Fernsehturm Stuttgart: Der erste seiner Art und Vorbild für viele
Der Bauingenieur Fritz Leonhardt erfand den Fernsehturm neu. Technik, Statik und Geschichte des ersten Beton-Sendemasts weltweit.
Warum der Fernsehturm Stuttgart weltweit Vorbild wurde.
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| Das Wichtigste in Kürze |
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Der am 5. Februar 1956 eröffnete Fernsehturm Stuttgart markiert weit mehr als ein lokales Jubiläum. Er steht für einen grundlegenden Richtungswechsel im Ingenieurbau. Zum ersten Mal wurde ein Sendemast nicht als reiner Zweckbau errichtet, sondern als dauerhaftes Hochbauwerk mit stadträumlicher Wirkung, öffentlicher Nutzung und klarer architektonischer Gestalt. Technik, Statik und Wirtschaftlichkeit wurden nicht getrennt gedacht, sondern zusammengeführt.
Bis dahin dominierten abgespannte Stahlgittermasten. Sie waren leicht, vergleichsweise günstig und technisch bewährt. Im Stadtbild wirkten sie jedoch provisorisch, ihre Lebensdauer war begrenzt, ihr Flächenbedarf hoch. Der Fernsehturm Stuttgart setzte dem ein neues Konzept entgegen: ein freistehender Stahlbetonschaft, darauf ein Turmkorb mit Café und Aussichtsebene, finanziert nicht allein aus Rundfunkmitteln, sondern auch durch Eintrittsgelder. Der Turm sollte senden – und sich selbst tragen.
Dieses Prinzip wurde zum Exportschlager. Spätere Bauwerke wie die Space Needle in Seattle oder der CN Tower in Toronto griffen die Grundidee auf. Technisch gingen sie unterschiedliche Wege, programmatisch folgten sie demselben Ansatz: ein Turm als Infrastruktur, Wahrzeichen und Einnahmequelle zugleich.
Der Stuttgarter Kessel als technisches Problem
Stuttgart liegt topografisch ungünstig. Der sogenannte Stuttgarter Kessel ist von Höhenzügen umgeben, die Funksignale abschatten. In den frühen 1950er Jahren war das ein ernstes Problem. UKW- und Fernsehwellen im damals genutzten VHF- und UHF-Bereich breiten sich nahezu geradlinig aus. Hügel, Wald und Relief erzeugen Funklöcher, die sich nicht durch höhere Sendeleistung kompensieren lassen. Entscheidend ist die Antennenhöhe.
Der Süddeutsche Rundfunk identifizierte den Hohen Bopser in Degerloch als optimalen Standort. Mit rund 483 m über NN bot er freie Sicht in den Kessel, ins Neckartal und bis zur Schwäbischen Alb. Funktechnisch war der Ort ideal. Städtebaulich jedoch sensibel, denn das Areal war Teil eines Naherholungsgebiets. Ein Bauwerk an dieser Stelle musste mehr leisten als nur senden. Es musste sich rechtfertigen.
Wirtschaftswunder und Fernsehfieber
Mitte der 1950er Jahre wuchs der Fernsehkonsum schnell. Großereignisse machten die Defizite der Infrastruktur sichtbar. Die Krönung von Elizabeth II. 1953 blieb vielen Haushalten in Stuttgart verwehrt, weil das Signal zu schwach war. Ähnliches drohte bei der Fußball-WM 1954.
Der politische Druck auf den Rundfunk war hoch. Eine Lösung musste her – schnell, zuverlässig und dauerhaft.
Die Idee mit der Betonnadel
Zunächst war ein klassischer Stahlgittermast vorgesehen. Rund 200 m hoch, abgespannt mit Pardunen, Kostenpunkt etwa 200.000 DM. Technisch unauffällig, aber flächenintensiv und optisch umstritten. Zudem wären Wartung, Korrosionsschutz und Ermüdung langfristig teuer geworden.
Der Bauingenieur Fritz Leonhardt hielt diesen Ansatz für kurzsichtig. Er schlug einen freistehenden Stahlbetonturm vor, mit Turmkorb, Aufzug und öffentlicher Nutzung. Sein Argument war nüchtern gerechnet: höhere Baukosten, aber langfristige Einnahmen und geringerer Unterhalt. Gleichzeitig sprach er offen von einer „Verschandelung der Höhenlage“ durch einen Gittermast. Sein Betonkonzept sollte Technik, Wirtschaftlichkeit und Stadtbild verbinden.
Der Widerstand war erheblich. Im Gemeinderat fielen Begriffe wie „Schandmal“ oder „Schildbürgerstreich“. Es gab Ängste vor Instabilität, vor unbekannten Risiken. Der Rundfunk entschied sich dennoch für das Wagnis – und finanzierte den Bau vollständig ohne städtische Beteiligung.
Gründung: Ring statt Block
Der Untergrund auf dem Hohen Bopser besteht aus Gipskeuper- und Stubensandsteinlagen mit eingeschalteten Mergeln. Tragfähig, aber geologisch heterogen. Ein massives Blockfundament hätte enorme Betonmengen erfordert und ungünstige Setzungen begünstigt.
Leonhardt wählte deshalb eine ringförmige Stahlbetonplatte mit rund 27 m Außendurchmesser. Diese Ringplatte verteilt die vertikalen Lasten gleichmäßig in den Baugrund und wirkt zugleich als Widerlager gegen die großen Kippmomente aus Windlasten. Das Erdreich innerhalb des Rings dient als zusätzliches Gegengewicht.
Wichtig ist die Einordnung: Es handelt sich nicht um ein klassisches Spannbetonfundament mit aktiv vorgespannten Litzen, sondern um eine massive, bewehrte Stahlbetonkonstruktion. Ihre Tragwirkung entsteht aus Geometrie, Eigengewicht und Verbund mit dem Boden. Der Vorteil lag in geringerem Materialeinsatz, kontrollierbaren Setzungen und hoher Dauerhaftigkeit.
Der Schaft als statisches Diagramm
Der Turmschaft verjüngt sich nach oben. Das ist keine ästhetische Laune, sondern folgt exakt dem Verlauf der Biegemomente. Am Fuß misst der Durchmesser rund 10,80 m, im oberen Bereich etwa 5 m. Die Wandstärke sinkt von etwa 80 cm auf unter 20 cm.
Maßgebend für diese Form ist nicht das Eigengewicht, sondern der Wind. Mit zunehmender Höhe steigen die Windgeschwindigkeiten deutlich an, während gleichzeitig der Hebelarm wächst. Der Turm verhält sich statisch wie ein eingespanntes Kragwerk. Material wird nur dort eingesetzt, wo es rechnerisch erforderlich ist. Der Fernsehturm ist weniger ein architektonisches Objekt als ein sichtbar gewordenes Rechenmodell.
Elastizität statt Starrheit – die „Samba-Socke“
Der Fernsehturm ist bewusst nicht starr ausgeführt. Bei starkem Wind kann die Turmspitze um mehrere Meter ausschwingen. Dieses elastische Verhalten ist gewollt und sicherheitstechnisch notwendig. Ein vollständig steifes Bauwerk würde höhere Spannungen entwickeln und früher Schaden nehmen.
Der volkstümliche Begriff „Samba-Socke“ bezeichnet keinen offiziellen Bauteil, sondern umgangssprachlich den Übergangsbereich zwischen Schaft und Fundament. In diesem Bereich sind Bewehrung und Querschnitt so ausgelegt, dass Verformungen kontrolliert aufgenommen und in das Fundament eingeleitet werden. Bei Sturm schwankt der Turm, aber innerhalb klar definierter Grenzen.

Turmkorb des Stuttgarter Fernsehturms. Bei Sturm bewegt sich der Turm erheblich. picture alliance/dpa | Bernd Weißbrod
Der Turmkorb als Schalenbau
Der Turmkorb besteht aus zwei kegelstumpfförmigen Schalen aus Stahlbeton, die am Schaft „hängen“. In ihnen befinden sich Technikräume, Küche, Café und die Plattformen. Die Schalenbauweise spart Gewicht und verteilt die Lasten gleichmäßig.
Der Korb wurde nicht mit dem Schaft hochgezogen, sondern nachträglich montiert – ein logistisch anspruchsvoller Schritt, der die Bauzeit verlängerte, aber statische Vorteile brachte.
Fernsehturm Stuttgart – Bautechnik in Kürze
• Bauwerkstyp: freistehender Stahlbeton-Fernsehturm
• Bauzeit: 1954–1956
• Höhe: 216,6 m
• Gründung: ringförmige Stahlbetonplatte, ca. 27 m Durchmesser
• Tragwerk: konischer Stahlbetonschaft, Wind als maßgebende Last
• Wandstärke: ca. 80 cm (unten) bis unter 20 cm (oben)
• Bauverfahren: Kletterschalung
• Turmkorb: hängende Schalenkonstruktion aus Stahlbeton
• Besonderheit: bewusst elastisches Tragverhalten
• Sicherheit: kontinuierliche Bauwerksüberwachung
Bauen in die Höhe
Der Bau begann im Juni 1954. Zum Einsatz kam eine Kletterschalung, die kontinuierlich nach oben wanderte. Für einen Hochbau dieser Höhe war das in Deutschland neu. Zwar gab es international bereits Erfahrungen bei Silos und Schornsteinen, doch die Kombination aus Höhe, Präzision und Publikumsbauwerk war außergewöhnlich.
Nach rund 20 Monaten war der Turm fertig. Die Kosten beliefen sich auf etwa 4,2 Mio. DM – mehr als ursprünglich geplant, aber wirtschaftlich tragfähig. Bei der Eröffnung war die Skepsis verflogen. Der Turm wurde sofort angenommen.
Ein Exportmodell aus Stuttgart
Der Erfolg sprach sich schnell herum. Internationale Delegationen reisten nach Stuttgart. 1959 besuchte Edward E. Carlson den Turm. Später wurde er Initiator der Space Needle. Auch europäische Fernsehtürme in Wien, Dortmund oder Frankfurt folgten dem Grundprinzip des freistehenden Stahlbetonturms. Weltweit wurde diese Bauform zum Standard.

Königlicher Besuch: Oberbürgermeister Arnulf Klett und Queen Elisabeth II. am 24.05.1965 im Fernsehturm in Stuttgart.
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Betrieb, Umbauten und Dauerhaftigkeit
Bereits nach fünf Jahren waren die Baukosten durch Eintrittsgelder gedeckt. Der Fernsehturm wurde zur Einnahmequelle. 1965 besuchte die Queen Stuttgart. Zeitzeugen berichten von Menschenmassen und Ausnahmezustand. Solche Ereignisse machten den Turm zum Identifikationspunkt.
Ab den 1970er Jahren verlagerte sich die Sendetechnik. Neue Anlagen wurden schwerer und passten nicht mehr in den Korb. Heute dient der Turm vor allem für UKW, DAB+ und Richtfunk. Parallel wird das Bauwerk kontinuierlich überwacht. Messungen von Schwingungen, Neigungen und Materialzuständen liefern Daten über das Langzeitverhalten. Instandhaltungsmaßnahmen betreffen vor allem Oberflächen, Abdichtungen und Technik – nicht die Tragstruktur.
Brandschutz als Zäsur
2013 wurde der Turm geschlossen. Der Grund waren verschärfte Brandschutzauflagen. Es existierte nur ein Rettungsweg im Schaft. „Bei einem Brand würde der Fernsehturm zu einer lebensbedrohenden Falle für die Besucher“, sagte der damalige Oberbürgermeister.
Eine zweite bauliche Fluchttreppe war statisch und geometrisch nicht realisierbar. Die Lösung war technisch: Eine Rauchschutzdruckanlage hält das Treppenhaus im Brandfall rauchfrei. 2016 öffnete der Fernsehturm wieder – sicherheitstechnisch auf dem Stand der Zeit. Seit 2009 ist der Stuttgarter Fernstehturm ein Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst.
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