt entwickelt wurde und einer darauf basierenden dualen Berufsbildung, eine wegweisende Rolle zu spielen.

Vernachlässigte, berufliche Bildung führt zu Deindustrialisierung

Wohin eine Vernachlässigung und Deregulierung in der beruflichen Bildung führe, zeigten die ausgeprägten Prozesse der Deindustrialisierung in Ländern wie Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Vergleichsuntersuchungen britischer Forscher zur Wettbewerbsfähigkeit englischer Unternehmen zeigten, dass die Arbeitsproduktivität rund 30 % unter der vergleichbarer deutscher Unternehmen liegt. Die Ursache dafür liegt vor allem in der fehlenden Qualifizierung von Facharbeitern und Meistern.

Erst seit Mitte der 90er-Jahre wird in Großbritannien versucht, mit viel Geld und Engagement wieder eine moderne Lehrlingsausbildung aufzubauen. Rauner vermutet jedoch, dass sie nicht „sonderlich effektiv“ ist. Erste Untersuchungen zeigten, dass sie sehr einseitig auf die Nachfrage der Unternehmen ausgerichtet sei. Das innovative und kluge Zusammenspiel zwischen Unternehmen, Politik und Berufsbildungsforschung fehle völlig. Kooperationen mit Ländern wie Deutschland und der Schweiz, die ein gut funktionierendes duales Bildungssystem haben, gebe es kaum.

In starkem Maße hätten auch die USA die berufliche Bildung zugunsten einer „college-for-all-Politik“ vernachlässigt, sagt Rauner – zulasten des Niveaus an den Colleges. So besuche mittlerweile ein großer Teil der Studierenden sogenannte „some-college-Kurse“ von sechs Wochen bis zu einem Semester, in denen vermittelt wird, wie man Haus und Garten in Schuss hält oder Hochzeiten organisiert. Eine bildungspolitische Weichenstellung, die zum industriellen Abstieg der USA beigetragen habe, so Rauner.

Auch China setzt verstärkt auf Studium anstelle beruflicher Bildung

Auch China, der Wirtschaftsgigant der Zukunft und Herausforderer der Vereinigten Staaten, orientiert sich in der Bildungspolitik stark an den USA, beobachtet Rauner, der China häufig besucht und mit Bildungsforschern aus dem Reich der Mitte zusammenarbeitet.

„Vieles wird in China unbesehen übernommen und gilt als kulturell und wissenschaftlich überlegen“, sagt Rauner. Management-Konzepte aus den US-Kaderschmieden erfreuen sich großer Wertschätzung. Wie in den USA ist der Anteil der Studierenden in den Ballungszentren auf bis zu 70 % eines Altersjahrganges angestiegen. Auf dem Arbeitsmarkt fehlen dagegen qualifizierte Facharbeiter.

Kompetenz in den Sektoren, die Deutschland stark gemacht haben, würden dagegen unterschätzt, beobachtet der Bremer Experte. Zwar seien Ingenieure aus Deutschland in China hoch angesehen, aber es fehle am Verständnis für das Zusammenspiel von Ingenieur-, Meister- und Facharbeiterkompetenz in einer branchenspezifisch stark ausdifferenzierten Industrie.

Auszubildende, die nach einer zweijährigen schulischen Berufsausbildung ihr Praxisjahr absolvieren, werden eher als billige Arbeitskräfte eingesetzt. Es fehle an professionell entwickelten und verbindlichen Ausbildungsordnungen. Die schulische und hochschulische Ausbildung orientiere sich durchgängig an sogenannten „Textbooks“. Im Vordergrund stehe das Pauken, doch wenn es darum gehe, Aufgaben zu lösen, zeige sich, dass zwar fleißig, aber doch schematisch gearbeitet werde. Kritik am Vorgefundenen sei nicht üblich.

Rauner hält das für ein kulturelles Phänomen, nicht für ein intellektuelles. Diese Haltung sei tief in der Mentalität der Chinesen verankert und durch den Kommunismus verstärkt worden. Rauner: „Es wird viel theoretisches Wissen gelehrt, aber keine Antwort auf die Frage, wie man Kreativität fördern kann.“

Der Bremer Bildungsforscher teilt die Einschätzung chinesischer Berufsbildungsforscher, dass China ohne eine kulturelle Neuausrichtung im Bildungsbereich langfristig ökonomische Probleme bekomme, vor allem im Hochtechnologiesektor. Hänge das Land weiter problematischen US-amerikanischen Leitbildern in der Wirtschaftsentwicklung sowie im Bereich der beruflichen Qualifizierung von Fachkräften nach, dann dürfte es ihnen auch schwer fallen, auf dem Niveau deutscher oder schweizer Unternehmen z. B. Werkzeugmaschinen zu bauen, ist Rauner sicher. Möglicherweise führt jedoch ein anderer Weg zum Erfolg: das Einkaufen mittelständischer Weltmarktführer im Hightech-Sektor und eine intelligente Joint Venture-Politik.

Ein Beitrag von:

  • Hartmut Steiger

    Redakteur VDI nachrichten. Fachthemen: Aus- und Weiterbildung, Studium, Beruf.

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