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Verbände fordern Politik zum Handeln auf 26.07.2021, 09:14 Uhr

Novelliertes Klimaschutzgesetz: Stromverbrauch muss angepasst werden

Mehr E-Autos, mehr Wärmepumpen, mehr Wasserstoff-Produktion – der Strombedarf in Deutschland wird in den nächsten Jahren deutlich steigen. Eine erste Einschätzung zu den Verbräuchen im Jahr 2030 hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier jetzt vorgelegt. Führende Verbände erwarten allerdings weitaus höhere Zahlen und fordern zum frühzeitigen Handeln auf.

Foto: panthermedia.net/ photoimpressions

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Welche Strommengen werden im Jahr 2030 benötigt und woher soll der Strom kommen? Die Neufassung des Klimaschutzgesetzes und die damit verbundenen ambitionierten Klimaziele, die Bundestag und Bundesrat Ende Juni 2021 verabschiedet haben, erfordern auch eine Anpassung der Analysen zum Stromverbrauch. Mitte Juli wagte sich Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier dazu aus der Reserve und legte eine erste Neuschätzung des Stromverbrauchs 2030 vor – nicht ohne die Einschränkung, dass eine ausführliche Neuberechnung des Stromverbrauchs erst im Herbst diesen Jahres vorliegen werde. Bis dahin möchte die von der Bundesregierung mit der Prognose beauftragte Prognos AG ihre umfänglichen Erhebungen zu diesem Thema abgeschlossen haben. Aktuell gehe das Schweizer Analyse- und Beratungsunternehmen für das Jahr 2030 von einem Stromverbrauch zwischen 645 und 665 Terawattstunden aus. Der Mittelwert liege bei 655 Terawattstunden. Unterstellt werden dabei unter anderem 14 Millionen Elektro-Pkw, sechs Millionen Wärmepumpen und 30 Terawattstunden Strom für grünen Wasserstoff. Denn, so Altmaier, klar sei: „Perspektivisch wird unsere Energieversorgung im Kern auf zwei Energieträgern beruhen: auf Strom aus erneuerbaren Energien und auf Wasserstoff, der aus erneuerbar hergestelltem Strom erzeugt wird.“

BEE: Dringend realistische Ausbauziele für erneuerbare Energien definieren

Wenig überraschend: Erneuerbare Energien werden künftig also eine noch stärker wachsende Bedeutung für die Energieversorgung in Deutschland einnehmen. Das ist auch dem Bundeswirtschaftsministerium klar. Beim Bundesverband Erneuerbare Energie e. V. (BEE) schaut man allerdings skeptisch auf die von Altmaier präsentierten Zahlen: „Der ersten Ankündigung vor einigen Wochen, die bisherigen Berechnungen als zu niedrig einzustufen, folgt nun eine höhere Prognose. Mit 645 bis 665 Terawattstunden wird diese allerdings weiterhin nicht dem Markthochlauf von Sektorenkopplungstechnologien in Deutschland gerecht. Hierfür sind für ein Treibhausgas-Minderungsziel von 65 % rund 100 Terawattstunden mehr nötig“, so Dr. Simone Peter, Präsidentin des BEE. Die Dekarbonsierung aller Sektoren sei ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Klimaneutralität, weshalb jetzt Planungssicherheit für Klimaschutztechnologien zu schaffen sei. Je länger mit dem beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien gewartet würde, desto eher drohe eine Ökostromlücke. Bereits 2022 werde der Atomausstieg abgeschlossen, Kohlekraftwerke seien aufgrund hoher CO2-Preise kaum mehr rentierlich. „Die erneute Verschiebung der Festlegung konkreter Ausbauziele ist die gleichzeitige Negierung der nun getroffenen Annahmen. Klimaschutz, Industriestandort und die sichere Energieversorgung verlieren wichtige Monate. Spätestens ein erstes 100-Tage-Programm einer neuen Bundesregierung muss den Erneuerbaren-Turbo in allen Sektoren und für die Sektorenkopplung einschalten, zusammen mit den Ländern mehr Flächen und Genehmigungen bereitstellen und eine Akzeptanzoffensive mit und für die Bürgerinnen und Bürger starten“, fordert Peter.

BDEW: Zu lange mit der Anpassung gewartet

Auch von Seiten des Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) kommt Kritik: „Eine realistischere Prognose des Strombedarfs ist längst überfällig. Es ist schon seit langem klar, dass mehr Strom benötigt wird, wenn Millionen E-Autos und Wärmepumpen auf dem Markt sind und immer mehr grüner Wasserstoff produziert wird. Die Bundesregierung hätte ihre Prognose schon viel früher anpassen können“, so die Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäftsführung, Kerstin Andreae. Die Novellierung des Klimaschutzgesetzes und die daraus resultierenden CO2-Minderungsziele hätten den Handlungsdruck nun nochmals verschärft. Entgegen der Prognosen aus dem Wirtschaftsministerium rechnet der BDEW für 2030 mit einem Strombedarf von etwa 700 Terawattstunden. Zudem sei ein höherer Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung von 70 % erforderlich, wenn die tatsächlichen Klimaziele erreicht werden sollen.

Erst Ende Juni hatte der BDEW gemeinsam mit dem Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW) seine Berechnungen für die Stromverbrauche im ersten Halbjahr 2021 vorgestellt und daraus klar Schlüsse gezogen: Neben einer Beschleunigung des Windenergie-Ausbaus an Land durch mehr Genehmigungen und Flächenausweisung brauche man einen echten PV-Boom mit einem Zubau von mindestens zehn Gigawatt pro Jahr. „Gelingen kann das mit einem konsistenten Instrumentenmix aus finanziellen Anreizen für Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger, mehr Flexibilität bei der Wahl der Nutzung des erzeugten PV-Stroms und eine deutliche Entbürokratisierung rund um den Bau und die Nutzung von PV-Anlagen“, so Andreae. Zudem müssten Bund und Länder mehr Flächen für Photovoltaik-Anlagen bereitstellen, zum Beispiel durch eine PV-Pflicht für öffentliche Neubauten oder innovative Konzepte wie Agri-PV oder schwimmende Solar-Anlagen. Professor Frithjof Staiß, geschäftsführender Vorstand des ZSW, ergänzte: „Der Beschluss des neuen Klimaschutzgesetzes ist von großer Bedeutung, aber auch von großer Tragweite. Die Weichen müssen jetzt zeitnah gestellt werden. Dies ist umso dringlicher, weil 2030 aus Sicht von Planungsprozessen und Investitionsentscheidungen schon morgen und 2045 praktisch übermorgen ist.“ Für die erneuerbaren Energien erscheinen die Beschlüsse viel zu vage, so Staiß. „Unbeantwortet bleibt die Frage, durch welche Maßnahmen sichergestellt werden soll, wie der Photovoltaik-Zubau gegenüber 2020 verdoppelt und der Zubau bei der Windenergie an Land sogar verdreifacht werden soll.“

Die Erzeugungszahlen im Überblick

Nach Berechnungen von BDEW und ZSW lag die Bruttostromerzeugung in Deutschland im ersten Halbjahr 2021 bei 292 Milliarden Kilowattstunden – ein Anstieg von fast fünf Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum (279 Milliarden Kilowattstunden). Dem stand ein Stromverbrauch von rund 285 Milliarden Kilowattstunden gegenüber (1. Halbjahr 2020: 271 Milliarden Kilowattstunden). Insgesamt wurden rund 122 Milliarden Kilowattstunden Strom aus Sonne, Wind und anderen regenerativen Quellen erzeugt (1. Halbjahr 2020: 137 Milliarden Kilowattstunden). Davon stammten gut 48 Milliarden Kilowattstunden aus Wind an Land, 28 Milliarden Kilowattstunden aus Photovoltaik, gut 22 Milliarden Kilowattstunden aus Biomasse, fast zwölf Milliarden Kilowattstunden aus Wind auf See und neun Milliarden Kilowattstunden aus Wasserkraft. Aus konventionellen Energieträgern wurden 170 Milliarden Kilowattstunden erzeugt (Vorjahreszeitraum: 142 Milliarden Kilowattstunden).

 

 

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