Hoffnungsträger mit Schattenseiten 07.07.2025, 15:00 Uhr

Wie sich Moos als Baustoff nutzen lässt

Moos als Baustoff der Zukunft? Neue Forschung zeigt: Die Pflanze kühlt, filtert – aber schwächt unter Umständen den Beton. Wo das Potenzial liegt und wo die Risiken.

Moos

Moos in seinem natürlichen Habitat: Die unscheinbare Pflanze gedeiht auch an Flussufern – und zeigt dort bereits, was sie im Städtebau leisten könnte: Wasser speichern, Luft filtern und Flächen kühlen.

Foto: Smarterpix / thomaseder

Moos ist etwas, das niemand auf seiner Fassade oder seinem Dach sehen möchte. Doch wie aktuelle Beispiele und Forschungen zeigen, kann es auch gezielt genau dort eingesetzt werden. Was früher als Schmutz oder Patina galt, könnte künftig Teil nachhaltiger Architektur werden und überraschende bauphysikalische, ökologische sowie ästhetische Vorteile bieten. Eine neue Studie zeigt jedoch: Der Einsatz von Moos hat auch technische Grenzen.

Warum Moos? Die unterschätzte Pflanze

Moos gehört zu den ältesten Landpflanzen der Erde. Über 20.000 Arten wachsen heute weltweit – auch mitten in der Stadt. Moose besitzen keine Wurzeln, sondern filtern Nährstoffe direkt aus der Luft. „Damals gab es eine Reihe von Vulkanausbrüchen, bei denen viel Asche in die Atmosphäre gelangte. Dies haben sich Moose zunutze gemacht und sich so mit Nährstoffen versorgt“, erklärt der Botaniker Dr. Tobias Graf. Noch heute filtern Moose CO₂, Feinstaub und Stickoxide – ganz ohne menschliches Zutun.

Diese Robustheit macht sie für urbane Räume attraktiv. Wo Betonflächen das Klima aufheizen und Regenwasser ungenutzt abfließt, puffert Moos Temperatur, speichert Wasser und verbessert die Luftqualität. Es eignet sich als Fassadenverkleidung, akustisches Wandpaneel oder Bestandteil bioaktiver Baumaterialien. Seine Genügsamkeit senkt zudem den Pflegeaufwand.

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Studie zeigt: Moos reinigt – aber schwächt Beton

Dass Moos nicht nur dekorativ, sondern funktional ist, bestätigt nun auch eine aktuelle Studie von Raul Jr. Pelitones Palcis von der Mindanao State University. Darin untersuchte das Team die Wechselwirkung zwischen Moosbewuchs und Beton.

Das Ergebnis: Moose wirken wie natürliche Luftfilter. Sie nehmen CO₂ aus der Atmosphäre auf und binden es dauerhaft in ihrer Biomasse. Ihre poröse Oberfläche absorbiert zudem flüchtige organische Verbindungen (VOCs) und Feinstaub. Begrünte Fassaden könnten demnach helfen, die Luftqualität in Städten zu verbessern – und gleichzeitig den sogenannten Urban-Heat-Island-Effekt abzumildern, also die extreme Hitzeentwicklung in dicht bebauten Gebieten.

Doch Palcis fand auch einen technischen Schwachpunkt: Die strukturelle Festigkeit des Betons leidet unter intensiver Moosbedeckung. In Labortests nahm die Druckfestigkeit von Sichtbeton um bis zu 38 % ab – abhängig vom Bedeckungsgrad:

Moosbedeckung Druckfestigkeit in N/mm²
0 % (Referenz) 35,2 N/mm²
25 % 32,1 N/mm²
50 % 28,5 N/mm²
100 % 21,7 N/mm²

Quelle

BryoSYSTEM: Wie sich Moos gezielt an Fassaden ansiedelt

In Kaiserslautern entstand aus dieser Idee ein Unternehmen: Gemeinsam mit dem Wirtschaftsinformatiker Björn Stichler und dem Bauingenieur Martin Hamp hat Tobias Graf das System BryoSYSTEM entwickelt. Die wartungsfreie, selbstbegrünende Fassade besteht aus modularen Betonelementen, die mit speziellen Rillen und Oberflächenstrukturen Mooswachstum begünstigen. Eine halbrunde Aussparung an der Oberkante verteilt gesammeltes Regenwasser gleichmäßig, gespeist aus einem unterirdischen Tank. Oben integriert: eine Solarzelle oder alternativ eine andere Energieversorgung.

Die Besonderheit: Die Module müssen nicht vorbepflanzt werden. Sporen aus der Luft siedeln sich von selbst an – begünstigt durch eine biologische Vorbehandlung der Oberfläche. Die Moose sind somit an das jeweilige Mikroklima angepasst. „Sie brauchen weder Pflanzenschutzmittel noch Rückschnitt. Ein großer Vorteil gegenüber klassischer Fassadenbegrünung“, sagt Graf. Zudem sind Moose ganzjährig grün und treten bei großer Hitze in eine Art Energiesparmodus: Dormanz.

Sensoren überwachen dabei Feuchtigkeit und Umweltparameter. Ein Algorithmus passt die Versorgung an. „Die Daten sind auch für Smart-City-Konzepte spannend“, sagt Stichler. Langfristig könnten die ermittelten CO2- und Feinstaubwerte als Umweltkennzahlen für Kommunen dienen. Denkbar ist der Einsatz auch in Tunneln und U-Bahn-Stationen. Mit künstlichem Licht könnten Moose auch dort gedeihen und die Luft reinigen. BryoSYSTEM ist inzwischen patentiert, gefördert durch ein EXIST-Stipendium und auf der Suche nach Partnern für Pilotprojekte.

Moos als Baustoff – Fakten auf einen Blick

Ökologische Wirkung:
• Bindet CO₂ durch Photosynthese
• Filtert Feinstaub, Stickoxide und VOCs
• Fördert Mikroklima in urbanen Räumen

Bauphysikalische Vorteile:
• Reduziert Oberflächentemperaturen um bis zu 30 °C
• Dämmt gegen Hitze, Kälte und Schall
• Feuchtepuffer für Innenräume

Integration in Baumaterialien:
• Biorezeptiver Beton (z. B. Respyre)
• Textile Fassadensysteme (z. B. FH Bielefeld)
• Modulplatten mit Moosbewuchs (z. B. BryoSYSTEM)

Technische Herausforderungen:
• Reduzierte Druckfestigkeit bei vollständiger Moosbedeckung:
→ 35,2 N/mm² (0 %) → 21,7 N/mm² (100 %)
• Erhöhtes Gewicht durch Wasseraufnahme
• Brandschutz und Langzeitverhalten noch nicht normiert

Mögliche Anwendungen:
• Fassaden und Dächer in Städten
• Akustikpaneele in Innenräumen
• Ökologische Dämmstoffe in Tiny Houses oder Lehmhäusern

 

Respyre: Biorezeptiver Beton aus den Niederlanden

Das niederländische Start-up Respyre verfolgt einen ähnlichen Ansatz: „Die Menschen glauben, dass Moosbewuchs dem Beton schadet – in Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall“, erklärt Gründer Auke Bleij. Respyre hat biorezeptiven Beton entwickelt, der Moose gezielt wachsen lässt. Das Material besteht aus recyceltem Beton und besitzt eine spezielle Porosität, die Wasser speichert und das Mooswachstum fördert. Mit einem Bio-Gel kann der Prozess beschleunigt werden.

Die Vorteile: Kühlung durch Evapotranspiration, Reduktion von CO2 und Stickoxiden, Filterung von Feinstaub und Lärmminderung. Zugleich entsteht ein Lebensraum für Mikroorganismen. Erste Projekte in niederländischen Städten zeigen: Begrünte Wände heizen sich nur halb so stark auf wie unbehandelte Flächen. Und im Vergleich zu Kletterpflanzen braucht Moos weder Rankhilfen noch Pflanzgefäße.

Respyre bietet mit „VertiScape“ bereits fertige Module für Fassaden und Dächer an. Ein Innovationskredit der niederländischen Region Nord-Holland hilft beim Ausbau der Produktion. „Unsere Mission ist es, naturverträgliches Bauen einfach und nachhaltig zu machen“, sagt Bleij.

FH Bielefeld: Textile Mooswände im Test

Auch die Fachhochschule Bielefeld geht neue Wege. Seit 2022 testen Forschende dort textile Substrate, auf denen Moose und Mikroalgen vertikal wachsen. Ziel ist eine platzsparende Stadtbegrünung mit Wasserspeicherfunktion. „Moose speichern enorm viel Wasser, wachsen kontrolliert und sind robuster als Algen“, so Projektleiter Jan Lukas Storck. Die passive Bewässerung erfolgt über Kapillarbrücken, aktive Varianten werden ebenfalls erprobt.

Die textilen Unterlagen müssen wasserfest, alterungsbeständig und tragfähig sein. Erste Erfolge erzielte ein Gestrick aus der Faser Tencel. Auf dem FH-Dach laufen Freilandtests. Auch Innenraumanwendungen sind denkbar. „Eine automatisierte Steuerung könnte Fassaden an Bürogebäuden oder Wohnhäusern versorgen“, sagt Storck.

Dämmen mit Moos

Dass Moos auch bauphysikalisch überzeugt, zeigen Studien zur Dämmwirkung. Die Pflanzenstruktur bildet ein natürliches Luftpolster, das Wärmeleitung hemmt. Im Sommer kühlt das, im Winter isoliert es. Ein Beispiel: In einem Testprojekt in den Niederlanden heizte sich eine unbehandelte Betonwand auf 60 Grad auf, während eine mit Moos bewachsene Oberfläche nur etwa 30 Grad erreichte. Auch beim Respyre-Projekt „VertiScape“ zeigte sich, dass die Begrünung die Temperatur im Innenraum um mehrere Grad senken kann.

Auch Innenräume lassen sich mit Moospaneelen auskleiden. Sie verbessern nicht nur die Akustik, sondern wirken durch ihre schwammartige Struktur als Feuchtepuffer – besonders geeignet für Großraumbüros oder Schulen. In Kombination mit Materialien wie Lehm oder Holzfaserdämmung kann Moos so zum ökologischen Zusatzbaustoff werden.

Abdichten mit Moos

Bereits seit Jahrhunderten setzen Menschen Moos als natürlichen Dichtstoff ein – insbesondere beim Blockhausbau in Skandinavien. Torfmoos etwa wurde zwischen die Baumstämme gestopft, um Kältebrücken zu schließen. Der Clou: Moose quellen bei Feuchtigkeit auf und passen sich so flexibel an. Gleichzeitig sind sie schimmelhemmend und langlebig.

Auch in der Denkmalpflege wird Moos vereinzelt noch als Fugendämmstoff eingesetzt. So etwa bei der Sanierung historischer Fachwerkhäuser in Süddeutschland, wo es gemeinsam mit Lehm in Wandfugen eingebracht wird. Die Vorteile: natürliche Herkunft, keine chemischen Zusätze, gute Feuchteregulierung.

Für den modernen Wohnbau sind solche Anwendungen zwar selten geworden, doch denkbar wären sie in ökologischen Pilotprojekten – etwa in Tiny Houses, Lehmhäusern oder experimentellen Fassadensystemen. Dabei muss allerdings das höhere Gewicht bei Nässe sowie der Brandschutz beachtet werden.

Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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