Warum Erdbebenwellen in 2700 km Tiefe plötzlich rasen
Forschende klären seismisches Rätsel: So beeinflusst die Kristallausrichtung die Geschwindigkeit von Erdbebenwellen.

Schnittbild der Erde: Zwischen dem äußeren Erdkern (dunkleres Gelb) und dem unteren Mantel (Rot) liegt eine rätselhafte Zone, wo sich die Geschwindigkeit seismischer Wellen sprunghaft ändert.
Foto: PantherMedia / destinacigdem
Erdbeben, Vulkanausbrüche und die Bewegung der Erdplatten zeigen: Die Erde ist ein dynamischer Planet. Doch auch in fast 3000 Kilometern Tiefe passiert weit mehr, als lange angenommen wurde. In der sogenannten D“-Schicht – einem Bereich nahe der Grenze zwischen Erdmantel und äußerem Erdkern – beschleunigen sich Erdbebenwellen plötzlich. Seit Jahrzehnten rätseln Forschende, warum.
Nun bringt ein internationales Team um Motohiko Murakami, Professor für Experimentelle Mineralphysik an der ETH Zürich, Licht ins Dunkel. Ihre Untersuchungen zeigen, dass nicht nur die chemische Zusammensetzung, sondern vor allem die Textur des Gesteins für diesen Effekt verantwortlich ist – also die Ausrichtung der Kristalle im Gestein.
Inhaltsverzeichnis
Der geheimnisvolle Bereich bei 2700 Kilometern Tiefe
Die D“-Diskontinuität liegt etwa 200 bis 300 Kilometer oberhalb des Erdkerns. Sie markiert eine Zone, in der die Geschwindigkeit seismischer Scherwellen sprunghaft ansteigt. Dieser Effekt lässt sich weltweit beobachten, allerdings nicht überall gleich stark.
Schon 2004 entdeckte Murakami, dass das Hauptmineral des unteren Erdmantels, Perowskit, unter extremem Druck und großer Hitze seine Struktur verändert. Es bildet dann eine sogenannte Post-Perowskit-Phase. Lange galt dieser Phasenwechsel als Erklärung für die plötzliche Wellenbeschleunigung. Doch weitere Forschung zeigte: Der Übergang allein reicht nicht aus.
D“-Schicht (D double prime):
Die D“-Schicht befindet sich etwa 2700 km unter der Erdoberfläche, direkt über dem äußeren Erdkern. Sie ist eine seismisch auffällige Zone, in der Erdbebenwellen plötzlich schneller werden. Diese Diskontinuität entsteht durch strukturierte Kristalle im Gestein – nicht durch eine neue Materialgrenze. Besonders ausgeprägt ist die D“-Zone unter Subduktionszonen wie dem Pazifik.
Was wirklich zählt: Die innere Ordnung der Kristalle
Entscheidend ist die Ausrichtung der Kristalle – ihre Textur. Im Labor erzeugten die Wissenschaftler:innen Proben mit gezielter Kristallorientierung und verglichen sie mit zufällig ausgerichteten Strukturen. Nur die geordneten Proben zeigten den erwarteten Geschwindigkeitssprung.
„Unsere Entdeckung zeigt, dass die Erde nicht nur an der Oberfläche aktiv ist, sondern auch tief im Inneren in Bewegung ist“, erklärt Murakami.
Um diese Strukturveränderung zu messen, nutzte das Team Brillouin-Streuung und Synchrotron-Röntgenbeugung. Damit konnten sie zeigen: Nur wenn sich Post-Perowskit-Kristalle entlang einer bestimmten Ebene ausrichten – der sogenannten (001)-Ebene – steigt die Geschwindigkeit der Erdbebenwellen deutlich, um bis zu 7 %.
Post-Perowskit:
Post-Perowskit ist eine Hochdruckform des Minerals Perowskit (MgSiO₃), das im unteren Erdmantel häufig vorkommt. Unter extremen Temperaturen und Drücken wandelt sich Perowskit in diese stabilere Kristallstruktur um. Entscheidend ist die Ausrichtung der Kristalle: Nur wenn sie entlang einer bestimmten Ebene geordnet sind, beschleunigen sie seismische Wellen – wie in der D“-Schicht beobachtet.
Ein Gesteinsförderband im Erdinnern
Doch was bringt die Kristalle dazu, sich so exakt zu ordnen? Die Antwort liefert ein weiterer Befund des Teams: Strömungen aus festem Gestein.
Tatsächlich fließt das Material im unteren Erdmantel. Nicht wie Lava – also flüssig –, sondern als extrem zähes, aber dennoch bewegliches Festmaterial. Vergleichbar mit Wasser in einem Topf, das beim Erhitzen in kreisförmiger Bewegung gerät, bewegt sich auch der Mantelstoff in Strömungen – sogenannte Mantelkonvektion.
Diese Strömungen erzeugen Scherkräfte, die die Kristalle ausrichten. Dabei gibt es Unterschiede:
- Horizontale Strömungen erzeugen starke Texturen und führen zu deutlichen Diskontinuitäten.
- Vertikale Strömungen, etwa durch absinkende Platten (Subduktion), erzeugen Transformationstexturen mit ähnlichem Effekt.
- Aufsteigende Strömungen hingegen erzeugen weniger ausgeprägte Orientierungen – und damit auch weniger starke seismische Veränderungen.
Warum sich das Wissen um die D“-Schicht verändert
Die Forschung zeigt: Die D“-Diskontinuität ist keine einfache Materialgrenze, sondern das Produkt eines komplexen Zusammenspiels aus Mineralphysik und Geodynamik.
Besonders auffällig ist die Zone unterhalb des Pazifiks – einer Region mit vielen Subduktionszonen. Hier sinken alte ozeanische Platten in den Erdmantel. Die dort entstandenen Texturen zeigen eine starke seismische Diskontinuität. Im Gegensatz dazu ist die D“-Zone unter dem Zentralpazifik – einer Region mit aufsteigendem Mantelmaterial – deutlich schwächer ausgeprägt.
Ein Fenster in die Dynamik des Planeten
Die Studienergebnisse verbinden erstmals experimentelle Mineralphysik mit seismologischen Beobachtungen und geodynamischen Modellen. Damit schließen sie eine Lücke im Verständnis des tiefen Erdinneren.
Künftig könnten solche Erkenntnisse helfen, die inneren Strömungen der Erde zu kartieren. Das ist nicht nur für die Erdbebenforschung von Interesse, sondern auch für das Verständnis des globalen Wärmehaushalts und des Erdmagnetfelds. Denn die Dynamik im tiefen Mantel beeinflusst letztlich auch das, was an der Erdoberfläche geschieht.
Oder wie Murakami es formuliert: „Diese Entdeckung öffnet uns ein Fenster in die Dynamik in den Tiefen der Erde.“
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