Interview 20.08.2025, 07:30 Uhr

Agiles Recruiting: Geförderte Stellen schneller besetzen

Staatliche Förderprogramme schaffen Tausende neue Stellen. Doch viele Unternehmen stehen vor derselben Frage: Wer soll diese Jobs besetzen?

Michael Witt

Michael Witt über agiles Recruiting: Mehr als nur ein HR-Buzzword.

Foto: Lebenswelt Recruiting

Klassische Bewerbungsprozesse sind oft zu träge. Im Gespräch erklärt Recruiting-Experte Michael Witt, wie agile Methoden wie Hiring-Sprints helfen können, schneller passende Fachkräfte zu finden.

Herr Witt, staatliche Förderprogramme schaffen Tausende neuer Stellen – warum scheitern viele Unternehmen dennoch daran, diese zeitnah zu besetzen?

Das liegt an drei grundlegenden Problemen mit unterschiedlichen Antrieben:

  • Grund 1 – Der Markt: Geld besetzt keine Stellen, es schafft maximal Möglichkeiten. Im Recruiting war es schon immer so, dass Probleme strategisch gelöst werden sollten und nicht mit Geld. Das Geld löst jedoch eine Erwartungshaltung aus: schnelle Besetzung.
  • Grund 2 – Die Unternehmen: Viele Unternehmen haben in den vergangenen Monaten ihr Recruiting heruntergefahren oder nahezu aufgelöst. Sie können keinen Schnellstart hinlegen, weil Kapazitäten, Prozesse und Strategien fehlen.
  • Grund 3 – HR/Recruiting: Recruiting ist keine operative Zack-Zack-Disziplin mehr. Man muss zu viel berücksichtigen. Um schnell zu sein im Recruiting, braucht es eine fundierte Recruiting-Strategie und eine passende Recruiting-Organisation – das hätte man aufbauen können und nicht auflösen sollen.

Wie verändert sich aktuell die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt und welche Rolle spielt dabei der Fachkräftemangel in geförderten Projekten?

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Was viele bezweifelt haben und nicht wahrhaben wollen: Der Arbeitsmarkt ist wieder ein Arbeitgebermarkt geworden. Derzeit ist in sehr vielen Branchen „Bewegung“ zu verzeichnen, Besetzungen sind einfacher und Unternehmen können deutlicher ihre Wünsche und Bedingungen diktieren.
Es kann gut sein, dass in den geförderten Bereichen dann recht schnell wieder eine Knappheit entsteht und der Markt wieder kippt. Das bedeutet: Man muss gut rekrutieren können, aber auch ein passendes Angebot haben und es gut vermarkten, genauer gesagt: sich gut positionieren (Employer Branding).

Agiles Recruiting – Buzzword oder Gamechanger?

Was genau verstehen Sie unter „agilem Recruiting “ – und wie unterscheidet es sich von klassischen Bewerbungsprozessen?

Ich glaube, dass es „DAS “ agile Recruiting nicht gibt – nicht in dem Sinne, wie man beispielsweise von agilen Unternehmen spricht.
Agiles Recruiting kann konzeptionell zwei Ansätze verfolgen:

  1. Die Recruiting-Organisation arbeitet als Ganzes agil, weil das Unternehmen agil ist
  2. Agile Methoden werden im Recruiting eingesetzt (Backlog, Storyboard, Weeklys, Sprints etc.)

Wenn man Recruiting richtig agil denkt, dann werden Entscheidungen und Feedback dem agilen Mindset entsprechend partizipativer getroffen – das funktioniert aber nur, wenn ein Unternehmen per se agil arbeitet.

Offen gesagt hat sich agiles Recruiting auch nicht wirklich durchgesetzt – ich habe seit Langem nichts mehr davon gehört.

Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang oft fällt, ist der „Hiring-Sprint “. Können Sie erklären, wie ein solcher Sprint abläuft?

Die Grundüberlegung ist, einen Scrum-Sprint auf das Recruiting zu übertragen:

  • Product Owner: in der Regel der Hiring Manager
  • Scrum Master: Recruiting-Verantwortlicher
  • Dev-Team: die Recruiting-Abteilung

Es geht um den formalen Ablauf – also Dailys, Reviews und Retros, die nach dem Scrum-Prinzip durchgeführt werden.
Die Idee: Durch den Einsatz der Scrum-Methode sollen schnellere Anpassungen an Recruiting-Kanälen oder Stellenausschreibungen erfolgen, wodurch eine deutlich schnellere und passendere Besetzung erreicht wird, weil Hiring Manager und Recruiting in einem „Besetzungs-Squad“ zusammenarbeiten.

Die Realität: Klappt nicht wirklich, da sich der Markt nicht an Sprint-Zeiten hält, sondern seine Eigenheiten hat. Daher hat sich das auch nur in den wirklich agilen Unternehmen etabliert.

Voraussetzungen für agiles Recruiting

Welche Voraussetzungen müssen Unternehmen schaffen, um überhaupt agil rekrutieren zu können?

Im besten Fall ist das Unternehmen bereits agil oder hat zumindest ein grundlegendes Verständnis für agile, flexible und kooperative Arbeitsweisen. Hat es das nicht, wird agiles Recruiting nicht klappen, da zwei Welten aufeinanderprallen, die dann mehr mit sich als mit dem Auftrag zu tun haben.
Der erste Schritt ist das gemeinsame Verständnis zwischen Kundenorganisation und Recruiting-Organisation, was agiles Arbeiten bedeutet. Recruiting muss seine Prinzipien bereits formuliert haben.

Inwiefern hilft agiles Recruiting konkret bei der schnelleren Besetzung von Stellen in staatlich geförderten Projekten mit engen Zeitvorgaben?

Die ehrliche Antwort: Agile Methoden allein helfen nicht bei der schnelleren Besetzung.

Recruiting braucht zunächst fundierte Strategien, die flexibel und schnell anpassbar sind. Dazu gehören drei Kernelemente: Ein tiefes Verständnis der Zielgruppen, das Wissen um die Funktionsweise verschiedener Kanäle und Data-Literacy – also die Fähigkeit, Recruiting-Kennzahlen richtig zu interpretieren und daraus Handlungen abzuleiten. Diese Kompetenzen müssen strukturell in der Organisation verankert sein.
Wenn diese Grundlagen vorhanden sind, kann ein agiles Arbeitsmodell durchaus unterstützend wirken. Aber nur dann, wenn das gesamte Unternehmen entsprechend arbeitet.

Der entscheidende Trugschluss: Viele glauben, agiles Recruiting bedeutet automatisch schnelleres Recruiting. Aber der Markt passt sich nicht an interne Arbeitsweisen an. Die Time-to-Vacancy wird nicht durch Sprints reduziert, und die Knappheit an Fachkräften löst sich auch nicht durch agile Methoden auf.

Agilität kann helfen, Stellenprofile besser zu verstehen und auf Marktgegebenheiten flexibler zu reagieren – aber nur dann, wenn strategisches Recruiting und Recruiting Excellence bereits etabliert sind.

Stolpersteine und Chancen agiler Recruiting-Methoden

Was sind die häufigsten Stolpersteine beim Umstieg von klassischen auf agile Recruiting-Methoden?

  • Fehlende Kenntnis von agilen Methoden
  • Zwei-Welten-Problem: Das Unternehmen ist nicht komplett agil, die Recruiting-Abteilung ist agil, der Rest nicht
  • Falsches Erwartungsmanagement: Nur agil zu arbeiten bringt noch keine besseren Kandidaten und auch nicht schneller. Im Gegenteil: Arbeiten in agilen Frameworks erfordert von den Kunden (Hiring-Managern und HR-Businesspartnern) oftmals deutlich mehr Zeitinvestment als klassische Dienstleistungsorganisationen im Recruiting

Gibt es bestimmte Branchen oder Projektarten, für die sich Hiring-Sprints besonders gut eignen – oder funktioniert das überall?

Funktioniert überall da, wo:

  • Agiles und flexibles Arbeiten als Mindset im gesamten Unternehmen verankert und Tagesordnung ist
    Funktioniert nicht, wo:
  • Eher klassisch hierarchisch gearbeitet wird oder sehr strukturell
  • Recruiting ein eher administratives Mandat hat und über Agilität plötzlich qualitativ arbeiten soll – solche Unternehmen müssen zwei Dinge lernen: agil zu sein UND qualitativ zu rekrutieren

Recruiting-Strategie in Zeiten von Förderprogrammen und Fachkräftemangel

Wenn Sie Unternehmen einen Ratschlag für ihre Recruiting-Strategie in Zeiten staatlicher Investitionen und Fachkräftemangels geben könnten – welcher wäre das?

Mein klarer Rat: Fundament vor Methodik.

Schritt 1: Recruiting-Basics systematisch aufbauen – dazu gehören Prozesse, Zuständigkeiten und Kapazitäten.
Schritt 2: die passende Arbeitsmethodik etablieren – erst dann über agile oder klassische Ansätze entscheiden.
Schritt 3: eine zweischichtige Strategie entwickeln:

  • All-Over-Strategie (Long-Term): Grundsätzliche Positionierung als Arbeitgeber, Zielgruppendefinition, Kanalstrategie
  • Operative Strategie (Short-Term): konkrete Maßnahmen für akute Besetzungsbedarfe

Viele Unternehmen möchten mit staatlichen Fördergeldern sofort durchstarten, aber ohne diese Grundlagen wird auch das beste Förderprogramm nicht zu schnelleren Besetzungen führen. Investieren Sie die Zeit in den Aufbau – das zahlt sich langfristig aus.

Haben Sie ein konkretes Beispiel aus Ihrer Beratungspraxis, in dem ein staatlich gefördertes Projekt ins Stocken geraten ist, weil offene Stellen nicht rechtzeitig besetzt werden konnten?

Aus Projekten der agilen HR-Transformation: Agilität lernen und gleichzeitig qualitatives Recruiting einführen, überfordert die Organisation und selbstverständlich die Personen.

Meine Empfehlung: Schritt für Schritt vorgehen. Agil nur, wenn alle agil werden – dann klappt es. Nur eine agile Insel geht meistens schief.
Agile Methoden (einige wenige) ins Recruiting einzuführen, geht immer, ohne das komplette System zu transformieren.

Aus der Praxis: Unternehmen haben gelernt, realistischere Zeitpläne zu erstellen und Projekte auch mit unvollständiger Personaldecke zu starten. Sie entwickeln Back-up-Strategien für den Fall, dass Schlüsselpositionen nicht rechtzeitig besetzt werden können.

Fazit: Agilität ist kein Allheilmittel für Recruiting-Herausforderungen. Erst die strategischen Grundlagen schaffen, dann über Methoden nachdenken.

Michael Witt ist Berater für Recruiting-Strategie und Organisationsentwicklung. Seit 2018 selbstständig, begleitet er Unternehmen bei Veränderungsprojekten im Bereich Recruiting und Personalmarketing. Mit über 20 Jahren Erfahrung, darunter 13 Jahre in konzeptionellen und strategischen Rollen sowie über sieben Jahre in leitenden Funktionen, bringt er umfassendes Wissen in die Beratung ein. Er ist Initiator und Veranstalter von Events wie der HR-TecNight und dem Recruiter Slam. Zu seinen Kunden zählen LBBW, eyes and more, dm Österreich, SITS Germany und Voestalpine.

Ein Beitrag von:

  • Alexandra Ilina

    Alexandra Ilina ist Diplom-Journalistin (TU-Dortmund) und Diplom-Übersetzerin (SHU Smolensk) mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung im Journalismus, in der Kommunikation und im digitalen Content-Management. Sie schreibt über Karriere und Technik.

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