Studie zu „gefährlichsten Straßen“ – die gar nicht so gefährlich sind
Viele Schlagzeilen behaupten, NRW und Bayern hätten die gefährlichsten Straßen Deutschlands. Eine Auswertung von Allianz Direct soll dieses Bild stützen, vermischt dabei aber schlicht hohes Verkehrsaufkommen mit tatsächlichem Unfallrisiko und verwandelt normale Häufigkeiten in scheinbar dramatische Gefahrenlagen.
Wo kracht es besonders häufig? Das wollte eine Studie ermitteln - hat aber die Zahlen falsch interpretiert.
Foto: SmarterPix/cla1978
Zahlreiche Redaktionen berichteten im November über eine von Allianz Direct präsentierte Unfallauswertung, die sich auf Daten von BASt, Statistischem Bundesamt und Deutschem Unfallatlas stützt und angeblich zeigt, wo das Unfallrisiko am größten sei. Schon diese vermeintlich präzise Botschaft macht deutlich, dass hier weniger ein statistisches Problem, sondern vielmehr ein logischer Denkfehler vorliegt, der zu Fehlinterpretationen führt – das hat die Unstatistik auf den Plan gerufen.
Logikfehler statt Statistikproblem
Die Unstatistik will zu einem sachlichen und vernünftigen Umgang mit Daten und Fakten beitragen. Und so hat das Unstatistik-Team des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) die Studie der Allianz noch einmal genau unter die Lupe genommen und dabei einige Fehler entdeckt. So erkläre die Allianz Nordrhein-Westfalen und Bayern aufgrund eines „erhöhten Risikos“ zu besonders gefährlichen Regionen. Als Beleg dienen hohe Bevölkerungszahlen, viele Pendlerinnen und Pendler sowie dichter Verkehr. Das wirke laut der Unstatistik ungefähr so überraschend wie die Feststellung, „dass in einem weitläufigen Supermarkt mehr Joghurt über die Kasse geht als in einem kleinen Laden“.
Die „gefährlichsten Straßen“ würden also nicht anhand eines echten Risikos identifiziert, sondern schlicht anhand vieler Unfälle gezählt.
Absolute Unfallzahlen sind kein Risiko
Das als „erhöhtes Risiko“ bezeichnete Phänomen ist laut RWI nichts anderes als eine absolute Unfallzahl. Dort, wo sich mehr Personen im Straßenverkehr bewegen, kommt es zwangsläufig häufiger zu Kollisionen. Das bedeute jedoch nicht automatisch, dass die Straßen selbst gefährlicher wären als anderswo.
Um wirkliche Risiken zu vergleichen, brauche es sinnvolle Bezugsgrößen wie Unfälle pro gefahrenem Kilometer und im Idealfall Anpassungen an Straßentyp, durchschnittliche Geschwindigkeit, Baustellen, Witterung oder Ampelschaltungen.
Die „gefährlichsten Straßen“ unscharf gemessen
Nichts von alledem wird nach Angaben des Unstatistik-Teams in der Studie berücksichtigt. Die vorliegenden Zahlen beschreiben demnach deshalb kein Unfallrisiko im engeren Sinn, sondern eher den Durchsatz des Verkehrs – mit variierender Genauigkeit. Wenn Allianz Direct daraus ableite, welche Straßen besonders stark mit Unfallrisiken behaftet seien, führe das in die Irre: „Ein genauer Blick auf die Straßen mit den meisten Unfällen zeigt, dass einige besonders gefährdet sind“, heißt es in der Studie.
Straßen können aber nicht selbst „gefährdet“ sein. Nicht die „gefährlichsten Straßen“, sondern das Verhalten von Fahrerinnen und Fahrern, Radfahrenden oder zu Fuß Gehenden entscheide über das tatsächliche Risiko.
Mehr Verkehr, mehr Unfälle – aber nicht zwingend „gefährlichste Straße“
Eine vielbefahrene Stadtautobahn wird zwangsläufig deutlich mehr Unfälle aufweisen als eine kaum genutzte Landstraße. Das macht sie jedoch nicht automatisch zu einer Problemstrecke mit außergewöhnlichen Risiken. Vergleichbar wäre es, große Kliniken allein wegen vieler Infektionen als „gefährlich“ zu brandmarken.
Tatsächlich behandeln solche Krankenhäuser häufig einfach sehr viele Patientinnen und Patienten. In beiden Fällen wird ein bloßer Mengeneffekt zur scheinbaren Risikosteigerung umgedeutet, ohne die „gefährlichsten Straßen“ wirklich korrekt zu bestimmen.
Unfallkonstellation ist keine Ursache
Weiter heißt es in der Auswertung der Allianz: „Die häufigste Unfallursache variiert je nach Bundesland, wobei jedoch in den meisten Bundesländern Unfälle zwischen Fahrzeugen auf der Fahrbahn am häufigsten vorkommen.“ Dabei wird laut RWI eine Konstellation im Unfallgeschehen mit einer Ursache verwechselt. Nach derselben Logik ließe sich behaupten: „Die häufigste Krankheitsursache beim Menschen ist: Krankheit.“
Eine Ursache beschreibt, warum etwas geschieht, nicht bloß, wer beteiligt war oder an welchem Ort der Schaden eintritt. Typische Ursachen sind überhöhte Geschwindigkeit, Missachtung der Vorfahrt, Alkohol, Übermüdung, technische Mängel oder Ablenkung.
Begriffe unsauber genutzt
Zwar wertet Allianz Direct nach eigenen Angaben auch Daten zu Unfallursachen aus, doch die Detailbetrachtung nach Bundesländern erfolge nur für bestimmte Konstellationen des Geschehens, heißt es seitens des RWI. Gerade diese Konstellationen würden dann jedoch als Ursachen bezeichnet, was fachlich unpräzise sei und das Bild von „gefährlichsten Straßen“ zusätzlich verzerre.
Damit verschwimmen entscheidende Unterschiede zwischen dem Wieso eines Unfalls und dem Wie oder Wo. Für eine sinnvolle Diskussion über Sicherheit bräuchten Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer klarere Begriffe.
Irreführendes Ranking zu „gefährlichsten Straßen“ der Bundesländer
Besonders problematisch ist laut Unstatistik-Team das Ranking der Bundesländer mit angeblich besonders schweren Verkehrsunfällen. Nordrhein-Westfalen liegt zwar in absoluten Zahlen weit vorn. Betrachte man jedoch den Anteil der Unfälle mit Schwerverletzten oder Toten an allen Unfällen, landet das bevölkerungsreichste Bundesland mit 8,6 Prozent lediglich auf Rang sechs.
Spitzenpositionen nehmen andere Länder ein: Thüringen weist mit 13 Prozent den höchsten Anteil auf, gefolgt von Sachsen mit 10,1 Prozent, Sachsen-Anhalt mit 9,1 Prozent, dem Saarland mit 9,0 Prozent und Hessen, das ebenfalls bei 8,6 Prozent liegt.
Was die Zahlen wirklich aussagen
Unterm Strich zeigt die Statistik demnach vor allem eines: Wo viele Fahrzeuge unterwegs sind, kommt es zu vielen Unfällen. Die präsentierten „Erkenntnisse“ beschreiben damit vor allem das Verkehrsaufkommen und die „gefährlichsten Straßen“ in einem trivialen Sinn.
Für inhaltlich weitergehende Aussagen fehlen die nötigen Informationen völlig. Das RWI kritisiert, dass Medien solche Rankings gern aufgreifen, weil sie Aufmerksamkeit versprechen und sich gut teilen lassen.
Scheinpräzision rund um „gefährlichste Straßen“
So entstehe der Eindruck, einzelne Bundesländer seien besonders von rücksichtslosem Fahrverhalten geprägt oder bestimmte Abschnitte gehörten zu den klar definierbaren „gefährlichsten Straßen“, auf denen ein außergewöhnlich hohes Unfallrisiko lauert. Diese Vorstellung sei mit den verfügbaren Zahlen jedoch nicht belegbar.
Aus simplen Häufigkeiten werden so scheinbar belastbare Risikoeinschätzungen. Genau dieser Mechanismus macht das Beispiel zu einem typischen Fall für die „Unstatistik des Monats“ – und zeigt, wie vorsichtig Medien und Lesende mit Listen der „gefährlichsten Straßen“ umgehen sollten.
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