Fachkräftemangel: Wenn Deutschlands Baustellen leer bleiben
Wie kann die Bauindustrie den drohenden Fachkräftemangel in den Griff bekommen – und welche Rolle spielen dabei Digitalisierung und die künstliche Intelligenz? Die Antworten darauf könnten entscheidend sein für den Erfolg großer Zukunftsprojekte wie der Energie- und Verkehrswende.
Wenn erfahrene Fachkräfte fehlen, gerät die Bauindustrie unter Druck.
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Der Fachkräftemangel in der Bauindustrie zählt zu den größten strukturellen Herausforderungen in Deutschland. Ohne qualifizierte Menschen, die Straßen bauen, Leitungen verlegen oder Baumaschinen führen, geraten zentrale Vorhaben wie die Energie- oder Verkehrswende ins Stocken. Automatisierung allein wird das Problem nicht lösen – der Bedarf an Fachkräften bleibt hoch.
Für Dr. Anna Hocker ist genau das der Ausgangspunkt ihrer Arbeit. Als Mitgründerin und Geschäftsführerin von Crafthunt bringt sie fundierte HR-Expertise in die Plattform ein, die darauf abzielt, Fachkräfte in der Bauwirtschaft sichtbarer zu machen und mit Betrieben zusammenzubringen.
Ihr beruflicher Hintergrund: Wirtschaftsinformatik, mehrere Jahre bei McKinsey im Bereich People Strategy, danach in der Personalberatung tätig – mit dem Fokus darauf, wie Organisationen ihre Teams aufbauen, entwickeln und halten können.
Doch während sie in der Executive-Beratung oft erlebte, dass Führungskräfte ihren Weg finden, wurde ihr immer deutlicher: Der Engpass liegt in der Mitte der Arbeitswelt – bei den Menschen, die tatsächlich anpacken.

Dr. Anna Hocker.
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Warum gerade die Baubranche?
Den konkreten Ausschlag gab eine persönliche Erfahrung im Umfeld ihres Mitgründers Jonas Stamm. In dessen Familienbetrieb – einem Bauunternehmen – übernahm sein Bruder gerade Verantwortung im Zuge eines Generationswechsels. Doch direkt zu Beginn stieß er auf ein massives Problem: Ein Bauleiter, ein Bauschlosser und ein Baggerfahrer gingen in Rente – und trotz aller Recruiting-Versuche ließ sich keine passende Nachfolge finden. Weder Online-Jobportale noch Social-Media-Kampagnen brachten Bewerbungen. Der Baggerfahrer arbeitet heute weiter – obwohl er offiziell im Ruhestand ist.
Diese Erfahrung machte deutlich: Selbst engagierte, gut geführte mittelständische Betriebe finden heute kaum noch qualifizierte Bewerber:innen. Und das ist kein Einzelfall, sondern ein strukturelles Problem. In den nächsten fünf Jahren wird rund ein Drittel der Fachkräfte in der Bauindustrie in Rente gehen – die Lücke ist vorprogrammiert, der Nachwuchs fehlt.
Warum fehlen gerade in der Bauindustrie so viele Fachkräfte? Die Gründe sind vielfältig: Die Arbeit findet oft im Freien statt – bei Wind und Wetter, auf Dächern, Gleisen oder im Umgang mit schwerem Gerät. Das ist körperlich anstrengend und für viele weniger attraktiv als ein Bürojob. Hinzu kommt der zunehmende Wettbewerb um technische Talente.
„Gerade im Bauingenieurwesen sehen wir eine starke Konkurrenz zu anderen Disziplinen wie Informatik oder Maschinenbau“, sagt der Mitgründer Dr.-Ing. Patrick Christ. „Dort sind Homeoffice und geregelte Arbeitszeiten inzwischen selbstverständlich – auf dem Bau ist das schwer umsetzbar. Wer Großprojekte betreut, muss vor Ort sein, oft mit unregelmäßigen Arbeitszeiten. Das macht die Branche gerade für junge Fachkräfte unattraktiv.“
Erneuerung im Selbstverständnis der Branche
Um dem Fachkräftemangel langfristig zu begegnen, reicht es nicht, nur den Status quo zu verwalten – es braucht eine echte Erneuerung in der Ansprache und im Selbstverständnis der Branche. Viele Bauunternehmen sind kleine oder mittelständische Betriebe, oft ohne große Sichtbarkeit oder klare Arbeitgebermarke. Genau das muss sich ändern, betont Anna Hocker:
„Betriebe müssen heute viel stärker zeigen, was sie als Arbeitgeber ausmacht – sichtbar, ehrlich und auf Augenhöhe. Fachkräfte erwarten zu Recht Wertschätzung, gute Einstiegsmöglichkeiten und Entwicklungsperspektiven. Das funktioniert aber nicht mehr über die Stellenanzeige in der Lokalzeitung, sondern über digitale Wege – dort, wo junge Menschen unterwegs sind.“
Gleichzeitig macht sie deutlich: Der demografische Wandel lässt sich national allein nicht auffangen. Der Bauarbeitsmarkt wird künftig auf gut integrierte, ausländische Fachkräfte angewiesen sein – mit Qualifizierung, Perspektiven und langfristiger Bindung. Nur so lässt sich der Generationenwechsel in der Branche wirklich gestalten.
Ausländische Fachkräfte als Rückgrat der Bauindustrie
Ein zentraler Baustein zur Bewältigung des Fachkräftemangels ist die gezielte Einbindung internationaler Arbeitskräfte. Aus Sicht von Anna Hocker ist das Interesse aus dem Ausland an der Bauindustrie in Deutschland nach wie vor hoch – und ein entscheidender Vorteil:
„Zum Glück bleibt Deutschland ein sehr attraktiver Arbeitsmarkt für Fachkräfte aus dem Ausland. Ohne sie wären die Verzögerungen und Kostensteigerungen auf vielen Baustellen noch viel gravierender.“
Dabei zeigen sich nach ihrer Erkenntnis regionale Muster: In Süddeutschland etwa gibt es seit Jahren eine starke Verbindung mit Kroatien – insbesondere im Bereich der Elektrik. Die Ausbildung dort ist der deutschen sehr ähnlich, was den Einstieg erleichtert. In Nordrhein-Westfalen wiederum sind polnische Fachkräfte im Tief- und Gartenbau besonders präsent. Diese etablierten Strukturen helfen, Fachkräfte schneller zu integrieren – und verdeutlichen, wie wichtig ein gezieltes, offenes Recruiting über nationale Grenzen hinweg ist.
Wo liegen die größten Engpässe im Baugewerbe?
Die größte Herausforderung im Baugewerbe besteht aktuell darin, ausreichend qualifizierte Fachkräfte zu finden – vor allem in Schlüsselberufen wie Elektrikern oder Anlagenmechanikern für Sanitär, Heizung und Klima. Aber auch erfahrene Bauleiter, Poliere und Kalkulatoren sind rar gesät. Letztere sind besonders schwer zu ersetzen, da es deutschlandweit nur wenige Tausend qualifizierte Fachkräfte in dieser Rolle gibt. Anna Hocker erklärt dazu:
„Der Engpass ist am größten bei den wirklich qualifizierten Fachkräften – also jenen, die eine anerkannte Ausbildung abgeschlossen und mehrjährige Erfahrung mitbringen. Quereinsteiger gibt es mehr, aber gerade die gut ausgebildeten Elektriker oder SHK-Fachkräfte bleiben Mangelware.“
Diese Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage zwingt Unternehmen dazu, neue Wege zu finden, um solche Spezialisten auch „out of the box“ zu gewinnen und langfristig zu binden.
“Der Personalbedarf in der Baubranche steigt derzeit über verschiedene Berufsbilder hinweg. Damit der Aufschwung nicht ins Stocken gerät, braucht es vor allem eines: qualifizierte Fachkräfte. Viele der gesuchten Profile zählen allerdings bereits heute zu Engpassberufen. Umso wichtiger ist es, dass die Politik gezielt Ausbildung und Zuwanderung fördert und bürokratische Hürden abbaut, damit sich die geplanten Infrastrukturinvestitionen auch tatsächlich umsetzen lassen“, bestätigt auch Indeed-Ökonomin Dr. Virginia Sondergeld.
Zwischen April und Juli ist die Zahl der ausgeschriebenen Stellen im Bauwesen um 5,7 % gestiegen. Besonders gesucht werden Bauleiter, die rund 13 % aller Bau-Stellenanzeigen ausmachen. Fachkräfte im Maler- und Lackierhandwerk sind mit 11,1 % ebenfalls stark nachgefragt, gefolgt vom Tiefbau mit 7,1 %. Auch handwerkliche Führungskräfte wie Poliere (3,5 %) und Vorarbeiter (3,1 %) sind wichtige Positionen, bei denen der Bedarf hoch ist. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Analyse von Dr. Virginia Sondergeld.

Dr. Ing. Patrick Christ.
Foto: Crafthunt
Digitalisierung und Künstliche Intelligenz im Bauwesen – Chancen statt Bedrohung
Die Bauindustrie befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel – auch durch die Digitalisierung und den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI). Während viele Branchen über Jobverluste durch Automatisierung diskutieren, sieht die Realität im Bauwesen anders aus: KI wird vor allem als Werkzeug verstanden, das die Arbeit von Fachkräften unterstützt und effizienter macht, ohne sie zu ersetzen.
Patrick Christ betont:
„Im Bauwesen sind die Jobs sehr spezialisiert und stark reguliert. Eine KI kann keine Haftung übernehmen, sondern hilft den Bauingenieuren dabei, ihre Arbeit besser und sicherer zu erledigen. Angesichts des großen Fachkräftemangels kann KI entscheidend dazu beitragen, Effizienzsteigerungen zu erreichen und die Lücke bei den Arbeitskräften zu schließen.“
Aus Sicht von Anna Hocker bietet KI vor allem die Chance, langwierige und oft manuelle Prozesse zu automatisieren: „Viele Abläufe, etwa der Abgleich von Angeboten, Preislisten oder Leistungsverzeichnissen, sind in der Bauindustrie noch sehr zeitintensiv und ineffizient. KI kann diese Prozesse digitalisieren und automatisieren, wodurch Bauunternehmen ihre riesigen Datenmengen besser nutzen können. Das entlastet die Mitarbeitenden und schafft enorme Effizienzgewinne – ein wichtiger Hebel für die Zukunft der Branche.“
Beide Experten sehen die KI somit nicht als Bedrohung, sondern als großen Vorteil für die Bauwirtschaft, der den Alltag erleichtert und den Fachkräftemangel zumindest teilweise abmildern kann.
Die Bedeutung von Weiterbildung, insbesondere im Bereich künstliche Intelligenz, ist im Bauwesen angesichts des digitalen Wandels enorm. Patrick Christ beschreibt die Situation eindrücklich: „Es ist eine Art tickende Zeitbombe: In den nächsten fünf Jahren werden rund 30 % des Wissens und Know-hows aus vielen Firmen abwandern, wenn erfahrene Fachkräfte in Rente gehen. Deshalb ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, dieses Wissen zu sichern und die verbleibenden Mitarbeitenden so weiterzuentwickeln, dass sie den Verlust an Fachkräften bestmöglich kompensieren können.“ Die gezielte Schulung und Befähigung der Mitarbeiter ist somit der Schlüssel, um das Potenzial von KI und Digitalisierung voll auszuschöpfen und den Fachkräftemangel aktiv zu begegnen.
Mehr Bewusstsein für die Bedeutung der Bauindustrie
Die Zukunft der Bauindustrie ist entscheidend für den Fortschritt unserer Gesellschaft. Anna Hocker betont, dass viele der großen gesellschaftlichen Herausforderungen – von der Energiewende über die Verkehrswende bis hin zur Sicherstellung der Infrastruktur – maßgeblich von einer leistungsfähigen Bauwirtschaft abhängen.
„Leider war die Branche in der Vergangenheit oft unterrepräsentiert und wurde nicht ausreichend wertgeschätzt. Ich wünsche mir, dass sich das in Zukunft ändert“, sagt sie. Nur mit einem gestärkten Bewusstsein für die Bedeutung der Bauindustrie kann deren Rolle als Rückgrat der modernen Gesellschaft nachhaltig gesichert werden.
Patrick Christ ergänzt, dass die Bauindustrie in der öffentlichen Wahrnehmung häufig unterschätzt und mit negativen Schlagzeilen assoziiert wird.
„Erfolgsmeldungen wie die Eröffnung von Krankenhäusern oder Forschungszentren finden kaum statt. Stattdessen dominieren Berichte über Baukostenexplosionen und Projektprobleme das Bild.“ Um Fachkräfte zu gewinnen und zu halten, muss die Branche moderner und attraktiver werden – etwa durch bessere Arbeitsbedingungen, Weiterbildung und eine stärkere Wertschätzung im gesellschaftlichen und politischen Raum. „Politisch sind wir auf einem guten Weg, und ich hoffe, dass dieser Kurs beibehalten wird“, so Christ.
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