Reitwagen 1885: Als Gottlieb Daimler das Motorrad erfand
Der Daimler Reitwagen von 1885 war das erste Motorrad der Welt – ein hölzernes Zweirad mit Benzinmotor, das die Mobilität für immer veränderte.
Authentischer Nachbau des Daimler Reitwagens von 1885. Gesamtansicht von rechts.
Foto: Thomas Niedermüller. (Fotosignatur der Mercedes-Benz Classic Archive: D845992)
Cannstatt, Herbst 1885. Ein junger Mann sitzt auf einem hölzernen Zweirad, das in der Abendluft leise knattert. Der Geruch von verbranntem Petroleum liegt in der Luft. Paul Daimler, gerade einmal 17 Jahre alt, legt an diesem Tag die drei Kilometer von Cannstatt nach Untertürkheim und wieder zurück zurück. Niemand ahnt, dass diese kurze Fahrt in die Geschichte eingehen wird – als die erste Motorradfahrt der Welt.
Das Gefährt, auf dem er sitzt, stammt aus der Werkstatt seines Vaters Gottlieb Daimler. Gemeinsam mit Wilhelm Maybach hat er etwas geschaffen, das es so noch nie gegeben hat: ein motorisiertes Zweirad mit Benzinantrieb – den Daimler Reitwagen.
Inhaltsverzeichnis
Ein Gartenhaus als Geburtsstätte der Mobilität
Daimler hatte 1882 im Garten seines Hauses in der Cannstatter Taubenheimstraße eine kleine Versuchswerkstatt eingerichtet – ein unscheinbares Holzgebäude mit großem Gewächshausfenster. Hier tüftelte er mit Maybach an einer Idee, die so simpel wie visionär war: Ein kleiner, schneller Verbrennungsmotor, leicht genug, um ein Fahrzeug anzutreiben.
Zuvor hatte Daimler bei der Gasmotorenfabrik Deutz als technischer Direktor gearbeitet, gemeinsam mit Nikolaus Otto, dem Erfinder des Viertaktprinzips. Doch während Otto auf stationäre Motoren setzte, träumte Daimler von Mobilität – zu Lande, zu Wasser und in der Luft. 1882 kam es zum Bruch. Daimler verließ Deutz, nahm Maybach mit und begann, auf eigene Faust zu forschen.
Schon 1883 meldeten die beiden ihre ersten Patente an: gesteuerte Gasmotoren mit Glührohrzündung, die deutlich schneller liefen als alles, was bisher bekannt war. Der Spitzname für das neue Aggregat war bald gefunden: „Standuhr“ – wegen seiner aufrecht stehenden Form und der präzisen Mechanik.

Detailaufnahme des Stützrads rechts.
Foto: Thomas Niedermüller. (Fotosignatur der Mercedes-Benz Classic Archive: D846010)
Der Motor, der das Pferd ersetzte
Der „Standuhr“-Motor war das Herzstück der Revolution. Anfangs leistete er etwa eine Pferdestärke bei 600 Umdrehungen pro Minute. Doch Daimler wollte mehr. Er reduzierte Gewicht und Hubraum, bis der Motor nur noch rund 60 Kilogramm wog und etwa eine halbe Pferdestärke erzeugte – genug, um ein leichtes Fahrzeug anzutreiben.
Der kleine Einzylinder-Viertaktmotor hatte 264 Kubikzentimeter und lief mit Benzin, das über eine Glührohrzündung entflammt wurde. Das war riskant, denn eine offene Flamme direkt am Kraftstofftank erfordert Mut. Aber genau diesen Mut besaß Daimler. Er sah in dem Motor kein Laborobjekt, sondern den Beginn einer neuen Ära.
Das erste Motorrad der Welt entsteht
Im Sommer 1885 baute Daimler den Motor in ein eigens konstruiertes Gestell – ein hölzernes Zweirad mit eisernen Reifen und Stützrädern. Das Material stammte aus der Wagnerei, nicht aus dem Maschinenbau. Der Rahmen bestand aus Hickory-Holz, verstärkt durch Eisenplatten. Die Räder ähnelten noch denen einer Kutsche.
Die Bedienung war alles andere als komfortabel. Zwei einfache Hebel reichten: Der linke Metallgriff steuerte das Gemisch, ein hölzerner Knauf aktivierte die Kupplung oder bremste das Hinterrad über eine Klotzbremse. Eine Gangschaltung gab es nicht, doch zwei unterschiedlich große Riemenscheiben ermöglichten zumindest eine Wahl zwischen zwei Übersetzungen – 6 km/h oder 12 km/h.
Die Zündung funktionierte über ein glühendes Rohr aus Platin, das durch eine kleine Flamme erhitzt wurde. Über einen Messingtank mit Trichter wurde der Brennstoff zugeführt. Dass dieses System nicht ganz ungefährlich war, zeigte sich bei der ersten längeren Fahrt: Der Sattel geriet in Brand, weil die heiße Zündung direkt darunter lag.

Detailaufnahme des Vorgeleges mit Ritzel und dem am Hinterrad befestigten Zahnkranz.
Foto: Thomas Niedermüller. (Fotosignatur der Mercedes-Benz Classic Archive: D846014)
Carl Benz und der Wettlauf der Ideen
Zur gleichen Zeit, 120 Kilometer weiter westlich, arbeitete ein anderer Tüftler an einer ähnlichen Vision: Carl Benz in Mannheim. Auch er entwickelte einen kompakten Viertaktmotor und suchte nach einer Möglichkeit, ihn in Bewegung zu bringen.
Daimler und Benz kannten sich vermutlich nicht persönlich, aber ihre Wege verliefen parallel. Während Benz 1886 den dreirädrigen Patent-Motorwagen baute, hatte Daimler mit seinem Reitwagen bereits gezeigt, dass der Verbrennungsmotor fahrfähig war. Zwei Männer, zwei Werkstätten, ein Ziel: Mobilität ohne Pferd.
In gewisser Weise war der Reitwagen also kein Motorrad im heutigen Sinn, sondern ein Versuchsfahrzeug – ein rollendes Labor. Doch er erfüllte seine Aufgabe: Er bewies, dass der Benzinmotor auf der Straße funktionieren konnte.
Die erste Fahrt: Paul Daimler macht Geschichte
Am 10. November 1885 war es so weit. Gottlieb Daimler ließ seinen Sohn Paul aufsteigen – die Zündung flackerte, der Motor brummte, das Holzgestell zitterte. Paul Daimler fuhr von Cannstatt nach Untertürkheim und zurück. Drei Kilometer auf unbefestigter Straße, mit 12 km/h Höchstgeschwindigkeit, ohne Federung und mit eiserner Bereifung.
Diese Fahrt markierte den Beginn des motorisierten Zeitalters. Der Reitwagen war kein bequemes Gefährt. Die Stützräder machten das Lenken schwer, und die Eisenreifen übertrugen jede Unebenheit direkt an den Körper. Aber das war nebensächlich. Entscheidend war, dass das Prinzip funktionierte: Ein Fahrzeug bewegte sich allein durch die Kraft eines Verbrennungsmotors.
Ein Jahr später nutzte Daimler denselben Motor für seine Motorkutsche – das erste vierrädrige Auto der Welt. Damit war der Schritt vom Motorrad zum Automobil vollzogen.

Detailaufnahme der Kraftübertragung von der Kurbelwelle zur Hinterachse über einen ledernen Transmissionsriemen. In der Mitte die Walze, mit der die Spannung des Riemens und so der Kraftschluss reguliert werden.
Foto: Thomas Niedermüller. (Fotosignatur der Mercedes-Benz Classic Archive: D846007)
Ein Experiment, das die Welt veränderte
Der Reitwagen war handwerklich und technisch ein Kind seiner Zeit. Die Kombination aus Holzrahmen, Eisenteilen und Lederriemen war typisch für die Werkstätten des 19. Jahrhunderts. Moderne Ingenieurinnen und Ingenieure würden den Aufbau wohl als provisorisch bezeichnen – doch gerade dieser einfache Ansatz machte den Versuch möglich.
Daimler und Maybach bauten kein Produkt, sie schufen ein Konzept. Der Reitwagen war ein „Technologieträger“, wie man heute sagen würde: ein Versuchsträger, der zeigen sollte, dass der schnelllaufende Motor mehr konnte als Maschinen antreiben.
Maybach verbesserte den Prototyp später noch. Er konstruierte eine direktere Lenkung und ergänzte den zweistufigen Riemenantrieb mit einem Zahnkranz am Hinterrad. Damit wurde das Fahrzeug stabiler und zuverlässiger – zumindest für die kurzen Testfahrten rund um Cannstatt.
Vom Gartenhaus ins Museum
Das Original des Reitwagens existiert nicht mehr. Es wurde 1903 bei einem Brand in Cannstatt zerstört. Doch Daimlers Erbe lebt weiter: Mercedes-Benz ließ mehrere Repliken anfertigen, neun davon als Ausstellungsstücke, eine als fahrfähiges Modell.
Wer den Reitwagen heute sehen will, findet ihn im Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart oder im Deutschen Museum in München. Auch in Kanada, Japan und Australien stehen Nachbauten dieses eigenwilligen Zweirads. Selbst KTM in Österreich zeigt eine Replik in seiner „Lebendigen Werkstatt“.
Viele Besucher*innen sind überrascht, wie klein das Fahrzeug ist – und wie roh es wirkt. Kein Lack, kein Komfort, kein Tacho. Nur Holz, Metall und der Geruch von Öl. Aber genau das macht seinen Reiz aus.
Was vom Reitwagen blieb
Ob der Daimler Reitwagen tatsächlich das erste Motorrad der Welt war, hängt von der Definition ab. Schon vor ihm gab es dampfbetriebene Zweiräder wie das Michaux-Perreaux-Velociped oder Ropers Dampfvelo. Doch sie nutzten keinen Benzinmotor – und genau darin liegt der Unterschied.
Daimlers Erfindung setzte auf eine Technik, die sich durchsetzte: den schnelllaufenden Verbrennungsmotor. Dampf war ein Irrweg, Benzin wurde zur Grundlage einer ganzen Industrie. „Die Geschichte folgt den Dingen, die Erfolg haben, nicht den Dingen, die scheitern“, schrieb der Technikjournalist Kevin Cameron einmal.
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