Öko-Dilemma Kunstrasen: Geht es auch ohne Wasser?
Hockeyfelder müssen mit bis zu 8 l/m² im Spielbetrieb bewässert werden. Neuer Kunstrasen soll die Bewässerung überflüssig machen.
Bis zu 8 l/m² Wasser werden aktuell pro Spiel benötigt, um einen Hockeyplatz zu bewässern. Seit den Olympischen Spielen in London im Jahr 2012 ist die Menge bei olympischen Turnieren um 63 % gesenkt worden.
Foto: Revierfoto
Aller Fußball- und Tenniseuphorie zum Trotz: Eine Randsportart ist Feldhockey hierzulande sicher nicht. Das ist nicht erst seit den 1970er-Jahren so, obwohl der Mannschaftssport mit Schläger und Ball damals eine immense Wendung nahm. Fachleute sprachen gar von einer „Revolution“, als Kunstrasen den Naturrasen ersetzte.
Das Spiel mit dem kleinen Ball war fortan weit weniger dem Zufall, dem Wetter und dem oft üblen Zustand des Naturrasens überlassen, das Geschehen gewann an Dynamik und taktischen Varianten. Um den Ball herum bildet sich dank der nötigen Bewässerung ein Wasserfilm, der ihn auf den ersten Metern auf dem nassen und ebenen Untergrund nicht rollen, sondern „sliden“ lässt. Von Kunststoffabrieb und Mikroplastik war zu dieser Zeit noch nicht die Rede.
Kunstrasenbewässerung
Und auch von der Problematik der Bewässerung nicht. Das kühle Nass war in ausreichendem Maße vorhanden. Das hat sich bekanntlich grundlegend geändert. „Die Folgen des Wassermangels sind bereits heute spürbar: Grundwasserspiegel sinken, Böden trocknen aus und Flüsse führen weniger Wasser“, heißt es beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Er fordert deshalb, die Entnahme von Wasser zu begrenzen und wassersparende Technologien zu fördern.
„Es gab bereits vor den Olympischen Spielen in Tokio 2021 das Bestreben des Welthockeyverbands FIH (Fédération Internationale de Hockey), künftig auf nicht zu bewässernden Plätzen zu spielen“, sagt Dirk Wellen, Vorsitzender des nationalen Hockey-Ligaverbands und 1. Vorsitzender des Crefelder HTC, der jüngst deutscher Hockey-Meister wurde. „Auf den Olympia-Feldern in Tokio musste mehr Wasser aufgebracht werden als für alle olympischen Swimmingpools zusammen. Das verdeutlicht anschaulich, wie groß das Problem Wasserverbrauch im Sport ist.“
Die Felder müssen bislang bewässert werden, weil der Ball darauf besser läuft und weil feuchter Kunstrasen die Spieler schützt. Rutschen sie, ziehen sie sich ansonsten Verletzungen wie Verbrennungen zu, bleiben auf dem stumpfen Untergrund hängen und erleiden Gelenk- und Muskelverletzungen. „Kann der Platz nicht bewässert werden, wird kein Topspieler seinen Fuß darauf setzen. Das ist schlichtweg zu gefährlich“, so Wellen.
Vor allem in den Niederlanden, wo Hockey auf der Beliebtheitsskala nahe an König Fußball heranreicht, gibt es einige Felder, auf denen Hersteller nach der Ideallösung ohne oder mit geringen Wassermengen suchen. Im Land des mehrfachen Weltmeisters und Olympiasiegers sowie in Belgien soll im kommenden Jahr die nächste Weltmeisterschaft über die Bühne gehen, sicherlich noch auf bewässertem Untergrund. „Ursprünglich hatte die FIH vor, bereits bei der WM 2026 auf trockenen Plätzen zu spielen. Da es diesen Belag noch nicht gibt, wurde das Projekt zeitlich verschoben“, erklärt Wellen.
Aber nicht aufgehoben. Jetzt beauftragte die FIH das deutsche Unternehmen Polytan, einen weltweit agierenden Kunstrasenhersteller mit Sitz im bayerischen Burgheim, sich des Themas nicht zu bewässernder Kunstrasenplätze anzunehmen. Minimalziel ist die Reduktion des Wasserverbrauchs gegen null. Da Polytan einen großen Produktionsstandort nicht weit von Mönchengladbach hat, wo der Deutsche Hockey-Bund beheimatet ist und wo auch der Crefelder HTC nicht weit ist, bot sich eine Kooperation mit dem frischgebackenen deutschen Meister an. Zudem hat der CTHC die Möglichkeit, den 900 m2 großen Kunstrasen unter leistungssportlicher Belastung zu testen.
Kunstrasentest in Krefeld
„Wir können unterschiedliche Beläge nebeneinander installieren, verschiedene Oberflächenzustände simulieren und Spielsituationen auch außerhalb eines regulären Spiel- und Nutzungsbetriebs nachstellen“, sagt Friedemann Söll, Produktionsleiter bei Polytan, das sich als Vorreiter bei der Erforschung von Kunstrasenplätzen sieht.
„Mit viel Euphorie und starker Überzeugungskraft hat der damalige CEO der FIH das Programm gestartet und viele waren anfänglich der Meinung, dass kleine Veränderungen ausreichen, um einen großen Effekt zu erzielen“, so Söll. „Insbesondere die europäischen, aber auch die Hockeyverbände in Australien und Neuseeland – also einige der führenden Hockeynationen – haben das damals kritisch begleitet. Wie wir heute wissen, ist das Thema wesentlich komplexer und beschränkt sich eben nicht nur auf ein paar schnelle Änderungen am Hockeyrasen, sondern betrifft den gesamten Hockeysport.“ Denn die Neuerungen werden auch Auswirkungen auf Schläger, Bälle, Schuhe und Bekleidung haben. Erst bei den Olympischen Sommerspielen 2028 in Los Angeles laufen Spielerinnen und Spieler über die neue Revolution im Feldhockey. So lautet jedenfalls die Zielsetzung von Polytan und der FIH.
„Am Projekt arbeitet eine Vielzahl von Wissenschaftlern und Ingenieuren extern und intern mit“, erläutert Söll. „In den verschiedenen Entwicklungsstufen beschäftigen sich Chemiker, Materialwissenschaftler, Ingenieure und Produktdesigner mit der Aufgabenstellung.“ Nach Abschluss der Grundlagenentwicklung kommen Vertrieb, Marketing, Betriebswirtschaft, Produktion sowie Finanzen und Controlling hinzu. „Insbesondere im Bereich der Materialforschung arbeiten wir auch mit Universitäten und Hochschulen zusammen. Wenn es zur Erprobung kommt, ist die Meinung der Anwender gefragt.“
Kunstrasen ohne Wasser
Wie aber sieht die Technik hinter den „Dry Turfs“ aus? „Es gibt unterschiedliche Ansätze, die die Industrie verfolgt“, erläutert Söll. So könnten die Fasern in einer Art Stricktechnologie verarbeitet werden, mit engen und dichten Maschen. Bei der Produktion könne man die Fasern auch in einer Schlaufe belassen und damit eine weichere Oberfläche erzeugen, vergleichbar mit einem Frotteestoff, aber viel dichter. Polytan verfüge über langjährige Erfahrungswerte in der sogenannten Masterbatchherstellung.
„Dem Grundstoff Polyethylen geben wir Additive wie Stabilisatoren, Hilfsmittel und Farbstoffe zu. Dauerhafte Pigmente sorgen für eine verstärkte Infrarotreflexion. Alles zusammen soll eine softere und kühlere Oberfläche erzeugen, die aber per se nicht feucht ist, sondern eine bessere Gleitfähigkeit ergeben soll. Damit wird noch einmal weniger Wasser verbraucht.“ Die entscheidende Frage sei: „Können wir tatsächlich runter auf null Wasser oder wollen wir ein Minimum Wasser beibehalten?“ Das Wasser habe einen entscheidenden Vorteil: Es kühlt den Rasen herunter.
Ein wichtiger Aspekt, der im Dry-Hockey-Projekt auch erforscht werden müsste, sei die Haltbarkeit. „Natürlich muss auch diese Entwicklung eine entsprechende Lebensdauer aufweisen. Heute ist ein Hockeykunstrasen je nach Belastung rund zehn bis 18 Jahre bespielbar. Die Industrie arbeitet daran, eine vergleichbare Lebensdauer auch mit dem neuen System zu erreichen. Aussagen dazu lassen sich aber erst nach intensiveren Praxiserprobungen treffen.“
Söll geht davon aus, dass der neue Kunstrasenplatz auch kompatibel für andere Sportarten wäre, wobei der Unterschied nicht nur in der Faserlänge liege. „Beim Hockey sind die Kunsthalme maximal 11 mm lang, beim Fußball oder Rugby 35 mm bis 60 mm. Beim Fußball ist der Platz mit Sand, Granulat oder einem Sand-Kork-Gemisch befüllt, beim Hockey kommt nur Wasser hinzu. Er ähnelt einem kurzflorigen Veloursteppich.“ Zu beachten ist, dass Gummigranulat und andere polymere Granulate in der EU ab 2031 für Neuplätze verboten sind.
Andere Sportarten mit Kunstrasen
Auch die Wissenschaft begrüßt die Initiative des Hockeysports zu mehr Nachhaltigkeit. „Ich halte die Reduzierung des Wasserbedarfs für eine lohnenswerte Entwicklung“, sagt Jürgen Bertling. Der Experte für Nachhaltigkeit am Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik (Umsicht) gibt aber zu bedenken, dass viele Fragen noch offen seien: Wie sehr kann der Wasserverbrauch durch kluges Platzmanagement reduziert werden?
Kann das Wasser direkt an der Sportanlage gefiltert, gesammelt und wiederverwendet werden oder wird es direkt dem öffentlichen Abwassersystem zugeleitet? Oder versickert es? Wie groß ist der Faserabrieb bei nicht oder kaum bewässerten Plätzen? Und wie sieht es mit der Verletzungsgefahr aus?
Gelänge es, den Wasserverbrauch zu reduzieren, könnte das an anderer Stelle Baustellen aufreißen. Bertling: „Im Sommer werden die Plätze auch deshalb bewässert, um sie zu kühlen. Macht man das nicht, erhitzen sie sich. Das kann im städtischen Raum Auswirkungen auf das Mikroklima haben, zum anderen hat Hitzestress auch gesundheitliche Auswirkungen.“
Es sei extrem schwierig, alle möglichen Effekte zu erkennen und gegeneinander abzuwägen. „Hierzu sind vollständige Ökobilanzen erforderlich, die die Herstellung, Nutzung und das Lebensende in den Blick nehmen und neben den klassischen Umweltkategorien wie Treibhausgasemissionen, Ressourcenbedarf und Wasserverbrauch auch die Kunststoffemissionen in den Blick nehmen. Die größte Schwierigkeit ist dabei, die verschiedenen Umweltwirkungen untereinander zu gewichten, denn wer will schon einen reduzierten Wasserverbrauch auf Kosten steigender Mikroplastikemissionen.“
Was auf den ersten Blick als Banalität erscheint, wird auf den zweiten zur ökologisch-technischen Mammutaufgabe.
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