VDI-Brasil setzt auf Austausch, Diversität und Innovation
Am Rande der Expomafe haben wir André Wulfhorst getroffen, den neuen Präsidenten der VDI-Brasil. Er erzählt von seinem Weg zur VDI-Brazil, den Herausforderungen für Brasiliens Ingenieurwesen und erklärt, warum ohne gut ausgebildete Fachkräfte selbst die besten Technologien ins Stocken geraten. Ein Einblick in aktuelle Projekte, neue Ziele und das kommende Jubiläum.

Perspektiven und Projekte: André Wulfhorst über die Entwicklung von VDI-Brasil.
Foto: VDI Brazil
Herr Wulfhorst, Sie sind nun schon einige Tage im Amt. Können Sie uns mehr über Ihren beruflichen Werdegang und den Weg zu VDI Brasilien erzählen? Was hat Sie dazu bewegt, diese Position anzunehmen?
Ich habe Ingenieurwissenschaften hier in Brasilien studiert und auch einen Masterabschluss gemacht. Ursprünglich hatte ich geplant, in Deutschland zu promovieren, doch meine berufliche Laufbahn führte mich zu Daimler und später zu Mercedes-Benz. Das war der Beginn meiner Karriere als Ingenieur, Ende der 90er Jahre.
Mehr als zehn Jahre lang war ich bei Mercedes-Benz tätig, und dort hatte ich meinen ersten Kontakt zum VDI. Ein Kollege, Christian Müller – der heute noch bei GROB tätig ist und mein Vorvorgänger im Amt als Präsident der VDI-Brasil (2013/2014) ist – hatte mich damals eingeladen, bei einem Symposium zur Produktion mitzuwirken, das der VDI organisierte. Ich war damals als Manufacturing Engineer tätig, und so begann meine Geschichte mit dem VDI. Ich nahm an den Vorbereitungsmeetings teil und half, das Event zu realisieren. Im darauffolgenden Jahr gelang es mir, Mercedes-Benz dazu zu bewegen, Mitglied im VDI Brasilien zu werden.
Wie Sie vielleicht wissen, wird der VDI Brasilien durch Unternehmen unterstützt, die jährlich Beiträge leisten, nicht nur von Ingenieuren. Es gibt viele Ingenieure, auch Deutsche, bei VDI Brasilien, aber die finanzielle Unterstützung kommt hauptsächlich von den Unternehmen. Ende der 2000er Jahre, um 2009/2010, trat Mercedes-Benz dem VDI Brasilien bei, und meine Beteiligung an den Veranstaltungen wuchs.
Ein paar Jahre später wurde einer unserer Führungskräfte in den Vorstand des VDI Brasilien berufen. Ich war damals als seine rechte Hand tätig, da ich bereits aktiv im VDI engagiert war. Als er nach Deutschland zurückkehrte, übernahm ich seine Position als Vice President des VDI Brasilien.
Vor genau sechs Jahren nahm ich dann ein spezifisches Amt an. Gemeinsam mit Mauricio Muramoto, meinem Vorgänger und Präsidenten für sechs Jahre, war ich Schatzmeister der Institution. In den nächsten vier Jahren führten wir gemeinsam den VDI Brasilien. Später beschlossen wir, eine dritte Person in die Führung zu holen, und so erweiterten wir das Führungsteam. Ich war in dieser Zeit auch maßgeblich an der Neustrukturierung der Institution beteiligt.
Seit Mai dieses Jahres habe ich offiziell das Amt übernommen, aber in den letzten sechs Jahren war ich bereits aktiv in der Verwaltung des VDI tätig und eng mit Mauricio Muramoto zusammengearbeitet. Die heutige Struktur des VDI Brasilien und viele der Entscheidungen, die dort getroffen wurden, tragen meine Handschrift.
So arbeitet die VDI-Brasil in Fachclustern
Die VDI-Brasil organisiert sogenannte „Clusters“ – Arbeitsgruppen, in denen sich Fachleute und Interessierte regelmäßig austauschen. Ziel ist es, Wissen zu teilen, Best Practices zu diskutieren, Erfahrungen auszutauschen und Netzwerke zu knüpfen. Könnten Sie etwas mehr über die Organisation von VDI-Brazil berichten?
Die Cluster bieten eine Plattform für den Austausch von Ideen und fördern die Zusammenarbeit zwischen Fachleuten aus verschiedenen Bereichen.
Aktuell gibt es fünf aktive Cluster:
Digitalisierung in der Industrie: Fokus auf Technologien und Strategien zur Umsetzung von Industrie 4.0.
iEngineer: Förderung von Innovation und technischer Weiterbildung. Die VDI-Brasil setzt sich aktiv dafür ein, Ingenieurinnen und Ingenieure in Brasilien für die Anforderungen der digitalen Zukunft zu qualifizieren. Angesichts des rasanten technologischen Wandels wird deutlich, wie wichtig die enge Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Industrie ist. Die neue Generation von Ingenieuren soll nicht nur über technisches Wissen verfügen, sondern auch offen für kontinuierliches Lernen, Innovation und kreative Problemlösungen sein. Genau hier setzt die Initiative „iEngineer“ an – ein Themencluster, das sich mit Forschung, Entwicklung, Innovation und praxisnaher Weiterbildung beschäftigt.
People and Management: Themen rund um Vielfalt und Gleichberechtigung in technischen Berufen. Es richtet sich vor allem an HR-Verantwortliche, aber auch an junge Ingenieurinnen und Ingenieure. Dieses Cluster besteht nun seit knap vier Monaten.
Kleine und mittlere Unternehmen (KMU): Austausch zu Herausforderungen und Chancen für KMU, insbesondere im Kontext der digitalen Transformation.
Prozessindustrie: Optimierung und Digitalisierung von Produktionsprozessen sowie Schulung von Ingenieuren in neuen Technologien.
Ein besonders spannendes Projekt, das aus diesen Clustern hervorgegangen ist, ist der Austausch zwischen deutschen und brasilianischen Ingenieurinnen und Ingenieuren – organisiert unter dem Titel iEngineer. Wir konnten bereits zwei Austauschprogramme realisieren. Diese wurden mitgestaltet und gefördert durch VDI International Affairs, unter der Leitung von Herrn Dr. Thomas Kiefer.
Beim ersten Projekt nahmen jeweils fünf junge Ingenieure aus Brasilien und Deutschland teil. Zunächst reisten die Brasilianer für einige Wochen nach Deutschland, ein Jahr später kamen die Deutschen nach Brasilien – zeitlich passend zum Tag des Deutschen Ingenieurs. Dort präsentierten sie gemeinsam das Ergebnis ihrer Zusammenarbeit: ein Konzept für vertikale Landwirtschaft mit Hilfe von 3D-Druckern – etwa für den Anbau von Erdbeerpflanzen. Technisch war das Projekt sehr überzeugend, aber noch wichtiger war der kulturelle Austausch und das gegenseitige Lernen.
Die Erfahrung war so positiv, dass wir zwei Jahre später ein weiteres Projekt auf ähnlicher Basis umsetzen konnten – diesmal mit etwas weniger Personal, aber erneut mit deutscher Unterstützung. Das Ergebnis: eine Drohne, die Emissionen an Industrieschornsteinen messen kann, wie CO₂ und andere Gase – ein praktischer, technologisch anspruchsvoller Anwendungsfall.
Auch bei diesem zweiten Projekt stand der Austausch von Know-how im Vordergrund. Gleichzeitig war auch das technische Resultat äußerst überzeugend.

André Wulfhorst bei der Industry4Her-Veranstaltung im Rahmen der EXPOMAFE.
Foto: Alexandra Ilina
Digitale Reife messen, Know-how stärken
Könnten Sie uns mehr auch über die anderen Projekte des VDI Brasilien erzählen?
Wie bereits erwähnt, sind viele dieser Projekte in den letzten sechs Jahren entstanden oder wurden in dieser Zeit maßgeblich weiterentwickelt – also genau in dem Zeitraum, in dem ich aktiv an der Gestaltung des VDI Brasilien beteiligt war.
Ein Projekt, das wir pausiert haben, ist Silver Talents. Die Idee dahinter war, erfahrene Ingenieure – kurz vor oder im Ruhestand – mit Unternehmen zu vernetzen. Ziel war es, ihr Wissen weiterhin nutzbar zu machen. Das Projekt lief zunächst in kleinerem Rahmen. Auch wenn es nicht den erhofften Durchbruch brachte, haben wir viel daraus gelernt – vor allem über die Herausforderungen in der Umsetzung solcher Matching-Plattformen.
Kommen wir zu den erfolgreicheren Initiativen:
Ein zentrales Projekt ist der Maturity Scan zur Bewertung der Industrie-4.0-Reife von Unternehmen. Der „Maturity Scan“ ist ein von der VDI-Brasil in Zusammenarbeit mit der Acatech – der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften – und dem 4.0 Maturity Center der RWTH Aachen entwickeltes Diagnosetool, das Unternehmen dabei unterstützt, ihren digitalen Reifegrad im Kontext der Industrie 4.0 zu bewerten.
Das funktioniert über einen strukturierten Fragenkatalog, bei dem die Unternehmen Informationen bereitstellen. Daraus wird ein Score ermittelt – von 1,0 (geringe Reife) bis 4,0 (vollständig digitalisiert), wobei Letzteres weltweit kaum erreicht wird.
Dieses Tool war sehr wertvoll, weil es uns nicht nur ermöglichte, lokale Unternehmen zu unterstützen, sondern auch, eine Datenbank mit inzwischen rund 200 analysierten Firmen aufzubauen. Das Programm ist unabhängig von Partnerschaften mit Deutschland gedacht, aber es schlägt natürlich die Brücke zur deutschen Ingenieursmethodik – was ja ein Kernanliegen des VDI Brasilien ist.
Aufbauend auf dem Maturity Scan haben wir das Projekt Expert Training ins Leben gerufen, ebenfalls in Kooperation mit Acatech. Ziel ist es, Ingenieure gezielt darin auszubilden, den Reifegrad ihrer eigenen Firmen zu analysieren und daraus konkrete Entwicklungspläne für den digitalen Wandel abzuleiten: Wo stehen wir heute? Was brauchen wir für den nächsten Schritt? Muss in Schulung, Software oder Hardware investiert werden?
Dieses Training ist mittlerweile in der dritten Runde und erfreut sich großer Nachfrage – viele Unternehmen stellen aktiv Teilnehmer ab, weil sie darin einen echten Mehrwert sehen. Das zeigt uns: Der Bedarf an strukturierten, praxisnahen Weiterbildungskonzepten ist groß – und genau da setzen wir an.
Nun wurde Anfang Mai bei der EXPOMAFE das Programm Industry4Health präsentiert…
Genau, ein großes Projekt ist Industry4Her, das uns heute hierhergeführt hat. Die Idee entstand an einem kleinen Tisch im Gespräch. Industry4Her verfolgt das Ziel, mehr Frauen in Führungsrollen innerhalb der Industrie 4.0 zu bringen. Die Initiative unterstützt engagierte Ingenieurinnen mit speziellen Weiterbildungsangeboten, um sie auf verantwortungsvolle Positionen im industriellen Umfeld vorzubereiten. Dabei geht es nicht nur um Gleichstellung der Geschlechter, sondern auch um die Förderung von Vielfalt in Bezug auf Herkunft und soziale Hintergründe. Ausführlicher darüber kann unsere Vizepräsidentin Renate Fuchs berichten. Sie hat das Projekt entwickelt.
Enormes Potenzial, aber zu wenige qualifizierte Fachkräfte
Welche Herausforderungen sehen Sie aktuell für Ingenieurinnen und Ingenieure in Brasilien – insbesondere im Kontext von Digitalisierung und Globalisierung? In Deutschland wird derzeit viel über den Fachkräftemangel gesprochen. Gibt es ähnliche Entwicklungen auch hier?
Brasilien steht vor denselben Herausforderungen wie viele andere Länder – wenn nicht sogar vor noch größeren. Zwar haben wir viele Ingenieurhochschulen, doch der Anschluss an neue Technologien ist oft schwierig. Wir stehen in engem Kontakt mit zahlreichen Ingenieurinnen und Ingenieuren und sehen, wie herausfordernd es ist, aktuelle technologische Entwicklungen in die Ausbildung zu integrieren.
Oft geschieht das nur über zusätzliche Weiterbildungen, die quasi ‚aufgestülpt‘ werden, anstatt fest in die universitäre Ausbildung eingebunden zu sein. Das Tempo des technologischen Wandels ist hoch, und es erfordert viel Kraft und Ressourcen – sowohl in der Industrie als auch in Bereichen wie der Landwirtschaft.
Brasilien ist einer der größten Lebensmittelproduzenten der Welt – etwa bei Soja, Mais oder Orangen liegen wir weltweit an der Spitze, zum Teil noch vor den USA. Soja zum Beispiel ist ein zentrales Exportgut – sowohl als Futtermittel, etwa für Schweine in China, als auch für den direkten Verzehr.
Der Bedarf an technologischer Innovation ist also groß – gerade in der Landwirtschaft, aber auch in anderen Bereichen wie Bergbau, Logistik oder Fahrzeugbau. Nehmen wir etwa Nutzfahrzeuge von Mercedes-Benz, die unter extremen Bedingungen im Bergbau eingesetzt werden oder autonom neben einer Erntemaschine im Zuckerrohrfeld fahren. Solche Technologien existieren bereits, aber um sie weiterzuentwickeln und breit einzusetzen, brauchen wir deutlich mehr Ingenieurinnen und Ingenieure.
Das Verhältnis von vorhandenen Fachkräften zum tatsächlichen Bedarf ist in vielen Bereichen unausgewogen. Es mangelt nicht an industriellen Herausforderungen – im Gegenteil: Wir haben ein enormes Potenzial, aber zu wenige qualifizierte Fachkräfte, um es vollständig zu nutzen.
Welche Ziele haben Sie sich für die kommenden Jahre in Ihrer neuen Funktion gesetzt – für den VDI Brasilien?
Für die kommenden zwei Jahre haben wir ein zentrales Ziel: Im nächsten Jahr feiern wir 70 Jahre VDI Brasilien – ein besonderes Jubiläum, das zufällig mit dem 170-jährigen Bestehen des VDI in Deutschland zusammenfällt. Dieses Ereignis möchten wir zum Anlass nehmen, unsere Präsenz in Brasilien weiter auszubauen.
Vor sechs Jahren zählten wir rund 20 bis 25 Mitgliedsunternehmen. Heute sind es bereits etwa 50 – davon rund 75 Prozent deutsche Firmen. Diese Basis wollen wir weiter stärken und erweitern.
Ein wichtiges Vorhaben ist dabei auch der Aufbau neuer Projekte und thematischer Cluster.
Unser Ziel ist es, sowohl die Anzahl unserer Associates und Mitglieder als auch die Zahl der Ingenieure weiter auszubauen. Diese beiden Aspekte stehen im Mittelpunkt unserer Strategie.
Im kommenden Jahr ist Brasilien das Partnerland der Hannover Messe. Welche Chancen sehen Sie in dieser Partnerschaft für den VDI Brasilien?
Wir planen, im kommenden Jahr gemeinsam mit dem VDI Deutschland auf der Hannover Messe vertreten zu sein – mit einer deutlich stärkeren Präsenz als bisher.
In der Vergangenheit waren wir zwar schon gelegentlich dort, allerdings eher informell – über persönliche Kontakte unserer Mitglieder und Mitarbeitenden. Einmal wurde auch ein Direktor von uns offiziell entsendet.
Im nächsten Jahr möchten wir das deutlich größer aufziehen und die Gelegenheit nutzen, unsere Arbeit und Aktivitäten einem internationalen Publikum vorzustellen.
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