Russische AN-24 abgestürzt – ein Flugzeug mit Geschichte
Passagiermaschine AN-24 stürzt in Russland ab. Alle Insassen sterben. Was hinter dem Flugzeugtyp steckt und warum er noch immer fliegt.
Eine Antonow An-24 auf einem afghanischen Regionalflughafen: Der robuste Schulterdecker mit Turboprop-Antrieb ist bis heute im Einsatz – trotz seines hohen Alters. Ein Absturz einer AN-24 forderte im Osten Russlands fast 50 Todesopfer.
Foto: picture alliance / dpa | Can Merey
Ein Passagierflugzeug ist im Osten Russlands abgestürzt. An Bord der Antonow An-24 waren 49 Menschen – keiner von ihnen überlebte. Die Maschine verschwand beim Landeanflug auf die Kleinstadt Tynda vom Radar. Augenblicke später entdeckte ein Suchhubschrauber das brennende Wrack in der Taiga. Der Unfall rückt einen Flugzeugtyp in den Fokus, der bereits in den 1960er-Jahren entwickelt wurde – und trotz seines Alters bis heute Passagiere transportiert.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte und Technik der Antonow An-24
Als die Sowjetunion Ende der 1950er-Jahre ein robustes Regionalflugzeug suchte, fiel die Wahl auf ein neues Modell aus dem Konstruktionsbüro Antonow. Es sollte anspruchsvoll sein, aber zugleich auf unbefestigten Pisten starten und landen können – selbst bei schlechtem Wetter und mit begrenzter Infrastruktur. Der Name: Antonow An-24. Die NATO vergab später den Codenamen „Coke“.
Ein Flugzeug für schwierige Bedingungen
Die Anforderungen kamen von der Aeroflot, der staatlichen Fluggesellschaft der Sowjetunion. Sie forderte ein Flugzeug mit rund 30 Sitzplätzen, das ältere Maschinen wie die Li-2 oder Il-14 ersetzen sollte. Die Entwicklung begann 1957. Die Konstrukteure entschieden sich für einen Schulterdecker – das bedeutet, die Tragflächen sitzen oben am Rumpf. Diese Bauweise erhöht die Bodenfreiheit, was das Rollen auf unebenem Terrain erleichtert.
Ursprünglich sollte das Flugzeug von vier Kolbenmotoren angetrieben werden. Doch Antonow setzte schließlich auf zwei Turboprops des Typs Iwtschenko AI-24 mit jeweils über 2.500 PS. Diese Triebwerke erlaubten eine Reisegeschwindigkeit von etwa 450 km/h und eine maximale Flughöhe von rund 8.400 Metern.
Am 20. Oktober 1959 hob der erste Prototyp in Kiew ab. Bereits wenige Jahre später begann die Serienproduktion in mehreren sowjetischen Werken, unter anderem in Irkutsk und Kiew. Die An-24 ging 1962 als Frachtversion in den Betrieb, ein Jahr später folgte die Passagierausführung mit 44 Sitzen.
Mehr als 1300 Exemplare gebaut
Insgesamt wurden über 1300 Flugzeuge dieses Typs hergestellt. Die An-24 erwies sich als vielseitig und langlebig. In Spitzenzeiten wickelte sie ein Drittel aller Inlandsflüge der Sowjetunion ab. Neben der Standardversion entstanden zahlreiche Abwandlungen:
- An-24RW mit zusätzlichem Strahltriebwerk
- An-24T als Frachtversion
- An-24P für den Feuerwehreinsatz
- An-24RT mit modifizierter Elektronik
Auf Basis der An-24 entwickelten Ingenieur*innen auch militärische Varianten wie die An-26 und die An-32. In der Volksrepublik China wurde eine modifizierte Version unter dem Namen Xian Y-7 in Lizenz weitergebaut.
Technische Eckdaten der An-24W (Auswahl)
- Länge: 23,5 m
- Spannweite: 29,2 m
- Höchstgeschwindigkeit: 680 km/h
- Reichweite: 550 bis 2.440 km
- Triebwerke: 2× Turboprop AI-24A
- Besatzung: 3 bis 5 Personen
- Passagiere: bis zu 50
Die Konstruktion war auf maximale Einfachheit und Wartungsfreundlichkeit ausgelegt. Das Flugzeug konnte auch auf improvisierten Landepisten eingesetzt werden – ein Vorteil im riesigen, oft schwer zugänglichen sowjetischen Luftraum.
Rückblick auf bekannte Zwischenfälle
Seit ihrer Indienststellung kam es weltweit zu zahlreichen Unfällen mit der An-24. Laut öffentlich zugänglicher Daten verlor dieser Flugzeugtyp bis Juli 2025 insgesamt 172 Maschinen durch Unfälle. Dabei starben über 2.200 Menschen. Besonders in den 1960er- und 1970er-Jahren häuften sich die Katastrophen, darunter auch Abstürze durch Triebwerksausfälle, Navigationsfehler oder Kollisionen mit Hindernissen.
Einige Beispiele:
- 1969, Polen: Eine An-24 verfehlte den Flughafen Krakau um 50 Kilometer und prallte gegen einen Berghang – 53 Tote.
- 1972, Swetlogorsk (UdSSR): Die Maschine stürzte bei Nebel auf einen Kindergarten – 33 Todesopfer, davon 25 am Boden.
- 1995, Verona (Italien): Eine überladene und nicht enteiste An-24 stürzte kurz nach dem Start ab – 49 Tote.
- 2000, Luanda (Angola): Kurz nach dem Start kam es zu einem Triebwerksausfall – alle 57 Menschen an Bord starben.
- 2025, Russland: Die jüngste Katastrophe forderte 49 Menschenleben.
Diese Liste ist nicht abschließend. Sie zeigt jedoch, dass die An-24 zwar für Robustheit steht, aber auch mit einem langen Schatten behaftet ist. Kommen wir damit zum aktuellen Absturz einer AN-24 in Russland.
Der Absturz bei Tynda – Rekonstruktion eines Unglücks
Am 24. Juli 2025 verliert der Tower des Flughafens Tynda den Kontakt zu einer An-24 der russischen Fluggesellschaft Angara. Die Maschine war zuvor in Chabarowsk gestartet, legte einen Zwischenstopp in Blagoweschtschensk ein und befand sich auf dem letzten Abschnitt ihrer Reise – einem kurzen Inlandsflug über die Weiten Ostsibiriens.
An Bord: 43 Passagiere, darunter fünf Kinder, sowie sechs Crewmitglieder. Insgesamt 49 Menschen. Niemand überlebt den Absturz.
Verschwunden beim zweiten Landeversuch
Laut russischen Behörden verschwand das Flugzeug beim zweiten Anflugversuch vom Radar. Die Besatzung hatte offenbar keine technischen Probleme gemeldet. Der Kontakt riss abrupt ab. Später entdeckte ein Mi-8-Hubschrauber das brennende Wrack rund 15 Kilometer vom Flughafen entfernt – tief in der Taiga. Die Trümmer waren über ein weites Gebiet verstreut. Der Hubschrauber konnte wegen der unzugänglichen Lage nicht landen. Bergungsteams mussten sich zu Fuß durch sumpfiges Gelände und dichte Wälder vorkämpfen.
Die Absturzursache war zunächst unklar. Das russische Katastrophenschutzministerium bestätigte jedoch schnell: „Es gibt keine Überlebenden.“
Menschliches Versagen oder Technikversagen?
Die Ermittlungen konzentrieren sich auf zwei mögliche Szenarien:
- Fehleinschätzung der Flughöhe bei schlechter Sicht:
Medien berichten, dass die Crew bei widrigen Wetterbedingungen die Flughöhe falsch eingeschätzt haben könnte. Möglicherweise streifte die Maschine eine Baumkrone, bevor sie abstürzte. Ein klassisches Szenario für sogenannte CFIT-Unfälle – also Controlled Flight Into Terrain. Dabei fliegen Flugzeuge in intaktem Zustand in den Boden, weil die Besatzung Orientierung oder Höhe falsch einschätzt. - Technische Probleme:
Laut offizieller Darstellung war das Flugzeug kurz vor dem Start technisch überprüft worden. Beanstandungen habe es keine gegeben. Die Crew meldete auch während des Flugs keine Auffälligkeiten. Dennoch bringt die Boulevardzeitung „Komsomolskaja Prawda“ einen anderen Ton in die Debatte: Ein Angehöriger eines Bordmechanikers sagte dort, es habe zu Beginn des Tages Probleme gegeben – „aber die haben sie irgendwie gelöst“.
Die Freundin desselben Mechanikers widerspricht: „Er hat geschrieben, dass ein anderes Flugzeug Defekte hatte, nicht seins. Über seins hat er nichts geschrieben, alles wie normal.“
Fluggesellschaft Angara im Fokus
Die Angara Airlines ist eine Regionalfluggesellschaft mit Sitz in Irkutsk. Sie betreibt vor allem ältere Maschinen sowjetischer Bauart – darunter mehrere Antonow An-24. Nach dem Absturz leiteten die Behörden ein Strafverfahren wegen Verstoßes gegen Sicherheitsvorschriften ein. Im Raum stehen mögliche Versäumnisse bei Wartung, Betrieb und Ausbildung des Personals.
Zwar wurde die Unglücksmaschine als flugtauglich eingestuft – ihre Betriebslizenz war bis 2036 gültig. Doch laut der russischen Flugaufsicht Rosawiazija kam es in den letzten Jahren zu mehreren sicherheitsrelevanten Zwischenfällen mit eben dieser Maschine:
- 2018: An-24 rutscht in Irkutsk über die Landebahn hinaus, beschädigt Tragfläche
- 2022: Fastkollision mit anderem Flugzeug im Luftraum
- 2022: Generator fällt nach dem Start aus – Rückkehr
- 2025 (März): Funkprobleme nach dem Start – erneute Rückkehr
Diese Vorfälle werfen die Frage auf, ob die Maschine zum Zeitpunkt des Absturzes tatsächlich in einem einwandfreien Zustand war – oder ob wirtschaftlicher Druck bei der Airline zu riskanten Entscheidungen geführt hat.
Alte Flotten, neue Risiken – Russlands Luftfahrt unter Druck
Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Jahr 2022 hat sich die Lage in der russischen Luftfahrt deutlich verschärft. Westliche Staaten haben weitreichende Sanktionen gegen den russischen Luftverkehrssektor verhängt. Sie verbieten unter anderem:
- den Export von neuen Flugzeugen
- die Lieferung von Ersatzteilen
- technische Wartung durch westliche Firmen
Für viele russische Airlines bedeutet das: Sie müssen mit dem arbeiten, was sie haben. Und das ist oft alt.
Der „Kannibalismus“-Effekt
Im Fachjargon ist mittlerweile vom „Kannibalismus“ die Rede – ältere Maschinen werden ausgeschlachtet, um Ersatzteile für andere Flugzeuge zu gewinnen. Die Folge: Instandhaltung wird zum Improvisationsakt. Neue Bauteile sind kaum zu beschaffen. Sicherheitsstandards können oft nur noch auf dem Papier erfüllt werden.
Die An-24 ist davon besonders betroffen. Rund 60 dieser Maschinen sollen weltweit noch im Betrieb sein – die meisten in Russland, Kasachstan und Nordkorea. Viele davon sind zwischen 40 und 50 Jahre alt.
Warum die AN-24 trotzdem weiterfliegt
Trotz ihres Alters ist die An-24 aus vielen Regionen nicht wegzudenken. Gerade in abgelegenen Gebieten wie Sibirien oder dem Fernen Osten Russlands ist sie ein Arbeitstier – robust, leicht zu warten, anpassungsfähig. Die Maschine kommt mit kurzen Pisten klar, benötigt keine ausgebaute Infrastruktur, übersteht tiefe Temperaturen und schlechte Sicht.
Solche Bedingungen machen es schwer, moderne Jets einzusetzen. Zudem fehlt es vielen Regionalfluggesellschaften am Geld für Neubeschaffungen. Ersatzteile für westliche Maschinen sind durch die Sanktionen kaum zu bekommen – die An-24 bleibt deshalb im Dienst, obwohl sie längst ausgemustert sein sollte. (mit dpa)
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