KI, Hyperschall, Atomraketen: Das gefährlichste Wettrüsten aller Zeiten
Die nukleare Aufrüstung wächst weltweit: Sipri warnt vor einem neuen Wettrüsten. Modernisierung, technologische Risiken und zerfallende Abrüstungsverträge verschärfen die globale Unsicherheit.

Die nukleare Bewaffnung wächst weltweit: Das schwedische Institut Sipri warnt vor einem neuen Wettrüsten. Modernisierung, technologische Risiken und zerfallende Abrüstungsverträge verschärfen die globale Unsicherheit.
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Die aktuellen Kriegshandlungen zwischen der Atommacht Israel und der Fast-Atommacht Iran lenken den Blick auf das weltweite Atomwaffenarsenal. Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri warnte in dieser Lage am 16. Juni vor einer neuen nuklearen Aufrüstung. Das Sipri stellte am Montag dieser Woche seinen neuen Jahresbericht vor. Vor allem aus dem Kapitel zu den weltweiten Atommächten geht hervor, wie diese neun Staaten die globalen Atomwaffenarsenale weiter ausbauen und modernisieren. Die nukleare Rüstungsspirale beginnt sich offenbar erneut zu drehen.
Fast alle neun Atommächte – USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich, Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel – intensivieren 2024 ihre Modernisierungsprogramme. Die Atommächte modernisieren Sprengköpfe, bohren neue Silofelder und rüsten Flotten auf. Im Januar 2025 lagen laut Sipri 12.241 Atomsprengköpfe vor. Davon waren 9614 einsatzbereit, 3912 auf Trägern montiert. Rund 2100 Sprengköpfe hielten USA und Russland in Hochalarm. China baut sein Arsenal um rund 100 neue Sprengköpfe pro Jahr aus.
Warum sind die Entwicklungen so besorgniserregend bezüglich einer nuklearen Aufrüstung?
Gleichzeitig bröckeln die internationalen Kontrollmechanismen.
- Der INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) zwischen den USA und der damaligen UdSSR war seit 1988 in Kraft, wurde jedoch 2009 beidseitig aufgekündigt.
- Die USA und Russland unterzeichneten 2010 den bis 2020 gültigen New-START-Vertrag. Die USA und Russland wollten ihre strategischen Angriffswaffen weiter verringern und begrenzen. Doch der Vertrag läuft im Januar 2026 aus. Ob es eine Neuauflage gibt, ist völlig offen.
- Hinzu kommt, dass sowohl die USA als auch Russland das Open-Skies-Abkommen 2020 verließen. Es sollte die Kontrolle der Abrüstung zwischen dem ehemaligen Warschauer-Pakt und der Nato kontrollierbar machen.
Technologien wie Hyperschall, künstliche Intelligenz (KI) und Quantenkommunikation ermöglichen neue waffentechnische Optionen. Gleichzeitig beschleunigen sie Lageanalysen und könnten Druck auf eine beschleunigte Entscheidungsfindung aufbauen. Dazu kommt, dass Hemmschwellen fallen. Geopolitische Spannungen mündeten in den letzten Jahren immer öfter in offenen bewaffneten Konflikten: Der Russland-Ukraine-Krieg, der Raketenbeschuss zwischen Israel und dem Iran, der aufgeflammte Konflikt zwischen Pakistan und Indien. Zudem fehlt die Transparenz, die zum Beispiel ein Open-Skies-Abkommen ansatzweise lieferte.
Wer hat auf der Welt wie viel Atomwaffen?

Atommächte und in deren Besitz befindliche Nuklearwaffen 2024.
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Laut Sipri-Jahrbuch lagen Anfang 2025 weltweit rund 12.241 Atomsprengköpfe in den Arsenalen. Wobei Israel bisher nicht zugegeben hat, Atomwaffen zu besitzen, aber die Fachwelt geht davon aus, dass es so ist. 9614 Sprengköpfe befinden sich in den sogenannten „militärischen Lagerbeständen“: Sie könnten „nach einer gewissen Vorbereitung“ eingesetzt werden. 5702 dieser 9614 Atomsprengköpfe befinden sich laut Sipri „in einem zentralen Lager“, würden dort aufbewahrt und vor ihrem Einsatz sei „eine gewisse Vorbereitung“ erforderlich wie der Einbau bestimmter Komponenten, Transport und Verladung auf Trägerraketen. Für Israel listet Sipri zum Beispiel hier 90 Sprengköpfe.
Die anderen rund 3912 der 9614 Sprengköpfe sind laut Sipri bereits auf Raketen montiert oder auf aktiven Stützpunkten stationiert. Etwa 2100 Sprengköpfe halten die Atommächte insgesamt in hoher Alarmbereitschaft, um die Reaktionszeiten im Ernstfall zu verkürzen. Schließlich gibt es 2627 sogenannte „retired warheads“. Sie sind zwar nicht mehr in den militärischen Lagerbeständen, wurden aber auch noch nicht demontiert. Rund 90 % der einsatzbereiten Sprengköpfe entfallen auf die USA und Russland. Dahinter folgen China mit etwa 600 Einheiten, Frankreich (290) und Großbritannien (225). Indien und Pakistan kommen auf je 200 Sprengköpfe. Nordkorea baut weiter an rund 50.
Woran macht Sipri fest, dass es eine nukleare Aufrüstung gibt?
Seit dem Ende des Kalten Krieges bauten USA und Russland ältere Sprengköpfe schneller ab, als dass sie neue stationierten. Dieser Trend kehrt sich jetzt um, weshalb Sipri von einer nuklearen Aufrüstung ausgeht. Fast alle Atomwaffenstaaten treiben Modernisierungsprogramme voran: Die neuen Waffen sind leistungsfähiger, hinzu kommen neue Trägersysteme, die neuen Technologien folgen in hoher Geschwindigkeit. Die Beweggründe für diese neue nukleare Aufrüstung sind vielfältig: Technologischer Fortschritt, geopolitische Unsicherheiten und das Streben nach Abschreckung spielen eine zentrale Rolle.
So rüstet China nuklear jährlich mit 100 neuen Sprengköpfen auf. Das sei schneller als bei jedem anderen Land, so der Sipri-Bericht. Auch die USA und Russland setzten auf Modernisierung. Bis 2035 könnte China bei dem bisherigen Ausbautempo auf bis zu 1500 Sprengköpfe kommen – immer noch nur ein Drittel der heutigen Bestände von Russland und den USA. „Die Ära der Verringerung der weltweiten Atomwaffenzahl, die seit dem Ende des Kalten Krieges andauerte, geht zu Ende“, stellt Sipri-Experte Hans Kristensen laut dpa fest. „Stattdessen beobachten wir einen klaren Trend hin zu wachsenden Atomwaffenarsenalen, verschärfter nuklearer Rhetorik und der Aufkündigung von Rüstungskontrollabkommen“, warnt er.
Was sind die konkrete Projekte der Atommächte?
- USA: Die Vereinigten Staaten USA ersetzen ihre Interkontinentalrakete Minuteman III durch die neue LGM‑35A „Sentinel“. Ab 2027 soll sie einsatzbereit sein. Parallel baut Washington die Columbia‑Klasse‑U-Boot-Flotte. Bis August 2024 war sie zur Hälfte fertiggestellt. Zudem möchte die US‑Marine erstmals wieder einen neuen Sprengkopftyp namens W93 einführen. Die Serienfertigung startet frühestens 2034.
- Russland: testet die Interkontinentalrakete RS‑28 Sarmat. Zwar gibt es den Prototyp seit 2015, doch 2024 scheiterten vier von fünf Tests. Der nächste soll im Spätsommer 2025 folgen. Das Atom-U-Boot K‑329 Belgorod nimmt an Versuchen mit dem strategischen „Poseidon“-Torpedo teil. Die Waffe gilt als unaufspürbar und soll bis 2027 einsatzbereit sein. Im Juni 2025 soll das Atom-U-Boot „Knyaz Pokharsky“ einsatzbereit sein. Es ist mit seegestützten Interkontinentalraketen ausgerüstet.
- China: hat 2025 etwa 350 neue unterirdische Abschussrampen, sogenannte ICBM-Silos (ICBM: Intercontinental Ballistic Missiles; Interkontinentalraketen), in drei Wüstenfeldern im Norden und in drei Gebirgsregionen im Osten fertiggestellt oder steht kurz davor. Sipri schätzt, dass China bis zum Ende des Jahrzehnts so viele Interkontinentalraketen wie Russland oder die USA besitzen wird, allerdings mit deutlich weniger Sprengköpfen. Hinzu kommen Atom-U-Boote, die insgesamt 72 Raketen lagern können.
- Großbritannien: plant den Bau von vier neuen nuklearen U-Booten (Typ Dreadnought). Die Briten halten an der Modernisierung ihres Arsenals fest, stehen aber vor erheblichen operativen und finanziellen Herausforderungen. Die Dreadnought-Boote sollen die kontinuierliche nukleare Abschreckung auf See sichern. Parallel plant London, die Nuklearsprengköpfe selbst zu modernisieren. Die Ablösung der Mk4A-Sprengköpfe durch die neuen A21/Mk7 sei in den späten 2030er‑Jahren geplant.
- Frankreich: entwickelt eine dritte Generation von Atom-U-Booten und eine neue luftgestützte Marschflugkörper-Variante (ASN4G).
- Indien: stellte August 2024 ein weiteres Atom-U-Boot in Dienst, die INS Arighaat. Zudem setzt Delhi auf „canisterized“ Raketen. Sie könnten mit montierten Sprengköpfen auch in Friedenszeiten transportiert werden, so Sipri.
- Pakistan: intensiviert die Produktion von Uran, sammelt so mehr spaltbares Material. Das Land testet neue Kurz- und Mittelstreckenraketen.
- Nordkorea: Hat laut Sipri durch seine nukleare Aufrüstung mittlerweile 50 Sprengköpfe komplettiert. Es beschleunigt den Bau von Plutoniumreaktoren und plant bis 2025 taktische Kernwaffen. Material für 40 weitere Sprengköpfe soll es laut Sipri geben.
- Israel: Trotz der von Sipri ausgewiesenen 90 atomaren Sprengköpfe bleibt die Lage intransparent. Experten hätten Modernisierungen am Dimona‑Reaktor des Kernforschungszentrums Negev beobachtet. Der Reaktor stammt ursprünglich aus den 1960er-Jahren. Zudem testete das Land 2024 laut Sipri ein Antriebssystem für ballistische Raketen.
Ist nukleare Aufrüstung heute gefährlicher als früher?
Hyperschallflugkörper können die bisherigen Abwehrschilde umgehen. Generell tragen Multiple Independently Targetable Reentry Vehicles (kurz MIRV) mehrere Sprengköpfe, die zudem mehrere Ziele gleichzeitig angreifen können. KI-Systeme werten heutzutage Daten in Echtzeit aus, sie können Einsatzentscheidungen in Sekunden bzw. diese Entscheidungen viel schneller vorbereiten, als dies in Zeiten des Kalten Krieges der Fall gewesen ist.
Hinzu kommen die immer ausgefeilteren Techniken von Cyberangriffen. Diese könnten Frühwarnnetze lahmlegen, so das Sipri. Sipri-Direktor Dan Smith warnte vor einem Rennen, das riskanter sei als das frühere atomare Wettrüsten. Die Kombination aus Atomwaffen, Cyberwar, Raumfahrt und KI schaffe neue Instabilität. Quantentechnologien bieten zwar abhörsichere Kommunikation, können aber auch für eine perfekte Täuschung herhalten. All das verkürze die Entscheidungszyklen, und das sehen die Sipri-Fachleute als das Hauptrisiko der derzeitigen nuklearen Aufrüstung: eine unbeabsichtigte Eskalation. Die Geschichte des nuklearen Aufrüstens in Zeiten des Kalten Krieges zeigt, dass diese Gefahr nicht von der Hand zu weisen ist.
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