Autonomes Fahren: Wie Deutschland das Rennen verliert
Deutsche Autobauer haben beim hoch automatisierten Fahren noch die Nase vorn. Doch bei Level-3- und Level-4-Systemen dürfte China sie bald überholen. Was Mercedes & Co. jetzt noch retten könnte.
Autobahn A96 bei München: Die BMW-Testfahrzeuge sind u. a. mit Radar-, Ultraschall- und GPS-/Ortungssensoren sowie Innenraum-Mikrofonen und Videokameras ausgerüstet. Die Umgebung des Testfahrzeugs kann auf Video aufgezeichnet werden.
Foto: picture alliance / M.i.S./Bernd Feil
Auf dem Highway ist an diesem Nachmittag im Spätherbst die Hölle los: kilometerweise Stop and Go auf sechs Spuren. Mal Tempo null, mal 90 km/h – und der Reporter fühlt sich dennoch wie im Himmel. Denn in seinem Mercedes EQS lehnt er sich gemütlich hinter dem Steuer zurück, die Hände im Schoß, den Blick in die Wolken gerichtet. Level 3 – nur der Benz darf nach den hierzulande geltenden Regeln derart autonom fahren. Ein technologischer Vorsprung deutscher Ingenieurkunst.
Szenenwechsel: Im Verkehrsgewühl von Shanghai sitzt der gleiche Reporter im Fond des Baidu Apollo Go und döst vor sich hin. Am Steuer: niemand. Die Limousine fährt die komplette, rund 50 km lange Strecke vom Flughafen zum Hotel in der Megacity autonom. Ein technologischer Erfolg chinesischer Ingenieurkunst, der in Europa so nicht erlaubt wäre.
Inhaltsverzeichnis
Chinas Level-4-Offensive
Die beiden Schlaglichter belegen zwei ganz unterschiedliche Strategien und die dazugehörigen technologischen Taktiken: Während sich deutsche Autobauer auf regulatorische Siege und evolutionäre Fortschritte beim Automatisierungsgrad in Richtung Level 3 konzentrieren, hat die Konkurrenz in China längst den Massenmarkt der autonomen Taxis auf Level 4 erobert und sammelt massiv und vernetzt Erfahrungen im Praxiseinsatz.
Eine neue Studie des Center of Automotive Management zeigt das ganze Ausmaß der Bedrohung: Die Forscher haben die Innovations- und Marktstärke von 30 globalen Automobilkonzernen verglichen. Für den Zeitraum 2020 bis 2024 wurden dazu über 2300 relevante Innovationen in den Bereichen Fahrzeugsicherheit und ADAS, Informations- und Kommunikationssysteme sowie Bedien- und Anzeigekonzepte analysiert. Chinesische Hersteller vereinen demnach 70 % der weltweiten Innovationskraft bei Fahrassistenzsystemen auf sich. Deutsche Konzerne kommen auf 14 %, amerikanische auf 12 %.
Stefan Bratzel, Leiter des Center of Automotive Management und Autor der Studie, formuliert die Lage nüchtern: „Die deutsche Automobilindustrie hat bei Level-3-Systemen für autonomes Fahren aktuell eine Vorreiterrolle inne. Doch dieser Vorsprung ist fragil, insbesondere Hersteller aus China werden die deutsche Innovationsleistung bald überflügeln.“ 2028 könnte es so weit sein.

Auch erste Audi-Modelle nutzen Lidar-Sensoren. Audi kooperiert mit Hersteller Innoviz bei der Entwicklung von ADAS und autonomen Funktionen.
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Wie Haftung zur Innovationsbremse wird
Der drohende Rückstand liegt aber nicht daran, dass die Ingenieure „made in Germany“ weniger innovativ wären. Der deutsche Ansatz hat vielmehr einen entscheidenden Unterschied zur Konkurrenz: die Haftung. Bei aktiviertem Drive Pilot übernimmt Mercedes die volle Verantwortung für Unfälle. Diese juristische Vollkaskoversicherung ist einzigartig – und teuer. Der Mercedes EQS nutzt Lidar-Sensoren, Ultraschall, Mikrofone zur Sirenenerkennung und sogar Feuchtigkeitssensoren. Alles redundant ausgelegt, für den Fall, dass ein System ausfällt.
Diese Hardware-Redundanz kostet Geld und Zeit. Sie ist aber notwendig, weil hiesige Regulierung und Haftungsrecht es verlangen. Dazu kommt, dass in Europa jeder Hersteller für autonomen Fahrbetrieb bisher nur wenige Hundert Fahrzeuge im Testbetrieb einsetzen darf. Erst im übernächsten Jahr sollen autonome Fahrangebote weitgehend liberalisiert werden, so Maria Cristina Galassi, Team Leader für automatisiertes und vernetztes Fahren sowie Fahrzeugsicherheit bei der Europäischen Kommission. Und bei Haftung und Datenschutz sind auch noch lange nicht alle Fragen der europäischen Regulatoren geklärt. Eine hohe Hürde für die Entwicklung von Fahrzeugen mit autonomen Funktionen jenseits von Level 2+. Safety first.
Mit künstlicher Intelligenz auf der Straße
Chinesische Hersteller können auf dem Heimatmarkt einen anderen Weg gehen. Sie kompensieren fehlende oder unsichere Hardwaredaten durch leistungsstarke künstliche Intelligenz. Statt zehn verschiedene Sensoren einzubauen, trainieren sie neuronale Netze mit Millionen Kilometern Fahrdaten. Das System lernt, Lücken zu interpolieren und unsichere Situationen durch Software zu bewältigen. Huaweis ADS 3.0 etwa nutzt zwar einen hochauflösenden 192-Linien-Lidar und ein Dutzend Kameras, konzentriert sich aber sonst auf KI-Prognosen statt physische Sensoren. Was die Hardware nicht sieht, errechnet eben die Software.
Und der koordinierende Staat nickt diesen Ansatz ab. Das Ministerium für Industrie und Informationstechnologie hat zwar jüngst strengere Regeln angekündigt. Beta-Tests mit Pioniernutzern werden verboten, Over-the-Air-Updates müssen validiert werden. Aber die Grundphilosophie bleibt: schnelle Markteinführung, Lernen im echten Betrieb, iterative Verbesserung. Paradiesische Bedingungen für ADAS-Entwickler. Hersteller wie XPeng, Li Auto und Huawei haben auf dieser Basis aggressive Ausbaupläne verkündet und ihre „City NOA“-Systeme – Navigation on Autopilot – in Hunderten chinesischer Städte eingeführt.

BMW-Testfahrzeug von Mobileye mit umfangreicher Sensorik und Dachkameras.
Foto: picture alliance / CHROMORANGE/Michael Bihlmayer
USA und China dominieren Markt für Robotaxis
Bei kommerziellen Robotaxis haben deutsche Hersteller den Anschluss komplett verloren. Baidus Apollo Go meldete Ende Oktober 250.000 wöchentliche fahrerlose Fahrten – genauso viele wie Alphabets Waymo in den USA. Beide Unternehmen betreiben jeweils rund 1000 fahrerlose Taxis. Baidus sechste Fahrzeuggeneration kostet zudem weniger als 30.000 $ – auch, weil teure Hardware wie Lidar in China schon Massenware ist und die Software sowie eigene Betriebssysteme hausgemacht sind. Die Robotaxis der Alphabet-Tochter Waymo kosten dagegen noch rund 175.000 $. Und deutsche Hersteller haben in diesem Segment gerade einmal Prototypen. VW will zum Beispiel erst 2027 mit der Tochter Moia auf ID.Buzz-Basis starten.
Deutsche Autobauer haben auch wegen ihrer Rückstände bei Regulatorik, Datenzugang, Software und Cloud-Computing inzwischen erkannt, dass sie die Schlacht nicht alleine gewinnen können. Die Strategie hat sich radikal geändert: von Eigenentwicklung zu strategischen Allianzen.

Spätestens 2030 soll China das Rennen laut der CAM-Studie für sich entschieden haben.
Foto: CAM
Neue Allianzen als Ausweg
Mercedes setzt auf Nvidia. Die Nvidia-Orin- und -Thor-Chips bilden das Herz der kommenden MB.OS-Softwarearchitektur. BMW wechselte von Mobileye zu Qualcomm und dessen Snapdragon-Ride-Plattform für die „Neue Klasse“. Volkswagen kooperiert mit Mobileye für Level-3- und Level-4-Stacks, hat sich zudem bei Rivian eingekauft und arbeitet mit XPeng zusammen.
Mit den neuen Allianzen können die deutschen Entwickler auf Datensätze „made in China“ und Superrechner „made in USA“ zurückgreifen – und Millionen autonomer Fahrkilometer auf diesen Kontinenten in die eigenen Produktentwicklungen integrieren. „IT-Infrastrukturen und KI-unterstützte digitale Netzwerke sind der Schlüssel, damit deutsche Hersteller ihre Innovationsstärke halten können“, so Levar Ussery, Automobilexperte bei Cisco in Deutschland.
Schaffen die hiesigen Hersteller mit diesem Mix nicht bald den Zugang zum Massenmarkt für Level-3- und -4-Angebote, dann drohen Europa und Deutschland laut CAM-Forscher Bratzel bei den zentralen Wertschöpfungsfeldern des autonomen Fahrens den Anschluss zu verlieren: „Es besteht die reale Gefahr, dass autonome Taxis von ausländischen Herstellern mit Software aus den USA oder China über ausländische Mobilitätsplattformen vermittelt werden und dann auf deutschen Straßen unterwegs sind.“
Masse und Klasse – das sind eben oft zwei Bedingungen, die sich gegenseitig befruchten. Oder auch nicht.
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