„The Great Church Walk“: 113 Jahre alte Holzkirche fährt 5 km weiter
In Kiruna zog eine 700 Tonnen schwere Kirche fünf Kilometer weiter. Einzigartige Ingenieurleistung für den Fortbestand des Bergbaus.
Auf einem speziell konstruierten Wagen mit 224 Rädern wird die Kiruna-Kirche mit einer Geschwindigkeit von einem halben Kilometer pro Stunde an ihren neuen Standort verlegt.
Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Fredrik Sandberg
Im hohen Norden Schwedens zog am 19. und 20. August eine ganze Kirche um. Die Kiruna-Kirche, ein 113 Jahre altes Wahrzeichen aus Holz, wurde auf Spezialfahrzeugen rund fünf Kilometer weit an einen neuen Standort gebracht. Der Grund: Unter der Stadt breitet sich seit Jahrzehnten das größte unterirdische Eisenerzbergwerk der Welt aus. Um den Bergbau fortsetzen zu können, muss nicht nur die Kirche, sondern das gesamte Stadtzentrum weichen.
Doch wie versetzt man ein Gebäude, das über 700 Tonnen wiegt, ohne dass es zerbricht oder Schaden nimmt?
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Im Schneckentempo zum neuen Standort
Die Kirche bewegte sich langsamer als ein Mensch zu Fuß. Gerade einmal 500 bis 1000 Meter pro Stunde schaffte der Spezialkonvoi. Verantwortlich dafür waren sogenannte modulare Plattformtransporter (SPMTs), zwei Züge mit jeweils 28 Achsen. Jede Achse ließ sich einzeln steuern. So konnte das Team die Kirche selbst durch enge Kurven manövrieren.
Bauingenieur Kjell Olovsson beschrieb die Steuerung gegenüber der BBC so: „Er hat einen etwas erweiterten Joystick – so kann man es wohl beschreiben. Jede einzelne Achse kann individuell angesteuert werden.“
Damit sich die Kirche überhaupt bewegen ließ, hoben die Fachleute den Boden ringsum aus und setzten das Bauwerk auf ein Netz aus massiven Stahlträgern. Mammoet, ein weltweit tätiges Spezialunternehmen für Schwertransporte, hob die Konstruktion 1,3 Meter an und fixierte sie auf den Trägern. Ein eigens entwickeltes Überwachungssystem stellte während des gesamten Transports sicher, dass die maximale Neigung zwischen den Seiten nur 7,5 Zentimeter betrug.

Jede einzelne Achse des Schwertransports lässt sich einzeln mit Hilfe eines Joysticks steuern.
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Vorbereitung über Jahre
Der eigentliche Transport dauerte zwei Tage. Doch der Weg dorthin war weit länger. Bereits 2017 begannen die Planungen. Drei Jahre nahmen allein die technischen Studien und Genehmigungen in Anspruch. Insgesamt flossen mehr als 1000 Stunden in die konkrete Planung des Transports.
Straßen mussten verbreitert, Brücken abgebaut und eine neue, 24 Meter breite Trasse geschaffen werden. „Wir haben alle Straßenlaternen entfernt, Straßenschilder und sogar eine Brücke abgerissen, die sowieso zurückgebaut werden sollte“, erklärt Projektleiter Stefan Holmblad Johansson gegenüber der BBC.
Mammoet beriet zudem bei Verdichtungsarbeiten und testete die Strecke im Vorfeld mit beladenen Transportmodulen, um die Achslast der Kirche zu simulieren. Der Umzug wurde bewusst auf August gelegt – zu dieser Jahreszeit sind die Wetterbedingungen in Nordschweden vergleichsweise stabil.
Ein Spektakel für die Stadt
„The Great Church Walk“ – so nannten die Menschen in Kiruna das Ereignis. Tausende Zuschauer*innen verfolgten den Umzug bei Tageslicht, darunter auch der schwedische König. Für viele war es ein historischer Moment. Projektleiter Mathias Rönnholm vom Bauunternehmen Veidekke beschreibt den Einsatz so: „Es ist eine sehr inspirierende und ehrenvolle Aufgabe, sich um diese Gebäude zu kümmern, die allen so sehr am Herzen liegen.“
Am Ziel angekommen, senkten die Plattformtransporter die Konstruktion millimetergenau auf ihr neues Betonfundament. In den kommenden Tagen soll auch der 90 Tonnen schwere Glockenturm separat mit einer anderen Transportkonfiguration bewegt werden.
„Dieses Projekt verdeutlicht, wie wichtig detaillierte Planung und Engineering bei der Durchführung einzigartiger und bedeutender Umzüge sind“, sagte William Soeters, Projektmanager bei Mammoet. „Wir sind stolz darauf, eine wichtige Rolle bei der Erhaltung dieses historischen Gebäudes für zukünftige Generationen gespielt zu haben.“

Für den Transport mussten Straßen verbreitert und Hindernisse entfernt bzw. abgerissen werden.
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Eine Kirche mit Geschichte
Die Kiruna-Kirche entstand 1912 nach den Plänen von Gustav Wickman. Ihr Baustil erinnert an ein Zelt, innen finden sich Motive der Sami, der indigenen Bevölkerung des Nordens. 2001 wählten die Schweden sie zum schönsten Gebäude des Landes. Mit 40 Metern Breite und 35 Metern Höhe gehört sie zu den größten Holzkirchen Europas.
Im Inneren warten weitere Schätze: Eine Orgel aus dem Jahr 1957, gefertigt von der deutschen Firma Beckerath, und ein monumentales Altarbild, gemalt von Prinz Eugen von Schweden. Beides ließ sich nicht einfach ausbauen. Deshalb blieben die Kunstwerke während des Transports im Gebäude und wurden sorgfältig gesichert. „Das ist nicht etwas, das man einfach von einem Haken nehmen kann. Es ist direkt auf eine Mauer geklebt. Deshalb bleibt es während des Umzugs vollständig abgedeckt und stabilisiert in der Kirche“, erklärt Johansson.
Kosten und Finanzierung
Ein Projekt dieser Größenordnung ist teuer. Rund 44 Millionen Euro verschlang allein der Umzug der Kirche. Finanziert wurde er vom staatlichen Bergbauunternehmen LKAB. Der Konzern baut seit über 100 Jahren Eisenerz in Kiruna ab und ist einer der wichtigsten Arbeitgeber Schwedens.
Der Umzug der gesamten Stadt kostet ein Vielfaches. Bis 2035 sollen rund 6000 Menschen und über 3000 Gebäude an den neuen Standort gezogen sein. Die Gesamtkosten werden auf über 10 Milliarden Kronen geschätzt – fast eine Milliarde Euro.
Warum der Aufwand nötig ist
Hintergrund ist die enorme Ausdehnung des Erzbergwerks. Die Abbaufront wandert immer tiefer in den Boden. Mit jeder Erweiterung steigt das Risiko von Bodensenkungen. Irgendwann drohen Risse in Häusern, Straßen und Leitungen.
Robert Ylitalo, Geschäftsführer der Entwicklungsgesellschaft Kiruna, erklärt: „Es besteht keine Gefahr, dass Menschen in Spalten stürzen. Aber Risse würden irgendwann die Wasser-, Strom- und Abwasserleitungen beschädigen. Die Menschen müssen umziehen, bevor die Infrastruktur versagt.“
Nach schwedischem Recht darf unter Gebäuden kein Bergbau stattfinden. Für Kiruna bedeutet das: Nur ein kompletter Umzug schafft Sicherheit.
Internationale Bedeutung
Kiruna ist kein Einzelfall. Weltweit müssen Städte und Bauwerke weichen – sei es für Staudämme, Minen oder den Klimawandel. Doch der Umzug einer ganzen Stadt in dieser Dimension ist selten.
Auch in Deutschland gibt es Parallelen: Im Braunkohlerevier am Rhein mussten in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Dörfer verschwinden, weil die Tagebaue größer wurden. Viele Menschen verloren dort ihr Zuhause, Kirchen und Höfe wurden abgerissen oder an anderer Stelle neu aufgebaut. Anders als in Kiruna erfolgte die Umsetzung jedoch meist durch Abriss und Neubau, nicht durch den Transport ganzer Gebäude.
Die zusätzliche Brisanz: In Kiruna wurden jüngst große Vorkommen an seltenen Erden entdeckt. Diese Rohstoffe sind entscheidend für Zukunftstechnologien wie Windkraftanlagen oder Elektromotoren. Damit rückt die Region noch stärker in den Fokus der internationalen Industriepolitik.
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